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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Das Grundeinkommen über die Mehrwertsteuer finanzieren? Kritische Notiz zur "Latte-Macchiato-These" von Daniel Häni und Enno Schmidt Daniel Häni, Unternehmer aus Basel, und Enno Schmidt, Künstler aus Frankfurt, setzen sich für eine bessere Welt ein. Sie haben die Initiative Grundeinkommen gegründet und propagieren ein bedingungsloses Grundeinkommen, damit die Menschen ihr Leben freier gestalten und in der Arbeitswelt der Sinn mehr Bedeutung erhält als der Gewinn. Das tönt sympathisch. Dieses Grundeinkommen wollen sie durch eine Konsumsteuer, die Mehrwertsteuer, finanzieren. Überhaupt sollten alle anderen Steuern sowie sämtliche Lohnabgaben zu Gunsten einer höheren Mehrwertsteuer abgeschafft werden. Das freut vermutlich diejenigen, die - wie economiesuisse , der Verband der schweizerischen Finanz- und Industriekonzerne - die direkten Steuern senken wollen, vor allem die Steuerbelastung des Kapitals. Es ist aber ärgerlich für diejenigen, die - wie attac und andere soziale Bewegungen - eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu Gunsten der Mehrheit der Bevölkerung, insbesondere der benachteiligten sozialen Gruppen einfordern. Die folgende kritische Besprechung der Thesen von Daniel Häni und Enno Schmidt bezieht sich auf ihren Text mit dem Titel "In den reifen Apfel beissen", erschienen in der Zeitschrift Anthroposophie im Dialog/INFO3 , Ausgabe 04/2007 (S. 11-21).* I. Offensichtlich geht es Daniel Häni und Enno Schmidt mindestens so sehr um die Notwendigkeit der Mehrwertsteuer wie um den Sinn eines Grundeinkommens. Verweilen wir daher zunächst bei diesem Problem. Die Einkommenssteuer ist dem Unternehmer und dem Künstler so sehr ein Dorn im Auge, dass sie ganz abgeschafft werden soll. Sie habe zu Missverständnissen geführt und sei der Grund, warum die Menschen das Einkommen als Ziel der Arbeit sähen, ja Arbeit und Einkommen gleichsetzten und nur das als Arbeit betrachteten, was ein Einkommen generiert. Demnach sei die Einkommenssteuer verantwortlich für die Meinung, "dass also nur, wer sich zur Ware macht, auch etwas leistet im Beitrag zur Gesellschaft" (S. 14). Diesen Zusammenhang vermag ich nicht nachzuvollziehen; es fehlt mir wohl an Unternehmer- und Künstlergeist dafür. Ist denn die Reduktion des gesellschaftlichen Werts der Menschen auf ihre Funktion als Arbeitskraft nicht dem Sachverhalt geschuldet, dass wir in kapitalistischen Verhältnissen leben? Wie lässt sich diese tatsächlich menschenverachtende Tendenz denn der armen Einkommensteuer in die Schuhe schieben? Daniel Häni und Enno Schmidt räumen ein, die Einkommenssteuer sei früher gerecht gewesen: "Wer viel verdient, kann auch mehr an die Gemeinschaft abgeben." (S. 12) Ein schöner Satz. Aber gilt er heute nicht mehr? Scheinbar nicht, weil sich seither "die Verhältnisse änderten" (S. 12), wie es im Text heisst. Der Unternehmer und der Künstler meinen den Übergang von einer Gesellschaft, in der sich die Menschen selbst versorgen, zu einer Gesellschaft, in der sie sich fremd versorgen, über den Markt. Ach so. Aber abgesehen davon, dass dieser Übergang in Ländern wie der Schweiz oder Deutschland schon lange auf breiter Basis eingesetzt hat (teilweise vor der Einführung der Einkommenssteuern), ist damit nicht erklärt, warum die Einkommenssteuer deswegen nicht mehr gerecht wäre, sondern nur noch Missverständnisse erzeuge. Denn es gibt ja immer noch Menschen, die (viel) mehr verdienen als andere, und diese Unterschiede sind insgesamt sogar deutlich grösser geworden. Da taucht noch ein Aspekt auf, in dem vielleicht die Lösung liegt: "Arbeit für Einkommen, menschliche Arbeit für materiellen wirtschaftlichen Mehrwert, nimmt zahlenmässig ab." (S. 14) Das wusste ich gar nicht! Alle Statistiken, die mir bekannt sind, zeigen, dass im historischen Vergleich noch nie so viele Menschen Lohnarbeit verrichtet haben wie heute, in Westeuropa, Nordamerika oder Japan, um nicht vom Rest der Welt zu reden. Daniel Häni und Enno Schmidt meinen aber, es existiere "immer mehr unbezahlbare Arbeit, Arbeit, die sich kaum am Verkauf ihrer Ergebnisse messen lässt" (S. 14). Was meinen sie damit? Arbeit im sozialen oder kulturellen Bereich? Pflegedienste und dergleichen? Solche Tätigkeiten sind nicht unbezahlbar, obwohl Regierungen und Unternehmerkreise das glauben machen wollen (da sie möglichst wenig zu deren Finanzierung beitragen beziehungsweise in diesen Bereichen Budgets kürzen wollen). Natürlich lässt sich eigentlich keine Arbeit nur am Verkauf ihrer Ergebnisse messen; dennoch verwandelt der Kapitalismus alle erdenklichen Tätigkeiten in Lohnarbeit. Es geht dem Kapital eben nicht um die konkrete Arbeit, sondern nur um seine eigene Vermehrung. Diese Reduktion aller Tätigkeiten auf Wert für das Kapital zu kritisieren ist allerdings nicht dasselbe wie zu behaupten, es handle sich um unbezahlbare Arbeit. Vielleicht stehen Daniel Häni und Enno Schmidt aber auch nur deswegen so sehr auf Kriegsfuss mit der Einkommenssteuer, weil diese falsche Fragen stellt. Sie zitieren dazu Benediktus Hardorp, den Steuerexperten des Unternehmers Götz Werner von der Drogeriemarkt-Kette (dm) in Deutschland, der sich ebenfalls für das Grundeinkommen und die Mehrwertsteuer einsetzt: "Die Einkommenssteuer fragt: Von wo her hast du dein Geld?" (S. 13) Eine Frage, die wohl kein Unternehmer gerne beantwortet, und die eines Künstlers unwürdig ist. Viel besser ist ohne Zweifel die folgende Frage, welche laut Hardorp die Konsum- oder Ausgabensteuer stellt: "Was tust du?" (S. 13) Alles klar? II. Bisher wurde das theoretische Niveau der Überlegungen, auf denen die Thesen des Unternehmers und des Künstlers beruhen, unterschätzt. Es geht ihnen um nichts weniger als eine allgemeine Theorie von Arbeit, Einkommen und Steuern. Diese Theorie führt zu dem Ergebnis, dass es nur eine Stelle im Wirtschaftskreislauf gibt, an der Steuern sinnvoll erhoben werden können: Diese Stelle ist, wie wir bereits vermuteten, der Zeitpunkt, zu dem Produkte für den Endverbrauch gekauft werden, das heisst der Kauf für den Verbrauch. In den Augen von Daniel Häni und Enno Schmidt wird nur zu dem Zeitpunkt der "Mehrwert realisiert"; deshalb kann er nur da besteuert werden. Eine Tautologie, die wir als solche gelten lassen. Wir würden uns sonst in einen geradezu religiösen Streit darüber begeben, ob Steuern nicht auch an anderen Stellen des Wirtschaftskreislaufs erhoben werden können (wie es ja seit Jahrhunderten durchaus gemacht wird: so gibt es Einkommenssteuern, Unternehmenssteuern, Vermögenssteuern. - eben all die Steuern, die abgeschafft werden sollen, wenn es nach dem Willen von D. Häni und E. Schmidt geht). Denn die anthroposophische Lehre von Rudolf Steiner, auf die sich der Unternehmer und der Künstler gerne beziehen, hat einen zentralen Aspekt mit der neo-klassischen Wirtschaftstheorie gemeinsam, die an den Wirtschaftsfakultäten sämtlicher Universitäten der Welt gelehrt wird: Sie glaubt an eine "natürliche Wirtschaftsordnung", gegen die nicht verstossen werden darf, soll nicht Unheil über die Menschen hereinbrechen. Zu den Naturgesetzen des Marktes gehört für Daniel Häni und Enno Schmidt der Satz: "Wo der Preis steht, kann auch die Steuer stehen." (S. 14) Ein gewisser Karl Marx hat sich einmal über die Ökonomen lustig gemacht, welche die Wirtschaft als etwas Naturgegebenes betrachten, anstatt sie zum Gegenstand einer Gestaltung durch die Menschen zum Zwecke der Befriedigung ihrer Bedürfnisse und Interessen zu machen: "Die Ökonomen verfahren auf eine sonderbare Art. Es gibt für sie nur zwei Arten von Institutionen, künstliche und natürliche. Die Institutionen des Feudalismus sind künstliche Institutionen, die der Bourgeoisie natürliche. Sie gleichen darin den Theologen, die auch zwei Arten von Religionen unterscheiden. Jede Religion, die nicht die ihre ist, ist eine Erfindung der Menschen, während ihre eigene Religion eine Offenbarung Gottes ist." ( Das Elend der Philosophie , MEW 4, S. 139) Bei Daniel Häni und Enno Schmidt ist die Einkommenssteuer eine schlechte Erfindung von Menschenhand, die eine künstliche Religion der Arbeit erzeugt hat; die Mehrwertsteuer hingegen ist eine Offenbarung Gottes, welche die Menschen wieder mit ihrer Natur versöhnen wird. Aber akzeptieren wir einmal den heiligen Satz, die Steuer könne nur nach der "Realisierung des Mehrwerts" erhoben werden. Es bleibt immer noch die Frage, weshalb sie als Konsumsteuer auf den Preis der Produkte geschlagen werden muss und sich nicht auf das durch den Verkauf der Produkte generierte Einkommen beziehen darf. Wahrscheinlich liegt der Grund dafür darin, dass es dann wieder eine Einkommenssteuer wäre, die, wie oben erwähnt, eben die falsche Frage stellt ("Von wo her hast du dein Geld?"). Auch wieder eine Tautologie. Irgendwie entsteht spätestens jetzt der Eindruck, das ganze Argument drehe sich im Kreis. Wenn beim Warenkauf der "Mehrwert realisiert" wird, wie der Unternehmer und der Künstler sagen, ergibt sich dabei zugleich Folgendes: Der/die Konsument/in hat ein Produkt erstanden und macht damit, was er/sie will. Das Unternehmen, welches das Produkt verkaufte, hat ein Einkommen erzielt, vom dem ein Teil in den Unternehmensgewinn geht. Dieses Einkommen darf aber nicht besteuert werden, weil sonst weitere Missverständnisse entstünden und nur falsche Fragen gestellt würden. Hinter diesem Scheinargument, das sich im Kreis dreht, versteckt sich das wahre Ziel: Alle direkten Steuern, die hohe Einkommen, Kapital und Vermögen überproportional belasten (selbst wenn sie bis zu einem gewissen Grad auf Konsumentinnen und Konsumenten "abgewälzt" werden können), sollen abgeschafft werden. III. Der Begriff des Mehrwerts war einmal als kritische Spitze gegen den Kapitalismus gedacht und wurde anders verstanden, als Daniel Häni und Enno Schmidt ihn heute verwenden. Karl Marx meinte damit den Teil des gesellschaftlich produzierten Reichtums, den die arbeitenden Menschen über die für ihren eigenen Lebensunterhalt verwendeten Güter und Dienstleistungen hinaus erzeugen. In einer kapitalistischen Gesellschaft wird die Masse des Mehrwerts im Kern durch die Differenz zwischen dem insgesamt produzierten Reichtum und dem Erwerbseinkommen der lohnabhängigen Beschäftigten bestimmt. Diesen Mehrwert eignen sich die Eigentümer von Kapital und Vermögen an. Der Begriff des Mehrwerts ist demnach mit Abhängigkeit (Lohnabhängigkeit), Herrschaft und Ausbeutung (im Sinne der Nutzung menschlichen Arbeitsvermögens für die Kapitalakkumulation) verbunden. Davon ist in den Thesen des Unternehmers und des Künstlers keine Spur zu finden. Nicht einmal die übliche Unterscheidung zwischen Kapital- und Arbeitseinkommen, die zum ABC jeder volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zählt, ist ihnen eine Erwähnung wert. Daniel Häni und Enno Schmidt setzen den "Mehrwert" und den gesellschaftlich produzierten Reichtum gleich. Warum sprechen sie denn von Mehrwert, und nicht einfach von Wert oder Reichtum? Ganz einfach: Weil sie für das eintreten, was heute gemeinhin unter dem Begriff Mehrwertsteuer verstanden wird (da sind sie sich mit Steuerbeamten und neoklassischen Ökonomen einig). Sie haben Recht, wenn sie schreiben: "Mehrwert entsteht durch Arbeit." (S. 11) Zu präzisieren wäre allerdings: Mehrwert entsteht durch fremd bestimmte Lohnarbeit für Unternehmen, zum Zwecke der Kapitalakkumulation; er ist Ergebnis einer "Mehrarbeit" (Marx), die über die Arbeit hinaus geht, welche die Menschen für ihren Lebensunterhalt verrichten würden, wären sie nicht dazu gezwungen, darüber hinaus eine erweiterte Reproduktion von Kapital zu ermöglichen. Vielleicht sollte Daniel Häni, der ja selbst Unternehmer ist (Mitglied der Geschäftleitung des "Unternehmen Mitte", eines Kaffeehauses in Basel), einmal darüber nachdenken, wer eigentlich den Mehrwert erzeugt, von dem er lebt. Aber das sind wohl wieder falsche Fragen, die dem Unternehmer und dem Künstler nicht gefallen. In der Welt von Daniel Häni und Enno Schmidt gibt es keine sozialen Klassen, keine Herrschaft und keine Interessengegensätze; alles kann harmonisch geregelt werden, sofern die - meistens staatlich verursachten - Verstösse gegen die natürliche Wirtschaftsordnung eliminiert werden. Es braucht nur die richtige Idee, und natürlich haben sie diese Idee nun gefunden. Ärgerlich sind allerdings die vielen Einwände derer, die noch nicht zur grossen Erkenntnis gelangt sind. Der Mehrwert ist im Text des Unternehmers und des Künstler aus einem polemischen Begriff einer langen kapitalismuskritischen Tradition zum Inbegriff der ästhetischen Stilisierung einer "perfekten Marktwirtschaft" geworden: Geradezu schwärmerisch betonen sie, unvermischt (das heisst: ohne jede andere Steuer) sei die Mehrwertsteuer "von fast unübertrefflicher theoretischer Schönheit", wie die Ökonomen scheinbar sagen (S. 16). Was die Konsumentinnen und Konsumenten (bei denen es sich meistens auch um Arbeiterinnen und Arbeiter handelt), von dieser theoretischen Schönheit denken, wird uns nicht gesagt. Folgten wir dem kritischen Mehrwertbegriff von Marx, dann würde eine konsequente Mehrwertsteuer in erster Linie die grossen Unternehmens-, Vermögens- und Kapitalgewinne besteuern, das heisst den Teil des Mehrwerts, der gesellschaftlich zweifellos am wenigsten sinnvoll verwendet wird. Für eine solche Mehrwertsteuer liessen sich vielleicht sogar attac und weitere soziale Bewegungen begeistern. IV. Aber kehren wir zur Grossen Theorie zurück. Und erlauben wir uns, über die Auswirkungen der Vorschläge von Daniel Häni und Enno Schmidt auf soziale Gruppen und Klassen nachzudenken, auch wenn es in ihrer Theorie keine Gruppen oder Klassen gibt. Kommen wir zur "Latte-Macchiato-These", die kürzlich auch in der Zeitschrift Facts (Nr. 9, 2007, S. 17-18) präsentiert wurde. Ein Latte Macchiato kostet im Unternehmen Mitte, im Kaffeehaus von Daniel Häni in Basel, 4.80 Franken. Heute wird auf den Verkauf des Getränks eine Mehrwertsteuer von 7.6% erhoben. Unserem Unternehmer zufolge könnte dieser Steuersatz auf 100% erhoben werden, um ein bedingungsloses Grundeinkommen in der Höhe von 2'000 Franken zu finanzieren, und der Preis des Latte Macchiato würde sich doch nicht ändern. Wie ist das möglich? Daniel Häni bestimmt es im Unternehmen Mitte einfach so, denken wir zuerst. Das ist grosszügig von ihm. Aber so ist es nicht gemeint. Der visionäre Unternehmer behauptet, dass die Preise aller möglichen Produkte in sämtlichen Wirtschaftsbereichen durch die drastische Erhöhung der Mehrwertsteuer nicht verändert würden. Ein Wunder. Ein richtiges Wunder! Worauf beruht dieses Wunder? Daniel Häni führt folgende Überlegung ins Feld. Weil gleichzeitig alle anderen Steuern sowie die Lohnabgaben für AHV/IV, Arbeitslosenversicherung, usw. gestrichen würden, so die These, sinken die Lohn-, Waren- und Infrastrukturkosten in einem Ausmass, das die Erhöhung der Mehrwertsteuer gerade ausgleicht, und so können die Preise gleich bleiben. Die Mehrwertsteuer macht nun 50% des Latte-Macchiato-Preises aus, der Anteil der Lohnkosten ist von ca. 50% auf 20% gesunken. Das ist sehr gut, denkt sich unser Unternehmer, denn die Lohnkosten sind in der Schweiz zu hoch; diese Behauptung wird durch Regierungs- und Unternehmensvertreter im Einklang mit den Massenmedien jedenfalls Tag für Tag verkündet, sie ist uns sattsam bekannt. "Eine bestechende Kalkulation", lobt die Zeitschrift Facts (S. 17). Die genauen Zahlen seiner Berechnung bleibt uns Daniel Häni allerdings schuldig: Wir sollen an das wundersame Ergebnis glauben. Genauer gesagt behauptet der visionäre Unternehmer einfach, dass die Preise sich nicht verändern würden. Viel wahrscheinlicher erscheint mir, dass der Preis für einen Latte Macchiato - vielleicht mit Ausnahme des Unternehmen Mitte in Basel - von 4.80 auf etwa 7 Franken steigen würde. Und die Preise der anderen Konsumgüter in vergleichbarem Ausmass. Aber lassen wir das. Daniel Häni und Enno Schmidt argumentieren also folgendermassen: Weil in den Löhnen und in den Warenkosten die verschiedenen Steuern "enthalten" sind (die Löhne müssen reichen, um Steuern zu zahlen; die Warenpreise müssen es den Herstellern erlauben, Steuern zu zahlen; usw.), werden Lohn- und Warenkosten automatisch sinken, wenn alle anderen Steuern sowie die Lohnabgaben gesenkt werden. Eine kühne These. Was ist, wenn sich die Beschäftigten dagegen wehren, dass ihre Löhne gesenkt werden? Was ist, wenn die Unternehmen die eingesparten Steuern für Dividenden, private Gewinne oder Investitionen verwenden, statt die Preise ihrer Waren zu senken? Wer kann letztlich garantieren, dass die Preise bei einer drastischen Erhöhung der Mehrwertsteuer nicht ebenso drastisch ansteigen? Möglich wäre das wohl nur durch staatliche Preiskontrollen. Doch das wäre dem Unternehmer aus Basel und dem Künstler aus Frankfurt sicherlich ein Graus, denn sie setzen auf freie Märkte ohne "Wettbewerbsverzerrung" (S.16): "Der Wettbewerb würde wie heute dafür sorgen, dass alle ihre Kostenersparnis in die Nettopreise weitergeben." (S. 19) Wer an die Naturgesetze des Markts glaubt, wird selig. V. Warum ist es so wichtig für Daniel Häni und Enno Schmidt, die zweifelhafte Behauptung aufzustellen, die Preise würden bei einem drastischen Anstieg der Mehrwertsteuer unverändert bleiben? Sie wollen dem Argument den Wind aus den Segeln nehmen, ihre Vorschläge hätten unsoziale Auswirkungen, da bekanntlich die mittleren und tieferen Einkommensgruppen durch einen Anstieg der Preise von Konsumgütern deutlich stärker belastet werden als Spitzenverdiener und Vermögende. Aber der Einwand lässt sich nicht einmal dann wirklich entkräften, wenn davon ausgegangen wird, dass sich die Konsumentenpreise - durch welche wundersamen Faktoren auch immer dies geschehen mag - nicht verändern würden. Schauen wir etwas genauer hin. Was die Erwerbseinkommen angeht, beruhen die Überlegungen des Unternehmers und des Künstlers auf dem Grundsatz, dass diese sich um den Betrag des Grundeinkommens reduzieren sollen. "Die Frage ist eben nicht, ob wir mehr Geld wollen, sondern ob wir ein bedingungsloses Grundeinkommen wollen mit seinen gesellschaftlichen Auswirkungen und seinen Möglichkeiten für den einzelnen." (S.18) Aha. Bei Teilzeit- und Niedriglohnarbeit soll das Grundeinkommen nicht voll angerechnet werden, so dass die Leute, welche die "Drecksarbeiten" machen, "tatsächlich mehr Geld in der Tasche haben als heute" (S. 18). Bei den mittleren und höheren Einkommen würde das Gesamteinkommen etwa unverändert bleiben, nur bestünde ein Teil davon aus dem Grundeinkommen. Zu den wirklich hohen Einkommen, den Unternehmensgewinnen und Kapitaleinkünften wird interessanterweise nichts gesagt. Aber es ist klar, dass diese auf Grund der Streichung aller Einkommens-, Unternehmens- und Vermögenssteuern massiv entlastet würden. Es findet demnach eine Umverteilung nach oben statt, selbst wenn die kühne Latte-Macchiato-These der Realität standhält. Nun wollen Daniel Häni und Enno Schmidt natürlich das gesamte Volumen der Staatseinnahmen nicht vergrössern, im Gegenteil: Als überzeugte Liberale versprechen sie sich von ihrem grossen Wurf sogar die Möglichkeit, den Sozialstaat "schlanker" zu gestalten, wie es so schön heisst. Die geplante Mehrwertsteuererhöhung soll denn auch nicht mehr zusätzliche Einnahmen generieren, als durch den Wegfall der anderen Steuern verloren gehen: Beides müsste sich in diesem Modell etwa die Waage halten. Anders gesagt: Die für ein zukünftiges Grundeinkommen aufgewendeten Mittel können die heutigen Sozialausgaben nur wesentlich übersteigen, wenn der Staat in anderen Bereichen Budgets kürzt. Die wichtigsten anderen Ausgabenbereiche von Bund, Kantonen und Gemeinden sind: Bildung (ca. 20%), Gesundheit (ca. 14%) und Verkehr (ca. 10%); die Sozialausgaben umfassen ebenfalls etwa 20% der gesamten Staatsausgaben. Der Unternehmer und der Künstler behaupten, der Staat könnte viel Geld sparen, indem er auf die aufwändige Verwaltung und Kontrolle der Menschen verzichtet, die heute Sozialleistungen beziehen. Sicherlich gibt es viel zu viele Tätigkeiten im öffentlichen Sektor, die der Schikanierung, Kontrolle und Stigmatisierung von Arbeitslosen, Armen oder "Behinderten" dienen. Aber es gibt auch viele Bereiche, in denen Personalmangel herrscht, oder die deutlich ausgebaut werden sollten, damit die heutigen gesellschaftlichen Bedürfnisse befriedigt werden können. Überdies würde auch ein Grundeinkommen nicht ohne Verwaltungsaufwand auskommen, denn dessen Umsetzung wäre nicht ganz so einfach, wie es auf dem Reissbrett unserer zwei grossen Denker aussieht. Wir stossen auf folgendes Problem: Wenn für das Grundeinkommen etwa gleich viel Geld bereit steht, wie heute für die staatlichen Sozialausgaben, kann dabei - finanziell - niemand gewinnen, ohne dass von den heutigen BezügerInnen von Sozialleistungen jemand etwas verliert. Das Modell von Daniel Häni und Enno Schmidt würde wohl eine gewisse Umverteilung von bescheidenen und mittleren zu den tiefsten Einkommensgruppen bewirken, und vor allem die Spitzenverdiener, die Vermögenden und die Unternehmen deutlich begünstigen. Sollte sich - wie es zu erwarten ist - die Latte-Macchiato-These der unveränderten Preise als falsch erweisen, wären die regressiven Umverteilungswirkungen darüber hinaus massiv. VI. Wenn das Grundeinkommen wirklich ein grosser Wurf sein soll, mit dem ein wichtiger Schritt zur Befreiung von der menschenunwürdigen Situation der Lohnabhängigkeit gemacht werden kann, muss dessen Betrag höher sein, als von Daniel Häni und Enno Schmidt vorgesehen, und es muss anders finanziert werden. In einer emanzipatorischen Perspektive ist das Grundeinkommen kein Selbstzweck; es macht nur dann Sinn, wenn es als Instrument einer Umverteilung von Reichtum "von oben nach unten" sowie einer veränderten gesellschaftlichen Verteilung der Arbeit - sowohl der Erwerbsarbeit als auch der vielfältigen Tätigkeiten in der "privaten Sphäre" - dient. Die bei der Latte-Macchiato-These vorgeschlagenen 2'000 Franken Grundeinkommen sind zu wenig. Damit lässt sich in der Schweiz nicht "in Würde" leben. Sogar die Sozialhilfebehörden bestimmen die Armutsgrenze in der Schweiz bei ca. 2'500 Franken. Das Grundeinkommen müsste mindestens an der Höhe ansetzen, auf der die aktuelle gewerkschaftliche Diskussion über Mindestlöhne geführt wird: bei 3'000 Franken netto. Sonst droht es unweigerlich Druck in Richtung Lohndumping zu verschärfen. Daniel Häni und Enno Schmidt wollen ja die Löhne senken und sagen dies ganz offen. Eine sehr grosse Mehrheit der Bevölkerung will das nicht, und zwar mit gutem Recht. Das Grundeinkommen müsste dazu führen, dass die Einkommen der meisten Menschen steigen, nicht zum Gegenteil oder zu geringfügigen Verschiebungen zwischen Gruppen mit bescheidenen oder mittleren Einkommen. Bei einer nur teilweisen und gestaffelten Anrechnung der Löhne würden erwerbstätige Personen weiterhin mehr verdienen als Menschen ohne Erwerbsarbeit, doch würde diese Differenz kleiner werden. Finanzieren lässt sich ein solches Grundeinkommen nur, wenn das Geld dort geholt wird, wo es in grossen Mengen vorhanden ist: Bei den hohen Gehältern, den grossen Unternehmensgewinnen, den Kapitaleinkünften, usw. Um die erwünschte Umverteilung von Reichtum und Arbeit zu erzielen, wären neben der Einführung eines solchen Grundeinkommens weitere Massnahmen erforderlich. Wichtig erschiene mir vor allem zweierlei. Erstens eine deutliche Arbeitszeitverkürzung, ohne entsprechende Kürzung der Löhne und ohne Steigerung des Arbeitsdrucks, um der gesellschaftlichen Schizophrenie ein Ende zu bereiten, dass die einen unter zu viel Arbeit und die anderen unter fehlender Lohnarbeit leiden. Dadurch würden auch bessere Ausgangsbedingungen für eine Neuverteilung der Haus- und Familienarbeit geschaffen, die ja dank dem Grundeinkommen nur noch in kleinerem Ausmass mit dem Verzicht auf ein Einkommen verbunden wäre. Zweitens ein deutlicher Ausbau der öffentlichen und sozialen Infrastruktur, einschliesslich der Einrichtungen zur Betreuung und Pflege von Kindern, Kranken und Betagten, die heute in grossem Ausmass durch Frauen unbezahlt erbracht werden. Ein guter Service public, dessen Leistungen und Einrichtungen der Bevölkerung möglichst unentgeltlich zur Verfügung stehen, stellt auch eine Art Grundeinkommen dar (früher wurde dafür der Begriff des Soziallohns oder des sozialisierten Lohns verwendet): In dieser Form muss es nicht einmal ausbezahlt werden und lässt sich erst noch mit Formen gesellschaftlicher Aneignung verbinden, die Schritte in die Richtung einer substantiellen Vertiefung der Demokratie weisen könnten, die meistens spätestens am Eingang der Betriebe aufhört - im öffentlichen Sektor wie auch in der Privatwirtschaft. Peter Streckeisen, April/Mai 2007 *) Siehe dazu auch: In den reifen Apfel beißen. Warum eine ausschließliche Besteuerung erst beim Konsum sinnvoll und wirklichkeitsgemäß ist. |