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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Nach den Sternen greifen. Bedingungsloses Grundeinkommen für alle! AG-Bericht von Anne Allex* Im Rahmen des Perspektivenkongresses in Berlin fand am 15. Mai 2004 eine fast sechsstündige Veranstaltung zum Thema »Mindesteinkommen für alle« statt, die der Runde Tisch der Erwerbslo-sen- und Sozialhilfeorganisationen organisiert hatte. Doch Mindesteinkommen ist nicht gleich Min-desteinkommen: Grundsicherung, Existenzgeld, garantiert, unbedingt oder gekoppelt an Erwerbsarbeit – es kursieren eine Vielzahl von Konzepten. Auf der Veranstaltung wurde nicht nur vorgestellt, was sich derzeit in diesem Feld tummelt und wo die Differenzen zwischen den verschiedenen Konzepten liegen, sondern auch, in welche Richtung es denn gehen soll, wenn einstige Grundsicherungsmodelle mittlerweile die realpolitischen Höhen und Weihen rot-grüner Sozialpolitik erreicht haben und als »Alternative« nicht mehr recht taugen wollen. Anne Allex gibt eine Einführung in das Thema. Ein ausreichendes Einkommen für alle, das zum Leben
reicht, ist eine alte Utopie. Diskreditiert: »Grundsicherung« für Armut in Arbeit Die Auseinandersetzung um diese Modelle erhält aktuell neue Nahrung durch die von der rot-grünen Bundesregierung eingeleiteten politischen Entwicklungen zum Wegfall der Arbeitslosenhil-fe. Diese soll zusammen mit der Sozialhilfe durch ein neues Leistungssystem – die so genannte »Grundsicherung für Arbeitssuchende« – ersetzt werden. Ganz wie im US-amerikanischen Workfa-re-Vorbild ist die Bereitschaft zur Aufnahme fast jeglicher Arbeit Voraussetzung für den Bezug der Leistung. Aufgrund hoher Zugangsschwellen und Hürden im Gesetz wird jedoch nur ein kleiner Teil der Betroffenen die Leistung erhalten. Mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe werden erstens die Rechtsansprüche auf Leistungen aus dem letzten – sozialen – Sicherungsnetz der Sozialhilfe generell aufgehoben, zweitens nicht-existenzsichernde staatliche Leistungen für den Einzelnen oder eine Bedarfsgemeinschaft an die Ableistung irgendwelcher Beschäfti-gungszumutungen gebunden, drittens der geförderte Arbeitsmarkt repressiv gestaltet, viertens die persönlichen ökonomischen Abhängigkeiten in Partnerschaft, Ehe, Familie, Wohngemeinschaft usw. extrem verstärkt und fünftens die generelle Sicherung der Wohnung als gesetzlicher Anspruch aufgegeben. Deshalb präferieren viele, so jedenfalls ein Ergebnis der Arbeitsgruppe auf dem Kongress, mittler-weile nicht mehr ein – unspezifisches – »Mindesteinkommen«, sondern ein »garantiertes, ausrei-chendes und bedingungsloses Grundeinkommen«. Unterscheidungs- und Begründungsbedarf Egal, ob es um Grundeinkommen, Grundsicherung oder Bürgergeld
geht: Der diskursive bundes-deutsche Mainstream wird von der landläufigen
Meinung beherrscht: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!«
Die Konzepte werden abwinkend als alle gleich, nicht durchsetzbar und
nicht bezahl-bar abgetan. Deshalb war es das Anliegen des Workshops: »Mindesteinkommen
für alle!« des Runden Tisches der Erwerbslosen- und Sozialhilfeorganisationen
auf dem Perspektivenkongress, zunächst Unterschiede und Gemeinsamkeiten
der diskutierten Konzepte aufzuarbeiten. »›Gehorsam dem Gesetz gegenüber, das man sich selber gegeben hat, ist Freiheit‹, heißt es in Rousseaus Contract Social von 1762«.[2] Wir als Erwerbslose meinen wohl aber eine andere, sozial bestimmte Freiheit: die Freiheit, unter allen Umständen einen individuell garantierten Rechtsanspruch auf ein ausreichendes und bedingungsloses Grundeinkommen zu haben. »Unter allen Umständen« heißt auch: im Gegensatz zu den aktuell praktizierten Grundsicherungsvarianten. Anders als die Rechtsansprüche Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe gibt es im Sozialgesetzbuch II die Leistung »Arbeitslosengeld II« nur noch gegen Arbeit – nach dem Workfare-Prinzip »keine Leis-tung ohne Gegenleistung«. Nur, wenn ein erwerbsfähiger Hilfebedürftiger bereit ist, (fast) jede Ar-beit anzunehmen, erhält er Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Diese Leistungen lie-gen unterhalb der Sozialhilfestandards (Bedarfsprinzip etc.) und des bisherigen Einkommensni-veaus der Sozialhilfe. Im Sozialgesetzbuch II geht die rot-grüne Bundesregierung offenbar von einem Vollbeschäftigungstheorem aus, das die Nützlichmachung der Langzeitarbeitslosen unter dem Gesichtspunkt ihrer Verwertung zur Voraussetzung ihrer physischen Existenz macht. Schon heute reicht jedoch die Sozialhilfe nicht zum Leben. Diese Situation ist nach der Gesundheitsre-form nicht besser geworden: Zum Teil brachen Kranke in Sozialhilfebezug ihre Behandlungen ab, weil sie die Kosten für Praxisgebühr und Zuzahlungen nicht aufbringen oder vorstrecken konnten. SozialhilfebezieherInnen müssen wählen zwischen Essen und Gesundheitsversorgung, und neuer-dings müssen sie sich auch noch die Kosten für Mobilität vom Munde absparen. Vollbeschäftigung und Freiheit erscheinen unter diesen Bedingungen als Gegensatz. Da im Workshop BefürworterInnen eines Grundeinkommens aus verschiedenen politischen Rich-tungen zusammengekommen waren, wurde auch eine liberale Begründung als politische Alternati-ve vorgestellt und diskutiert. Sascha Liebermann und Stefan Heckel [3] favorisierten eine »frei-heitliche Zivilgesellschaft«. Liebermann meinte, dass die Ordnungssysteme, die die BürgerInnen sich gäben, zum Beispiel das Parlament, dazu dienen müssten, »unsere Integrität, unsere Autono-mie zu schützen« und ihr Möglichkeiten zu ihrer Entfaltung zu geben. Sie schlagen dazu ein bedin-gungsloses Grundeinkommen vor, das nicht »an die Erfüllung des Erwerbsarbeitsmodells« gebun-den bleiben soll. Menschenrechtlich-demokratische Perspektive In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 findet sich in Artikel 22 (Soziale Sicherheit) folgender Anspruch: »Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesell-schaft Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf ..., in den Genuss der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kul-turellen Rechte zu gelangen.« Roland Roth von der Fachhochschule Magdeburg hat, daran anknüp-fend, in einem Projekt des Komitees für Grundrechte und Demokratie gemeinsam mit Peter Grotti-an und Wolf-Dieter Narr von der Freien Universität Berlin »Alternativen zur »Repressandra 2010« entworfen. Im Rahmen der AG stellte er fest, dass die Losung »Freiheit, Gleichheit, Brüderlich-keit« eigentlich »Freiheit, Gleichheit, Eigentum« bedeute. Dies habe Karl Marx zwar schon hinrei-chend kritisiert. Aus der Entwicklung von zivilen politischen Bürgerrechten (wie etwa dem Wahl-recht) lasse sich dennoch, so Roth, die Möglichkeit der Ausweitung sozialer Bürgerrechte ableiten, die ein Minimum an Gleichheit garantieren könnten. Dieses Minimum steige mit dem Produktivi-tätsfortschritt und könne soziale, angstfrei gestaltete Reproduktionsbedingungen ermöglichen. Sol-che angstfrei gestalteten Reproduktionsbedingungen gebe es zwar bis heute nicht, sie dürften aber nicht länger als privates Luxusgut betrachtet werden. Nur ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle ermögliche Angstfreiheit – und sei deshalb als Menschenrecht zu betrachten, so Roths Fazit. Auf was sich diese Angstfreiheit bezieht, wurde anhand der Debatte über Erika Biehns [4] Beitrag deutlich: Qualitative Aspekte »Armut nimmt dort, wo sie nicht mehr physischen Hunger bedeutet, monströse, entwürdigende Züge an: Inmitten des Güterwohlstandes schwindet die letzte Chance, sich mit dem schlechteren ökonomischen Schicksal abzufinden. War früher die Zugehörigkeit der einzelnen zur besseren Ge-sellschaft eine Bedingung dafür, ob sie am Konsum teilnehmen konnten oder nicht, so entscheidet heute das Maß, in dem der einzelne am Konsum teilnimmt, darüber, ob er sich zur Gesellschaft rechnen darf oder nicht. Materielle Armut bedeutet erzwungene Desintegration. Auch die Maschi-nerie der Verwaltungen: Krankenkasse, Meldeamt, Arbeitsamt usw. erfährt der ›kleine Mann‹ als Gewalt, Beamte der Wohnungsämter, der Fürsorge, der Polizei und Angestellte der Krankenversi-cherung werden als ›feindliche Obrigkeit‹ erlebt und gefürchtet.« – meinte Peter Brückner bereits in den 1960er Jahren.[5] In der Auslegung des Bundessozialhilfegesetzes gelten Sozialhilfebezie-hende aber nicht als arm, da ihre Existenz durch die Sozialhilfe gesichert sei. Dennoch hat sich die Einkommenssituation z.B. von SozialhilfebezieherInnen verschärft: Ihre Regelsätze wurden in den letzten Jahren nach einem Statistikmodell angeglichen. Sie liegen nach Aussage des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes bis zu 20 Prozent unter den durchschnittlichen Lebenshaltungskosten. Erika Biehn bezog sich in ihrem Beitrag auf Peter Brückner und stellte dar, welche Diskrepanz es zwischen der internationalen Armutsdiskussion, international deklarierten Rechten und den Maßstäben der Armutsdiskussion in der BRD gibt. Die Aktivistin skizzierte vielfältige Modelle und Überlegungen sozialwissenschaftlicher und europäischer Literatur zu Armutsdefinitionen und Ar-mutskriterien. Theoretische Grundsteine für die qualitative Ausgestaltung eines Grundeinkommens seien also gelegt. Am Beispiel der Entwicklung der Sozialhilfe nach dem Warenkorb verdeutlichte sie jedoch, dass die BRD in der Armuts-Diskussion, Armutsberichterstattung sowie konkreten Maßnahmen zur Armutsverhütung im Vergleich mit anderen Ländern weit abgeschlagen sei. Der-zeit gehe es sogar einen großen Schritt zurück – hin zur Armenpflege. Quantitative Dimensionen eines Grundeinkommens »Wer soll das bezahlen?«, diese Frage wird bei Grundeinkommens- bzw. Sicherungskonzepten oft gestellt. Zusammen mit dem angeblichen Sachzwang, dass kein Geld da sei, dient sie vielfach als Totschlagargument gegen solche Vorschläge. Wo das Geld geblieben ist, wo es zu holen ist und was zu den quantitativen Dimensionen des Grundeinkommens diskutiert wird, erklärte Wolfram Otto. [6] Er zeichnete die Diskussion der 1990er Jahre hinsichtlich der Höhe sowohl von Grundsi-cherungs- als auch von Grundeinkommensmodellen verschiedener Herkunft nach und differenzier-te dabei nach der jeweiligen Kopplung der Modelle an die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Ge-genwärtige Grundeinkommensmodelle (wie das unten skizzierte oder das Existenzgeld-Konzept) bewegen sich in ihrer Höhe bei rund 850 Euro plus Miete. Dass ein solches Grundeinkommen fi-nanzierbar sei, wies er exemplarisch für das Existenzgeld-Modell der BAG SHI anhand einer Ver-gleichsrechnung von privaten und Sozialeinkommen nach. Nach der Take-Half-Methode – einem Abgabenmodell – sollen dabei alle Einkommen von privaten Unternehmen und Einzelpersonen an der gesamtgesellschaftlichen Finanzierung beteiligt werden. Europäischer Ansatz zum Mindesteinkommen Angela Klein [7] erläuterte, wie ein garantiertes Mindesteinkommen Armut überwinden helfen kann und welche weiteren Bedingungen neben dem Einkommen erforderlich sind. Sie befasste sich genauer mit dem Vorschlag der Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, Armut und prekäre Beschäftigung, die explizit keine Entkopplung von Arbeit und Einkommen wollen. Die Höhe des Mindesteinkommens in diesem Konzept bemisst sich an der Formel »50 Prozent des Bruttoinlands-produktes pro Kopf der Bevölkerung«. Die AktivistInnen der Europäischen Märsche wollen ein garantiertes Einkommen mit dem Ausbau eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors ver-binden und damit das Recht erlangen, über den Prozess der materiellen Produktion mitzubestim-men. Die Europäischen Märsche hatten im Januar 2000 eine Charta der sozialen Grundrechte in Europa aufgestellt. Dazu gehören das Recht auf ein garantiertes Einkommen, das Recht auf Arbeit, gleiche Rechte und Verhältnisse zwischen Männern und Frauen sowie der freie Zugang zu allen notwendigen Dienstleistungen. Leitbild für ein Grundeinkommen Ronald Blaschke [8] fasste die Diskussion zum Grundeinkommen wie folgt zusammen: Die Grundeinkommensdebatte sei eng verknüpft mit der Gesellschaftsanalyse und der Kritik an der »Arbeitsgesellschaft«, an deren »Wertesystem« sowie am bisherigen »Sozialstaat«. Die Grundein-kommensforderung ziele auf eine Verbindung von Freiheitsrechten und sozialen Bürgerrechten. Grundlage sei die Entwicklung eines anderen Menschenbildes und die Umverteilung des gesell-schaftlichen Reichtums. Gegenüber der Grundsicherung gehe das Grundeinkommen generell von einer Entkopplung von Arbeit und Einkommen aus. In der nachfolgenden »Leitbilddiskussion« wurden dann Grundeinkommen und Grundsicherung gegenübergestellt. Während die Grundsicherung grundsätzlich erwerbsarbeitsorientiert angelegt sei und nur ein Ersatzeinkommen für Lohn im Zustand des Nichtversorgenkönnens anbiete, sei ein Grundeinkommen unabhängig von der Erwerbsarbeit und der Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt zu gewähren. Die Grundsicherung beinhalte Bedürftigkeitsprüfungen und Arbeitszwang, und sie schütze nicht vor Armut. Das Grundeinkommen dagegen sei bedingungslos zu gewähren und so zu konzipieren, dass es zum Leben ausreiche. Während die Grundsicherung haushaltsbezogen konzi-piert bzw. auf bestimmte Gruppen bezogen sei, stelle das Grundeinkommen einen individuell ga-rantierten Anspruch dar. Kurt Nikolaus [9] wandte dagegen ein, dass unter den jetzigen Sachzwängen zwar ein Grundein-kommen nicht politikfähig sei, vielleicht aber über den Umweg einer Grundsicherung durchgesetzt werden könne. Er vertrat – als offizieller Gewerkschaftsvertreter – die Position der gewerkschaftli-chen Arbeitslosengruppen, mit der sich allerdings weder Mitglieder des Fördervereins gewerk-schaftlicher Arbeitslosengruppen noch des Bundeserwerbslosenausschusses von ver.di anfreunden konnten. Kampagne für ein bedingungsloses Grundeinkommen gestartet Eine politische Perspektive sah Guido Grüner [10]
in der Verbreiterung der Idee eines bedin-gungslosen Grundeinkommens,
die durch eine Verknüpfung von Beratungs- und Aufklärungsarbeit
unter Erwerbslosen und Armen erreicht werden könne. Lebendige Solidarität
bedeute, den Men-schen in den Tageskämpfen eine neue Perspektive
zu eröffnen. Nötig zur Vorbereitung einer Kam-pagne »Für
ein garantiertes, ausreichendes und bedingungsloses Grundeinkommen für
alle« (siehe zur Kampagne ausführlich diese Seite unten) sei
eine »Leitbildklärung« innerhalb des Runden Ti-sches
und deren Einbindung in den Kontext der Forderungen zu Arbeitszeitverkürzung
bei vollem Lohn- und Personalausgleich, Mindestlohn, der Umverteilung
des gesellschaftlichen Reichtums sowie der Anerkennung von Haus-, Pflege-
und Kindererziehungsarbeit. Zur Unterstützung der Kampagne ist ein
Netzwerk »Bedingungsloses Grundeinkommen« gebildet worden,
das aus Wis-senschafterInnen, Erwerbslosen, GewerkschafterInnen, Studierenden,
SozialhilfebezieherInnen, PolitikerInnen und GlobalisierungsgegnerInnen
besteht (siehe »Vermischte Nachrichten« in dieser Ausgabe
des express). Das Netzwerk soll zur Verbreitung der Grundidee beitragen,
die in den di-versen Sozialbündnissen und Bündnisorganisationen
politikfähig gemacht werden soll. Viele sehen es so * Anne Allex ist Mitglied der BAG SHI, des BdWi und der express-Redaktion; sie arbeitet am bundesweiten Runden Tisch der Erwerbslosen- und Sozialhilfeorganisationen mit. Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 5/04 Anmerkungen 1) Harald Rein ist Berater im Frankfurter
Arbeitslosenzentrum (FALZ) und Sozialwissenschaftler. Er ist Mitbegründer
der Bundesarbeitsgemeinschaft unabhängiger Erwerbslosengruppen sowie
Mitherausgeber des Buches »Existenzgeld« (Münster, Dampfboot
2000). |