Den nachfolgenden Redebeitrag hat Martin Rheinlaender von der Gruppe Blauer Montag im Rahmen der AG Prekarisierung der "Arbeitskonferenz für das Existenzgeld und eine radikale Arbeitszeitverkürzung" gehalten. Ziel dieser Intervention war es, mit einigen zugespitzten Thesen die Leerstellen in der Debatte um das Existenzgeld zu benennen und damit diese Forderung ein Stück weit zu entmystifizieren. Kernpunkt der Kritik ist, daß in der laufenden Debatte eine theoretische wie praktische Auseinandersetzung mit der real existierenden (Lohn-)Arbeit systematisch ausgeblendet wird.
Diese Konferenz steht unter dem Motto "Für radikale Arbeitszeitverkürzung und Existenzgeld". Zum Abschluß unserer Diskussion über das Thema Prekarisierung will ich deshalb einleitend einige kritische Anmerkungen und Fragen zum Zusammenhang unserer bisherigen Diskussion mit diesen Forderungen (oder Konzepten) formulieren.
Europaweit gehören beide Forderungen mittlerweile zum Standardrepertoire der Linken. Ich lasse hier mal bewußt offen, was dabei jeweils unter dieser Linken zu verstehen ist. Nicht in jedem Fall handelt es sich um reale soziale Bewegungen oder Initiativen, die aus einer konkreten Auseinandersetzung heraus diese Forderungen stellen. Wenn ich von Standardrepertoire spreche, dann meine ich damit ausdrücklich nicht Essentials. Denn beide Forderungen werden durchaus konkurrierend und kontrovers diskutiert. Gestern abend, bei der Podiumsdiskussion, haben Angela Klein (für das Bündnis Euro-Märsche) und Laurent Guilloteau (für die Einkommenskommission von AC! in Frankreich) diese Kontroverse bereits andeutungsweise dargestellt (vgl. zu dieser Debatte auch ak 420, 19.11.1998).
Ich will hier ein paar Einwände gegen solche Forderungen formulieren, und ich verhehle nicht, daß mir schon die Art und Weise, wie sie aufgestellt und propagiert werden, nicht behagt. Sie kommen mir vor wie Zauberformeln, die ein wunderbares Dach für vielfältige Interessen bilden, ohne daß diese halbwegs klar würden. Im übrigen ist das Motto dieser Konferenz in der Doppelung (Arbeitszeitverkürzung und Existenzgeld) auch so eine Zauberei, weil beide Orientierungen schlicht additiv zusammen gebracht werden. Das liest sich dann auf den ersten Blick ganz einleuchtend. Sobald die Diskussion aber beginnt, stellen sich eine Menge offene Fragen, die auf wesentliche Leerstellen weisen. Um eine der wichtigsten Leerstellen gleich vorab zu nennen, sei mein stärkster Einwand als These formuliert: Beide Forderungen (oder Konzepte) umklammern lediglich das Thema "Arbeit als Ausbeutung", ohne daß es wirklich-praktisch in Angriff genommen würde, und zwar buchstäblich als Angriff auf diese Arbeit als Ausbeutung. Das will ich im folgenden, so knapp wie möglich, erläutern.
Heute morgen haben wir ein Referat über Geschichte und empirischen Bestand von Prekarisierung gehört. Da war von "Fordismus" und "fordistischem Normalarbeitsverhältnis" die Rede. Egal, ob man das Teil "Fordismus" oder anders nennt, in klassenpolitischer Hinsicht bildete sich nach dem zweiten Weltkrieg in vielen kapitalistischen Metropolen so etwas wie ein Sozialpakt heraus. Ein Regulierungsmodell, das unter anderem folgendes beinhaltete: Die Gewerkschaften wurden integriert in die kapitalistische Regulierung, und eines der Resultate war dabei, daß insbesondere sie für eine reibungslose Produktion zu sorgen hatten. Umgekehrt dienten die wohlfahrtsstaatlichen Systeme - ebenfalls unter maßgeblicher Einbeziehung der Gewerkschaften - dazu, die soziale Reproduktion der Arbeitskraft für die Produktion zu sichern. Nicht zu vergessen natürlich die gewerkschaftliche Einkommenspolitik, die ebenfalls die Absicherung der Ausbeutung flankierte.
Dieses Modell ist von mehreren Seiten angegriffen und unterlaufen worden. Wir haben darüber hier in der AG bereits diskutiert. Erwähnt werden sollte aber auch, daß es nicht zuletzt die anwachsende Widerständigkeit, teilweise sogar Renitenz und regelrechte Revolte in dieser Arbeit und gegen diese Arbeit war, die in den 60er Jahren das "fordistische" Modell von wohlfahrtsstaatlich befriedeter Ein- und Unterordnung im Produktionsprozeß erschüttert hat. Wir haben ferner darüber gesprochen, daß auch der Angriff auf das sogenannte Normalverhältnis teilweise von unten ergänzt wurde. Ich verweise hier nur auf die vielen Beispiele, wo insbesondere jüngere Menschen in den 80er Jahren die Flexibilisierung durchaus im eigenen Interesse definierten.
Zusammengenommen hat sich mit dem Rollback seit den 70er Jahren zweierlei ergeben. Zum einen ein enormer Druck auf das Masseneinkommen, als unmittelbarer Lohndruck und als Druck auf die Sozialleistungen (den 'Soziallohn') mitsamt einem erhöhten Arbeitszwang. Zum anderen können wir, was die Arbeit, also den Ausbeutungsprozeß selbst betrifft, von der Bildung jenes Menschentyps sprechen, den der US-amerikanische Soziologe und Sozialphilosoph Richard Sennett den "flexiblen Menschen" nennt. Ich füge hinzu, daß diese Bildung des flexiblen Menschen teils hochgradig repressiv, teils aber auch mit erheblicher Resonanz bei einzelnen sozialen Gruppen erfolgte.
Was die alte Bundesrepublik betrifft, so gibt es hier eine deutliche Parallelentwicklung von Flexibilisierung und Prekarisierung. Und man kann dazu auch ein Datum nennen, nicht nur symbolisch, sondern ganz realpolitisch. Es waren die Arbeitskämpfe 1984 für die 35-Stundenwoche, also der historische Kampf für den Einstieg in die allgemeine Arbeitszeitverkürzung. In meiner Sicht hat dieser Kampf unter der Hand zu einer historischen Niederlage der Betriebs- und Gewerkschaftslinken geführt. Diese hatte sich in diese Auseinandersetzungen mit allen zur Verfügung stehenden Kräften hineingeworfen,. Und am Ende kam dabei heraus, daß Arbeitszeitverkürzung (damals noch bei vollem Lohnausgleich) zum Synonym für eine extreme Flexibilisierung der Produktion wurde; Arbeitszeitverkürzung wurde gleichbedeutend mit einer immanenten Erosion der Tarifverträge, die in der Folge Prekarisierung in regulierten wie deregulierten Bereichen oft ununterscheidbar werden ließ.
Nach außen hatten die Gewerkschaften einen Erfolg zu verkaufen, nach innen aber war die alte Logik des Sozialpaktes durchgesetzt bzw. wiederhergestellt worden. Wer es heute in Betrieb und Gewerkschaft dabei beläßt, Arbeitszeitverkürzung zu fordern, ohne dabei auf einen Kampf gegen die Arbeitsbedingungen enormer Verdichtung, Intensivierung und Flexibilisierung der Produktion glaubwürdig orientieren zu können, wird üblen Schiffbruch erleiden, zumindest aber höhnisches Gelächter ernten. Bloße, mehr oder weniger radikale, Forderungen reichen dabei nicht aus. für eine solche glaubwürdige Orientierung wären konkrete Aktionsvorschläge gefragt.
Nun ist mit diesem Durchbruch an Flexibilisierung Mitte der 80er Jahre noch etwas anderes verbunden. Zum damaligen Zeitpunkt konnte man noch halbwegs klar unterscheiden zwischen Kern- und Randbelegschaften. Auch heute wurde dieser Unterschied in der Diskussion noch gemacht. Ich möchte das ein wenig relativieren. Gewiß, Mitte der 80er Jahre waren solche Einteilungen noch plausibel, so plausibel eben wie das Bild von der Zwei-Drittel-Gesellschaft. Aber spätestens seit Beginn der 90er Jahre, im Zusammenhang mit Umstrukturierungen von Unternehmen (Auslagerungen, Auftragsvergabe an Fremdfirmen etc.), aber auch Neuorganisationen innerhalb des Produktionsprozesses selbst, muß man auch von einem unmittelbaren Angriff auf die Kernbelegschaften sprechen.
Das festzuhalten ist wichtig, um die heutige Debatte über die sogenannte Re-Regulierung zu verstehen. Was nämlich früher als Randerscheinung durchging, ist heute zur neuen Norm geworden. Darin sind sich Sozial- und Gewerkschaftspolitik einig. Wer heute programmatische Debatten in den Gewerkschaften verfolgt, wird feststellen können, daß niemand mehr ernsthaft am historischen Normalarbeitsverhältnis festhält, sondern sich nur noch Gedanken macht über eine "realpolitische" Re-Regulierung, die das mittlerweile erreichte niedrige Niveau von Sozialleistungen sowie Lebens- und Reproduktionsbedingungen und die entsprechenden Ausbeutungsbedingungen mehr oder weniger als neue Norm akzeptiert.
Die aktuelle Debatte über eine Re-Regulierung kennzeichnen u.a. folgende Aspekte: Erstens haben die Auseinandersetzungen um das "Sparpaket" 1996 (ich nenne hier nur: Entgeldfortzahlung im Krankheitsfall) gezeigt, daß die Gewerkschaften den "Sozialabbau" nicht mehr rein tarifpolitisch abfangen bzw. kompensieren können. Hier erfolgt dann der Ruf nach dem Gesetzgeber und nach einem "Bündnis für Arbeit" bzw. einem "Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit." Zweitens wird "Beschäftigung" an sich durch erhöhte Ausbeutung erkauft. Arbeitszeitverkürzung findet heute real nur noch als kollektive oder individuelle Teilzeit statt. Drittens kommt als neues Element das geforderte Mindesteinkommen hinzu. In der sozialpolitischen Modernisierung der Ausbeutung fungiert dabei die Grundsicherung vor allem als Schmiermittel für den flexiblen Menschen.
Die momentane Phase der Re-Regulierungsdiskussion ist also letzten Endes von nichts anderem als der Logik des historischen Sozialpaktes geprägt. Unter geänderten gesellschaftlichen Verhältnissen geht es auch jetzt um einen Pakt, bei dem eine soziale Mindestsicherung die Ein- und Unterordnung in den Ausbeutungsprozeß sichert. Nehmen wir einmal alle Aspekte, in denen sich heute sozialer Protest äußert, dann können wir feststellen, daß sie alle diese Frage der Integration in bzw. den Widerstand gegen die Ausbeutung offen lassen. Das gilt neben dem Mindesteinkommen bzw. der Grundsicherung auch für die Arbeitszeitverkürzung. Wie sehr sie mittlerweile Synonym für den flexiblen Menschen geworden ist, habe ich bereits erläutert. Kommt noch die Einkommenspolitik hinzu; selbst bei höheren Einkommensstandards wird nur ein höherer Preis für die alltägliche und lebenslange Schinderei ausgehandelt. Im übrigen wird heute eher für dasselbe oder gar unter dem Strich weniger Geld länger und härter gearbeitet.
Ich finde es sympathisch, wenn zum Beispiel die Einkommenskommission von AC! den Kampf für ein Mindesteinkommen als Auftakt für eine gesellschaftliche Lohnrunde begreift und begrüßt (siehe die Erklärung von AC! in dieser ak-Ausgabe). In diesem Fall teile ich aber auch die Kritik anderer Strömungen innerhalb von AC!, die darin eine Vernachlässigung eines Kampfes gegen die Arbeitsbedingungen selbst sieht.
Nun ist auf dieser Konferenz, auch gestern von dem Felä-Genossen auf dem Podium und RednerInnen aus dem Publikum, immer wieder gesagt worden: "Aber wir wollen ja nicht diese Grundsicherung, wie sie in der sozialpolitischen Re-Regulierungsdiskussion zur Debatte steht! Existenzgeld ist ja etwas ganz anderes!" Natürlich kenne und begreife ich den Unterschied zwischen einem rot-grünen Grundsicherungsmodell und dem Existenzgeld-Konzept. Aber man kann auch nicht an der realen sozialpolitischen Auseinandersetzung, an den nun einmal wirklich vorherrschenden (Klassen-) Kräfteverhältnissen vorbeigehen. Das lehren doch gerade die Erfahrungen aus den Streiks für Arbeitszeitverkürzung, das lehrt doch die totale Umdrehung der alten Forderung der Betriebs- und Gewerkschaftslinken zur Bildung des flexiblen Menschen.
Als jemand, der damals an den Bewegungen für die 35-Stundenwoche beteiligt war, also als Aktiver aus der Betriebslinken, frage ich da insbesondere meine GenossInnen aus der alten Bewegung der Jobber- und Erwerbsloseninitiativen: Ist vielleicht ihre alte Existenzgeld-Losung nicht schon längst genauso von den Herrschenden zum reaktionären Grundsicherungsmodell umgedreht worden wie unsere damalige Forderung nach der 35-Stunden-Woche? Wenn diese wirklichen Erfahrungen nicht eingeholt und reflektiert werden, bleibt die ganze Debatte hier auf der Konferenz eine Luftnummer. Zumindest werden Losungen als Forderungen oder Konzepte wie Arbeitszeitverkürzung und Existenzgeld ansonsten reine Zauberlosungen bleiben.
Ich möchte abschließend Fragen formulieren, die wir über diese Konferenz hinaus diskutieren sollten. Haben wir in der Gegenwart und in der Zukunft nicht alle Hände voll damit zu tun, vorhandene Grundsicherungsmodelle zu bekämpfen? Geht es nicht vor allem überall und auf allen Ebenen darum, den massiv verstärkten Arbeitszwang zurückzukämpfen? Stehen dabei nicht ganz konkrete Aktionen von Sozialhilfe-Initiativen und anderen Gruppen an, von denen gestern abend auf dem Podium die Rede war? Und ergibt sich nicht aus unserer Diskussion, hier in der AG Prekarisierung, daß unsere vordringliche Aufgabe darin besteht, sich als Arbeitende zu organisieren innerhalb und gegen diese Arbeit?
Ich finde es bedrückend, daß hier auf der Konferenz gewiß mehr als Zweidrittel der TeilnehmerInnen sich alltäglich mit prekären Arbeits- und Lebensbedingungen herumschlagen müssen; daß sie doch selbst Beteiligte in diesen Ausbeutungsverhältnissen sind; daß aber für mich nicht ersichtlich irgendwo intensiv darüber gesprochen wurde, wie denn diese Arbeitsverhältnisse selbst bekämpft werden könnten. Kurz, ich fände es schön, wenn mein Eindruck trügen würde. Aber mir kommt es so vor, als ob hier ganz konkret in diesen politischen Zusammenhängen nichts anders zur Debatte steht als ein anderer Mechanismus der alltäglichen Reproduktion der Arbeitskraft, ohne das Zentrum dieses Mechanismus, also die Ausbeutung mitsamt allen ihren konkreten, alltäglichen Bedingungen und Zusammenhängen, anzugreifen.
Zum Schluß will ich aber noch etwas Versöhnliches hinzufügen. Ich bestreite nicht die "utopische Funktion" von Forderungen oder Konzepten eines Existenzgeldes. Darin wird das Bild menschenwürdiger Existenzbedingungen transportiert, und dieses soziale Ethos ist gerade für eine praktischen, Widerstandsperspektive elementar. Auch wenn ich selbst da noch viel weitergehen würde, als nur im Bild einer gesellschaftlichen Lohnform zu bleiben, erkenne ich dieses ethische Element durchaus an und nehme es ernst. Aber wenn das Existenzgeld als gesellschaftspolitisches Konzept oder als politische Forderung auf den Tisch gebracht wird und dabei die Frage der Ausbeutung selbst nur einkreist, wird hier allzu gutwillig das Tor sperrangelweit aufgemacht für den Durchmarsch real übermächtiger Grundsicherungs- als Arbeitszwangsmodelle. Blitzschnell können dann die Zauberformeln entzaubert werden, und, was das Schlimmste ist, damit gehen dann wiederum massive Demobilisierungstendenzen und auch politische Demoralisierung einher.
Martin Rheinlaender
(aus: analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 425, 15.4.1999)