Holger Heide

Arbeitssucht
Skizze der theoretischen Grundlagen

November 1999
SEARI Social Economic Action Research Institute - Institut für sozialökonomische Handlungsforschung, Fachbereich Wirtschaftswissenschaft, Uni Bremen

 

Vorwort

Zur Vorbereitung eines sozialökonomischen Forschungsprojektes über Ausprägungen, Ursachen und Konsequenzen von Arbeitssucht war ich im Oktober und November 1999 sechs Wochen zu einem Forschungsaufenthalt an der Aichi-Universität in Toyohashi. Ich war nach Japan gekommen mit der Vorstellung, die japanische Gesellschaft sei für Arbeitssucht prädestiniert. Nach meinen Erfahrungen in Europa und der Kenntnis der Literatur aus Nordamerika drängte sich mir insbesondere die Interpretation von Karoshi als Konsequenz eines letzten Stadiums von Arbeitssucht auf. Andererseits hatte ich keinerlei Literatur über Arbeitssucht in Japan gefunden. Das konnte jedoch an meiner Unkenntnis der japanischen Sprache liegen. Daher begann ich meinen Forschungsaufenthalt mit Fragen nach einer eventuellen Rezeption "westlicher", vor allem amerikanischer Literatur über Sucht im Allgemeinen und Arbeitssucht im Besonderen.

Zu meiner Verwunderung stieß ich zunächst oft auf Unverständnis und auf viele Missverständnisse. Das galt vor allem für das Thema Karoshi. Einige meiner Gesprächspartner erinnerten sich daran, wie Karoshi in westlichen Medien ausgeschlachtet worden war. Wichtiger war jedoch die Erfahrung, dass fast alle, die sich in Japan mit Vielarbeit und Überarbeitung und ihren destruktiven Wirkungen beschäftigen, auf den äußeren Zwang hinwiesen, unter dem es zu diesem Raubbau am menschlichen Leben komme. Somit würde eine Interpretation als Arbeitssucht, die ja auf einem "inneren Zwang" beruhe, der Problematik nicht gerecht.

Mir wurde klar, dass hier noch ein weißer Fleck in der Literatur über Arbeitssucht vorliegt. Ich hatte in meinen Vorüberlegungen bisher die in einer breiten Suchtliteratur aufgearbeiteten frühkindlichen Einflüsse bei der Suchtentstehung berücksichtigt und auch aus der Forschung über Traumata bei Erwachsenen Erkenntnisse aufgenommen, dabei aber die möglicherweise traumatische Wirkung der Verhältnisse am Arbeitsplatz und um ihn herum nicht berücksichtigt. In der Tat unterscheiden sich die realen Arbeitsverhältnisse in Japan und im übrigen Ostasien deutlich von denen in Europa und Nordamerika. Obgleich in den letzten beiden Jahrzehnten eine Annäherung stattgefunden hat, liegt insbesondere dem personnel management immer noch eine unterschiedliche Strategie zu Grunde.

Es ist ja in den beiden letzten Jahrzehnten schon oft versucht worden, die "erfolgreiche" japanische Managementstrategie auch im Westen anzuwenden. Das ist bisher nur bedingt gelungen. Insbesondere in Bezug auf die Motivation zur Arbeit scheinen große Unterschiede vorzuliegen. Diese einfach mit unterschiedlichen Kulturen oder Traditionen zu begründen, erscheint mir zu oberflächlich. Denn was macht eine Tradition zur Tradition? Das personnel management trifft in Japan bei den abhängig Beschäftigten offensichtlich auf eine Bereitschaft. Eine solche Bereitschaft muss im individuellen Sozialisationsprozess erzeugt worden sein. Daraus könnte folgen, dass die Verinnerlichung des - ursprünglich ja immer äußeren - Arbeitszwangs je nach den spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen auf unterschiedliche Weise erfolgt und daher auch zu unterschiedlichen Wirkungen führen kann.

Deshalb will ich das Verhältnis von innerem zu äußerem Zwang als wesentlichen Aspekt in eine vergleichende empirische Untersuchung einbeziehen. Da sich eine derartige empirische Untersuchung auf konkrete Lebenslaufanalysen stützen müsste, ist eine direkte Kooperation mit japanischen Wissenschaftlern unumgänglich. Das Forschungsprojekt soll sich jedenfalls auch auf Südkorea beziehen; die Kooperationsmöglichkeiten mit koreanischen Wissenschaftlern sind jedoch zur Zeit wegen eines gegen mich verhängten fünfjährigen Einreiseverbots äußerst begrenzt.

Die Kollegen der Aichi-Universität haben mir Kontakte zu wichtigen Experten auf dem Gebiet der Arbeitsökonomie, -soziologie, -medizin und -psychologie ermöglicht und das gegenseitige Verständnis – nicht zuletzt sprachlich – durch ihren unermüdlichen Einsatz tatkräftig gefördert. Ich bedanke mich ganz besonders bei Takao Oshima undToshihiko Hozumi von der Aichi-Universität, darüber hinaus bei meinen vielen Gesprächspartnern an verschiedenen Universitäten und Instituten, von denen ich hier stellvertretend Makoto Kumazawa von der Konan-Universität Kobe, Kazunori Ohki vom Aichi Labor Research Institute Nagoya, Takeshi Inagami von der Graduate School of Humanities and Sociology Tokyo und Tetsunojo Uehata vom Nationalen Institut für öffentliche Gesundheit Tokyo nenne. Eine besonders intensive Verständigung über mein Forschungsthema ergab sich mit Keita Takeda von der Aichi Universität; wir wollen daher ein gemeinsames Forschungsprojekt erarbeiten.

Toyohashi, am 11.11.99
Holger Heide

 

Beobachtungen

Ich kenne viele Menschen, die zuviel arbeiten, die Raubbau treiben an ihrer Lebensenergie. Sie schaffen ein großes Arbeitspensum. Sie sind erfolgreich. Aber nicht nur ihr Körper verschleißt, auch ihre Psyche und ihr spirituelles Wohlbefinden nehmen Schaden.

Und ich kenne andere Menschen, die haben nur noch Angst vor der Arbeit. Sie wachen morgens schon mit Angst auf - wenn sie überhaupt geschlafen haben! Berge von Arbeit erwarten sie. Sie sind von ihrer Angst gelähmt und arbeiten daher unkonzentriert, sie schaffen wenig. Die Berge von unerledigter Arbeit werden immer größer. Sie wirken auf ihre Mitmenschen depressiv oder einfach faul, obgleich sie sich schrecklich anstrengen. Weil sie selbst spüren, dass sie zu wenig schaffen, halsen sie sich immer neue Arbeiten auf.

Und noch von einer dritten Beobachtung möchte ich Ihnen erzählen, die möglicherweise einige von Ihnen selbst gemacht haben. Es geht um Menschen, die ihr Leben lang nur für ihre Arbeit gelebt haben. Sie empfinden die Zeit nach ihrer Pensionierung oft als unerträgliches Vakuum. Sie wissen nichts mit sich anzufangen. Besonders bei Männern ist in Europa die Sterblichkeit in den ersten beiden Jahren nach der Pensionierung auffallend hoch.

Soweit meine Beispiele. Als ich mit dem Thema Arbeitssucht in Berührung kam, stellte ich mir die Frage, ob diese drei Fälle nicht etwas Gemeinsames aufwiesen. Und ob dieses Gemeinsame nicht "Arbeitssucht" sein könnte.

 

Die "Entdeckung" der Arbeitssucht

In Deutschland stammt die älteste Untersuchung zur Arbeitssucht von Mentzel (1979), dem Chefarzt einer Suchtklinik. Bei der Beobachtung und Anamnese von Sucht ergab sich für Mentzel eine verblüffende Parallelität von Arbeitssucht und Alkoholismus. Insbesondere in Bezug auf die Stadien, die die Sucht nach und nach durchläuft, fand er heraus, dass man die "Jellinek-Skala" - das ist sozusagen ein Einstufungstest, um die Fortgeschrittenheit des Alkoholismus festzustellen - auf Arbeitssüchtige übertragen kann (vgl. Jellinek 1960).

Mentzel regte schon damals Längsschnittbeobachtungen an, um Ursachen und Folgen zuordnen zu können. Mentzels Verdacht war, dass Essentielle Hypertonie in ihren Formen als Muskelverspannung oder als Bluthochdruck und sogar der Herzinfarkt Folgen von Arbeitssucht sein können. Das bedeutet, dass wenn sich die Symptome chronifizieren, die Krankheit zum Tode führen kann. Nicht umsonst nennt Diane Fassel (1991) ihr Buch über Arbeitssucht: "Working ourselves to death".

Die Psychodynamik der Arbeitssucht ist ähnlich schwierig und komplex wie bei allen Süchten. Spezifika der Arbeitssucht sind darüber hinaus ihre hohe gesellschaftliche Akzeptanz und die Schwierigkeit, dem gesellschaftlichen Zwang zur Arbeit zu entgehen.

Hiermit will ich meine Vorbemerkungen beenden. Die beiden Hauptteile meines Vortrags werden sich beschäftigen mit

    1. Anmerkungen zu einer sozialökonomischen Suchttheorie und den

    2. Ursachen und Folgen von Arbeitssucht.

 

A. Anmerkungen zu einer sozialökonomischen Suchttheorie

Der Begriff der Sucht ist ursprünglich an Hand der Erfahrung mit den stoffgebundenen Süchten entwickelt worden. In der Suchtdiskussion begegnen wir daher immer wieder dem "klassischen" Alkoholismus und heute zunehmend der sogenannten "Drogensucht", der Medikamentensucht usw.

Unter den Prozesssüchten (nicht stoffgebundenen Süchten) berühren einige das Gebiet der Ökonomie unmittelbar und sind auch schon von Ökonomen behandelt worden, darunter die Arbeitssucht und die Kaufsucht (Richter/Gössel/Steinmann 1988; Scherhorn u.a. 1990); andere erscheinen zunächst recht ökonomiefern wie Beziehungssucht, Anpassungssucht, Sexsucht usw.

Bei näherer Betrachtung versteht man, dass die Formen der Sucht relativ gleichgültig sind. Sowohl die zugrundeliegende Suchtstruktur (einschließlich ihrer psychischen Prädisposition), als auch die beobachtbaren Charakteristika sind außerordentlich ähnlich.

Das ist nicht verwunderlich. Die wesentliche Übereinstimmung von stofflichen und nicht-stofflichen Süchten lässt sich nicht nur psychologisch, sondern auch physiologisch beobachten.

Während im Fall der stofflichen Süchte solche Stoffe ("Drogen") dem Körper von außen zugeführt werden, die im Körper bestimmte erwünschte Reize auslösen, wird im Fall der nicht-stofflichen Süchte oder "Prozesssüchte" die körpereigene Produktion wirkungsähnlicher Stoffe (Adrenalin, Morphine, Endorphine usw.) durch bestimmte Verhaltensweisen bzw. Situationen usw. angeregt.

 

Zum Wesen der Sucht

Meine These ist: Die tiefere Ursache von Sucht ist Angst; Sucht ist ein Indiz für einen Mangel an innerer Autonomie. Das wirft die Frage auf, woher soviel Unsicherheit und Angst gerade in der modernen Gesellschaft kommt. Der Prozess der industriellen Zivilisation insbesondere der letzten 200 Jahre erscheint im allgemeinen als ein Prozess der Emanzipation des Menschen von einer ihm feindlichen Natur. In diesem Prozess scheint der heutige Mensch eine weit größere Autonomie erreicht zu haben als der archaische Mensch. Tatsächlich hat sich wohl nur die den archaischen Menschen charakterisierende innere Sicherheit bei extremer äußerer Unsicherheit zu einer inneren Unsicherheit bei (scheinbarer) äußerer Sicherheit gewandelt (Gruen 1994). Die Geschichte der Sucht ist die Geschichte der Moderne, die wesentlich mit dem Prozess der Entspiritualisierung zu tun hat.

Der gesellschaftliche Prozess der Entspiritualisierung und der damit einhergehenden Durchsetzung des Machbarkeitswahns und der Illusion der Kontrollierbarkeit ist historisch eine Folge der sich seit der Renaissance und der Aufklärung in Europa durchsetzenden spezifischen Form der Befreiung des Menschen aus einer spezifischen Form der äußeren Abhängigkeit. Vor dem Hintergrund der Auflösung der ursprünglichen auf Naturalbasis gegründeten Feudalgesellschaft des Mittelalters mit der Entwicklung der Städte mit Handel und Handwerk war es die scheinbare Unabhängigkeit vom Boden, die den Menschen als mögliche Unabhängigkeit von Natur überhaupt erscheinen konnte. Die Natur war in diesem Prozess als rationaler Erkenntnis zugänglich und damit als kontrollierbar erkannt worden

Unabhängigkeit von der Natur heißt aber wesentlich Unabhängigkeit von der eigenen inneren Natur. Natur wird in dieser Vorstellung aus der Quelle des Lebens zum Objekt menschlichen Willens. Gerade damit aber wurde aus der mit der Aufklärung intendierten Emanzipation von Gott als etwas außer den Menschen und über sie Herr-schendes ein bloßes Auswechseln des Herrn: Aus der Erkenntnis des Göttlichen in sich selbst zogen die Menschen nicht den Schluss, integraler Teil eines großen Ganzen zu sein, sie setzten sich vielmehr an die Stelle des abgesetzten Herrn(1). Und zwar jeder einzelne Mensch. Wenn aber für jedes Individuum der Rest der Welt zum Objekt wird, dann mündet das in eine gnadenlose Konkurrenz. Das ist dann die Auswirkung des Prinzips der Machbarkeit und Kontrolle auf die gesellschaftlichen Verhältnisse.

Schlussfolgerung aus dieser Skizze des Paradigmas der Machbarkeit ist: Solange die Menschen die Natur - und damit auch ihre eigene innere Natur - als feindlich empfinden, solange also diese tiefe Spaltung - oder Entfremdung - nicht aufgehoben ist, können sie nicht in Frieden mit sich leben, auch nicht mit einer eventuell begründeten Angst umgehen. Sie suchen nach Mitteln, die ihnen helfen, ihre Angst nicht mehr zu spüren. Das ist der eigentliche Hintergrund von Sucht.

Aus der unbewussten Abwehr der unerträglichen Gefühle der Angst erklären sich die Charakteristika süchtigen Handelns:

 

Die Entstehung individueller Sucht

Die entscheidende Grundlage für die Entwicklung von Autonomie ist in der frühkindlichen Entwicklungsphase des Menschen ein enges körperlich-psychisches Verhältnis zu anderen Menschen, die selbst fähig sind, sich mit Liebe dem Kind zu widmen (vgl. Gruen 1986). Sobald die direkte Verbindung der Mutter durch die Geburt gelöst ist, wird das Verhältnis des Säuglings zu seinen Mitmenschen zu einem Kommunikationsproblem. Alles hängt davon ab, ob die Kommunikation zwischen dem kleinen, hilflosen und dem großen, starken Menschen klappt, ob die "Bezugsperson" die Signale, mit denen der Säugling seine Bedürfnisse ausdrückt, versteht. Und diese Signale verstehen zu lernen, ist nicht primär ein kognitives Problem; als entscheidend erweist sich die Fähigkeit zur Empathie, d.h. zum Sich-Einfühlen. Erforderlich ist die Fähigkeit der Erwachsenen, auf die Hemmungslosigkeit einzugehen, mit der das Kind seine unmittelbaren Bedürfnisse äußert. Genau an dieser Stelle kann die (fast immer unbewusste) Abwehr der Erwachsenen für das Kind zum Problem werden. Denn oft lässt die Angst der Erwachsenen, mit sorgsam verdrängten eigenen Gefühlen konfrontiert zu werden, nur noch Abwehr zu. Das verhindert die Liebe, die das kleine Kind braucht, um sich als Teil eines Großen Ganzen dieser Welt fühlen zu können, um Spiritualität zu erfahren, kurz: um leben zu lernen. So entsteht ein grundlegendes Gefühl tiefer Unsicherheit, das heißt Angst.

Da der Sozialisationsprozess ein kumulativer Prozess ist, in dem alle Einwirkungen bleibende "Eindrücke" hinterlassen - ob bewusst oder unbewusst - ist die frühkindliche Entwicklungsphase von zentraler Bedeutung. In der Kindheit entstandene Angst kann so zum bestimmenden Moment eines ganzen Lebens werden.

Grundsätzlich identische Folgen können auch bei psychischen Traumata von Erwachsenen eintreten(2). Dabei sind allerdings folgende Unterschiede zu bedenken: Erwachsene haben in der Regel schon eine "konsolidierte Persönlichkeit" (Ferenczi 1933). Ein eigenes Wertesystem und nicht mehr primär die vorbehaltlose Liebe von Seiten bestimmter Bezugspersonen sichern normalerweise die individuelle Identität. Wenn die erlittene und erlebte Gewalt allerdings so überwältigend ist, dass Gegenwehr genauso wie Weglaufen ("fight" or "flight") gänzlich ausgeschlossen erscheinen, dann kann auch der erwachsene Mensch oft nur noch mit einer "Bewusstseinsveränderung" (Herman 1992, S. 65 ff.) reagieren, um zu überleben. Wolfgang Schmidbauer hat dafür den aus der somatischen Medizin bekannten Begriff der "Zentralisation" eingeführt (Schmidbauer 1998, passim); Anne Wilson Schaef spricht von einer "Unterbrechung des Lebensprozesses" (Schaef 1998, passim). Durch Zentralisation aller verfügbaren psychischen Kräfte auf das unmittelbare Überleben tritt psychisch, aber auch mit physischen Entsprechungen eine "Erstarrung" oder "Konstriktion" (Herman 1992, S. 65 ff) ein. Aus Angst vor den eigenen Gefühlen werden die "natürlichen Trauerreaktionen so lange bagatellisiert und unterdrückt .., bis sie [die depressiv Erkrankten] durch diese Schonungslosigkeit erschöpft und ausgebrannt sind" (Schmidbauer 1998, S. 72)(3). Zentral ist hier wiederum die Angst, obgleich sie als Folge der Verdrängung eben nicht bewusst erlebt wird. Es entsteht letztlich eine "Angst vor der Angst", ein Teufelskreis, der immer größere Lebensenergien in der Verdrängung und Kontrolle bindet.

Erwachsene sind umso eher psychisch verwundbar, je weniger entwickelt ihre eigene Persönlichkeit ist, je weniger innere Autonomie sie haben. So können frühkindliche und spätere Schäden sich kumulativ auswirken.

In allen solchen Fällen gilt: Da die Angst verhindert, dass das wirkliche Bedürfnis erkannt wird, sucht der süchtige Mensch nach einem Ersatz. Der Ersatz führt aber tatsächlich nicht zur Befriedigung des Bedürfnisses und die gestörte Wahrnehmung führt zu der fehlleitenden Schlussfolgerung, dass das Bedürfnis nur noch nicht befriedigt sei, weil nicht genug konsumiert wurde. Die Jagd nach mehr wird lebensbestimmend. Der Begriff der Unersättlichkeit kann im übertragenen Sinn auf alle Fälle von Sucht angewendet werden. Da trotz steigender Dosierung nie Sättigung und Befriedigung eintritt, bleibt immer das Hungergefühl. Schließlich reicht auch die höchste Dosis des Suchtmittels nicht mehr aus.

Da vernachlässigte oder gar misshandelte Kinder oder als Erwachsene Traumatisierte sich ja real als Opfer erlebt haben; ist das resultierende Muster das des Opfers. Dass gerade die Opferhaltung so schwer zu durchbrechen ist, hängt vor allem damit zusammen, dass der aus der Notwendigkeit der Verdrängung resultierende Mangel an Lebendigkeit in dieser kontrollierten Existenz bewusst nicht zu ertragen ist. Obgleich die ursprüngliche schreckliche Situation tatsächlich nicht mehr besteht, der traumatisierte Mensch es also heute selbst ist, der sich von seiner Lebendigkeit abschneidet, benutzt er weiter das Täter-Opfer-Modell, projiziert die Täterrolle auf etwas oder jemand Äußerliches, übernimmt daher für sein aktuelles Handeln nicht die Verantwortung. So kann die Opferhaltung auch leicht in Täterverhalten umschlagen: Als grundsätzliches Opfer hält er sich notfalls auch zur Selbstverteidigung für berechtigt. Da die gesamte Schuldfrage schon geklärt und die Schuld woanders verortet ist, wird eine solche "Selbstverteidigung" immer rücksichtslos sein, weil sie wie erwähnt die Weigerung impliziert, die Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen(4).

 

Die Gesellschaft als Suchtgesellschaft

Grundlage der gesellschaftlichen Dimension der Sucht ist ihr epidemischer Charakter, den ich oben schon erwähnt habe. Durch das regelmäßig wiederholte Handeln wird Sucht zur Normalität.

Grundsätzlich gesprochen gibt es eine Affinität von "Kapital" und "Suchtsystem"(5). Das kapitalistische System fördert nicht nur Sucht, es "lebt" von Sucht, und es ist wesentlich Suchtsystem. Das Kapital als Suchtsystem erzeugt und reproduziert die Bedürftigkeit und zwar grundsätzlich grenzenlos, denn Grenzenlosigkeit ist das Wesen des Kapitals. Und es stellt uno actu die Mittel für die kompensatorische Befriedigung der erzeugten Ersatz-Bedürfnisse bereit: Mittel stofflicher Art (vom Alkohol, sonstigen "Drogen", Medikamenten im weitesten Sinne bis zu den ausgeklügeltsten "Genussmitteln") und aktive Verhaltensangebote (wie Bungee-Jumping usw.) sowie passive "Unterhaltungsangebote", die ständige Re-Identifizierung erlauben. Selbst "Information" eignet sich hervorragend als Suchtmittel - nicht nur durch den transportierten Inhalt, worauf fälschlich gewöhnlich das Hauptaugenmerk der Kritik gelegt wird, sondern allein durch die schon längst nicht mehr - weder geistig noch psychisch – verarbeitbare Massenhaftigkeit, mit der sie über die Massenmedien auf die Menschen einwirkt(6).

Teil dieses Systems zu sein heißt für die einzelnen Menschen:
"We live in a culture that demands dysfunction (i.e. addiction, H. H.). The purpose of dysfunction is to keep us ... away from fully experiencing the pain of the isolation, dishonesty, illusion, and self-centeredness of living in the world we have created" (Schaef, 1998, 183).

 

B. Arbeitssucht - Individuelle Hintergründe und Ursachen von Arbeitssucht

Arbeitssüchtige arbeiten nicht einfach viel, sondern sie gewinnen ihren Selbstwert, ihre Identität über Arbeit und Leistung. Zugrunde liegen auch hier meist frühkindliche Störungen: Wenn das Kind nicht bedingungslos liebevoll angenommen wird und als Objekt für die Eltern dient, kann sich - wie ich schon ausgeführt habe - kein autonomer Selbstwert entwickeln. Bei den Eltern können eigene enttäuschte Hoffnungen die Ursache sein: Das Kind soll es einmal besser haben als sie selbst; oder gar das Kind soll die Ehe retten; oder einfach: das Kind soll uns "Freude machen".

All das erzeugt einen Erwartungsdruck, den das Kind spürt. Es entdeckt, dass die Eltern ihm Zuwendung geben, wenn es etwas leistet. Also versucht es, durch Leistung Liebe zu bekommen. Das Kind macht sich mehr und mehr für das Wohlbefinden der Eltern verantwortlich, weil davon sein Überleben abhängt. Es verinnerlicht schließlich den Leistungsmaßstab. Etwas leisten wird zum Muster. Ob das zur Arbeitssucht führt, hängt vor allem davon ab, wie "erfolgreich" das Muster in der Kindheit und Jugend, besonders dann in der Schule gelebt worden ist.

So kann ein frühes Scheitern der Leistungsversuche zur "Verliererhaltung"/"Opferhaltung" führen. Aus dem Scheitern beim Versuch, Leistungen zu erbringen, oder wenn der eigene Maßstab für Zufriedenheit ins Unermessliche wächst (was ja Ausdruck der Unersättlichkeit ist, die ich vorhin erwähnt habe), erklärt sich der Zustand des Gelähmtseins angesichts der vor einem liegenden Arbeit, also das nicht-anfangen-Können oder überhaupt-nicht-mehr-arbeiten-Können. Oft ist genau das der Ausdruck eines fortgeschrittenen Stadiums der Arbeitssucht. Ein unbewusster Lösungsversuch besteht dann eventuell darin, den Beginn des Arbeitens solange immer wieder zu verschieben, bis die konkrete Angst vor dem nicht mehr Schaffen Können soviel Adrenalin freisetzt, dass die nötige Energie doch noch aufgebracht wird. Im Endstadium der Arbeitssucht funktioniert dann auch dieser Mechanismus nicht mehr.

Solange nicht erkannt wird, dass "Sucht" vorliegt, bleibt die Ursache unbekannt mit der Folge, dass nur an den Symptomen herumkuriert wird. Dass der Süchtige seine Lage nicht als Sucht erkennt, liegt schon in dem Wesen der Sucht selbst, ist gerade ein Aspekt der Krankheit. Um der destruktiven Entwicklung auszuweichen, versucht der Süchtige oft, andere Suchtformen einzubeziehen ("Suchtverschiebung"). Dazu eignen sich Rauchen, Alkohol, Essen, Sexualität; aber im Grunde auch alle anderen Suchtformen. Mit diesen Mitteln wird oft eine Symptomunterdrückung erreicht. Bei entsprechender Disposition können daraus manifester Alkoholismus, manifeste Esssucht, Sexsucht usw. werden.

Für eine korrekte Anwendung des Suchtbegriffs auf die Realität des Arbeitsalltags ist die Beachtung des Verhältnisses von äußerem Zwang zur Arbeit - im Fall der "abhängigen Arbeit" direkt durch die Einordnung in die Betriebshierarchie, im Fall der selbständigen Arbeit durch die Abhängigkeit vom Einkommen - und einem "inneren Zwang", einer inneren Unwiderstehlichkeit nötig. Nur die letztere Form kann als Arbeitssucht bezeichnet werden. Es gibt jedoch zwischen beiden Formen einen Zusammenhang. Ein "innerer Zwang" entsteht individuell im Sozialisationsprozess bzw. gesellschaftlich im historischen Prozess der Herausbildung der Moderne durch Verinnerlichung. Dem Zweck der individuellen Verinnerlichung dienen auch die vielfältigen Methoden der "Motivation" im Betrieb (wie auch schon in den Ausbildungsinstitutionen). Auch durch erzwungen lange, dazu oft noch unbezahlte Arbeit, wie sie insbesondere in Japan, Korea und Taiwan häufig vorkommt(7), kann eine "Flucht in die Sucht" hervorgerufen werden. Die Methoden des personnel management des "Toyotismus" wie auch des "Hyundäismus"(8) zielen auf eine partielle Zerstörung der Identität und deren Ersetzung durch eine Identifikation mit dem Unternehmen(9), also die Herstellung des "company man" ab. Mit der erzwungenen langen Arbeitszeit, verbunden mit einer hohen Intensität der Arbeit, ist zugleich dreierlei intendiert. Zum einen die genannte Zerstörung der Identität (also eine Trennung vom Selbst), zum anderen eine langfristige Verhinderung der Durchbrechung dieser Trennung, indem die Menschen "exhausted" gehalten werden, schließlich eine Erhöhung der Produktion je Beschäftigten. Die lange Arbeitszeit wirkt nicht primär physisch, sondern - besonders wenn sie auch noch unbezahlt verlangt wird - vor allem über die Erniedrigung, die damit verbunden ist, die Schuldgefühle gegenüber der vernachlässigten Familie usw. Die weitere physische Zerstörung durch Überarbeitung ist oft erst eine Folge und kann vielleicht schon unter dem Gesichtspunkt Arbeitssucht betrachtet werden. Während zunächst oft Alkohol, Medikamente und manchmal sogenannte "harten" Drogen als Mittel zur "Flucht" benutzt werden, kann paradoxer Weise gerade Arbeitssucht ein Resultat sein.

Die Art und Weise der Verinnerlichung ist, wie ich an dieser Stelle nicht näher ausführen kann, unter fordistischen Verhältnissen eine andere. Die schließliche Identifikation erfolgt dabei weniger mit dem Unternehmen als mit der Marktgesellschaft, d.h. die Menschen gewinnen ihre (Ersatz-)Identität als Individuen über die Bezahlung ihrer Arbeitsleistung.

Der Kampf für möglichst hohe Löhne ist dann auch weniger Ausdruck von Klassenbewusstsein als von einer Vorstellung von Gerechtigkeit bei der Verteilung der Beute des kapitalistischen Produktionsprozesses.(10)

 

Auswirkungen von Arbeitssucht

a. in der Familie

Das amerikanische "Manager Magazine" versah einmal einen Bericht über Arbeitssucht mit dem Titel: "When it’s harder to go home".

Da Arbeitssucht – wie andere Süchte – im Grunde der Abwehr mangelnder Gefühle dient, empfinden Arbeitssüchtige die Zuwendung von Seiten ihrer Ehepartner, Kinder usw. mehr und mehr als "Anforderungen", die sie abzuwehren versuchen. Sie fühlen sich überfordert: "Alle wollen zuviel von mir" ist das Gefühl. Um den überhand nehmenden Anforderungen zu begegnen, versuchen Arbeitssüchtige noch mehr, sich auf die Arbeit zu konzentrieren.

Bei fortschreitender Arbeitssucht ist es dann nicht mehr nur die Arbeit, die die Zeit mit der Familie einschränkt, sondern der Arbeitssüchtige nimmt die Arbeit schließlich auch als Vorwand, um sich der Familie zu entziehen. Da dabei auch die Partnerschaft und Sexualität zu kurz kommen, werden oft andere Liebesbeziehungen gesucht. Diese sind dann gleichzeitig ein Mittel, um sich der Familie noch mehr zu entziehen und sie werden wieder mit dem Argument "Arbeit" vor der Familie versteckt.

Da auch diese Liebesbeziehungen Suchtcharakter haben (sie sind ja erneut Mittel zu einem anderen Zweck, nämlich zum Ausschalten nicht erträglicher Gefühle), unterliegen sie derselben Suchtdynamik: Der Süchtige braucht immer mehr davon und die Beziehung kann ihn nicht befriedigen.

Die destruktiven Einflüsse auf die Kinder ergeben sich aus dem, was ich vorhin schon ausgeführt habe. Es ist ganz deutlich, dass mehr und mehr auf ihre Sucht fokussierte Menschen nicht in der Lage sind, offen mit ihren Kindern zu kommunizieren(11).

 

b. im Betrieb

Eine positive Beurteilung der Arbeitssucht aus der Perspektive eines Arbeitgebers scheint zunächst naheliegend oder gar selbstverständlich: "Die Arbeitssucht mag letztlich krankhaft sein, der Arbeitssüchtige mag Schwierigkeiten mit seinen Gefühlen haben; aber im Betrieb arbeitet er für zwei!" Da er ein bisschen schwierig im Umgang ist, "müssen ihm möglichst solche Arbeitsbedingungen eingeräumt werden, die die positiven Auswirkungen verstärken und eventuelle negative Auswirkungen so weit wie mögliche vermeiden." (Das war übrigens tatsächlich die Position von Machlowitz 1978).

Diese Beurteilung ist m.E. falsch aus zwei Gründen(12):

  1. Die anfangs sichtbare Phase der "konstruktiven Arbeitssucht" ist fast immer nur von begrenzter Dauer. Die vorhin gegebene Übersicht über die fortschreitende Destruktivität der Krankheit wirkt sich entsprechend auf das Unternehmen aus: zugesagte Termine werden nicht mehr eingehalten, unter zu hohem Zeitdruck werden zunehmend Fehlentscheidungen getroffen, körperliche Beschwerden nehmen zu und damit krankheitsbedingte Ausfälle; weitere Süchte treten hinzu mit entsprechend destruktiven Folgen.

  2. Da ein Betrieb immer Teamarbeit erfordert, wirkt sich die Sucht einer Person auf alle Mitarbeiter aus. Die Weigerung, für eigene Entscheidungen - eventuell auch Fehlentscheidungen, die Verantwortung zu übernehmen, führt zu Abwehrhaltung der sozialen Umgebung im Betrieb. Andererseits versuchen die Kollegen und Mitarbeiter den Süchtigen gegen Kritik von außen in Schutz zu nehmen und geraten dadurch selbst immer mehr in einen Stresszustand. Sucht ruft so immer eine – letztlich selbst süchtige – Reaktion hervor. Das ist es, was wir als "Ansteckung" bezeichnen können. Sowohl die horizontale als auch die vertikale Interaktion ist gestört.

Unabhängig davon, ob das unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit von Humankapitalinvestition oder unter unmittelbaren Kostengesichtspunkten (z. B. Fluktuationskosten, krankheitsbedingte Kosten) betrachtet wird, ob das Problem prozessorientiert oder ergebnisorientiert betrachtet wird: Arbeitssucht ist auch unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten disfunktional. Dadurch wird Arbeitssucht zu einem personalwirtschaftlichen Problem (vgl. Richter et al. 1984).

In einer vor Jahren in Deutschland erstellten Studie wird der Arbeitgeber als "Dealer* der Droge Arbeitssucht" bezeichnet, weil die gängige Praxis der Personalwirtschaft geeignet ist, Arbeitssucht zu belohnen und zu fördern.

 

a. Gesellschaftliche Folgen

Das gesellschaftliche Modell, das sich seit Beginn der kapitalistischen Produktionsweise von Europa ausgehend über die ganze Welt ausgebreitet hat, lässt sich als Arbeitsgesellschaft apostrophieren. Unabhängig von den unterschiedlichen kulturellen Traditionen hat sich diese Arbeitsgesellschaft, die Max Weber noch im wesentlichen mit der "protestantischen Ethik" in Verbindung brachte, überall durchgesetzt.

Die in dieser Gesellschaft vorherrschende Ideologie der Arbeit mit ihrer Bindung von Einkommen an Leistung und Arbeit, die schließlich gar zur Vorstellung von einem "Recht auf Arbeit" geführt hat, ist ein fruchtbarer Boden für die Ausbreitung von Arbeitssucht. Die Verinnerlichung des Leistungsprinzips als Voraussetzung für gesellschaftliche Anerkennung beginnt, wie wir gesehen haben, im allgemeinen im frühen Kindesalter. Und die Persistenz dieses Verhaltensmusters wird durch die Gesellschaft immer wieder bestätigt. Verschärfung der Konkurrenz und ungehemmter Machbarkeitswahn sind letztlich die Folgen.

 

Konsequenzen

Ich will hier zunächst nur einige knappe Hinweise für ein notwendiges Umdenken in der Personalwirtschaft geben. Diese gelten für europäisches Personalmanagement. Über die Verhältnisse in Japan will ich erst noch versuchen, mir ein Bild zu machen. Wenn die Folgen von Arbeitssucht für den Betrieb so gravierend sind, wie ich es skizziert habe, dann heißt das für eine verantwortungsbewusste Unternehmensführung:

Ob das unter kapitalistischen Verhältnissen umgesetzt werden kann, ist äußerst fragwürdig, da die Unternehmen ja selbst integraler Bestandteil des Suchtsystems sind, in dessen Netz der Konkurrenz sie sich bewegen und an dessen Reproduktion sie dadurch aktiv mitwirken. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass die interessante am betriebswirtschaftlichen Institut von Horst Steinmann 1984 vorgenommene Untersuchung nicht weitergeführt worden ist (Richter et al. 1984).

Schließlich noch ein Wort zur individuellen Heilung von Arbeitssucht.

Die Schwierigkeit beginnt schon bei der Diagnose. Da das Verleugnen gerade zum Wesen der Krankheit gehört, tarnen die Süchtigen unbewusst ihre Krankheit vor sich selbst und vor anderen selbst dann noch, wenn sie tatsächlich schwer krank sind. Sie konzentrieren sich dann auf die Symptome, die möglicherweise Folgeerscheinungen sind oder aber gar nichts mit der Sucht zu tun haben. Dazu kommt, dass wie bei allen anderen Suchtformen auch, bei der Therapie das soziale Umfeld einbezogen werden muss, d.h. die Familie und Arbeitskollegen usw., da alle diese Menschen zu denjenigen gehören, die das Ausleben der Sucht erst ermöglicht haben. Im Amerikanischen gibt es dafür den Begriff "enabler". Dieses Einbeziehen gilt schon bei der Diagnose. Eine Therapie im engeren Sinne, bei der ein Experte von außen den Süchtigen heilt, gibt es ohnehin nicht.

Letztlich kann nur der Süchtige selbst den ersten Schritt zur Genesung tun, indem er aufhört, das Problem zu leugnen. Denn genau in der Durchbrechung der Leugnung, der Nicht-Wahrnehmung der unangenehmen Realität, die ja die Trennung vom Selbst ausdrückt, liegt die Chance. Wie bei der Genesung von jeder anderen Sucht müssen die Arbeitssüchtigen neu lernen, mit ihrem Selbst in Kontakt zu kommen und ihre Angst wahrnehmen, die ihr bisheriges Leben bestimmt hat und lernen, mit dieser umzugehen. Die Genesung ist ein langer Prozess der Wiedergewinnung der Spiritualität. Nur das kann die ursprünglichen Defizite, die der Sucht zu Grunde liegen, heilen.

Kurztherapien dagegen, die auf die oberflächliche Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit abzielen, sind – wie leicht zu durchschauen ist – selbst Ausdruck des Suchtsystems und führen die Süchtigen nur noch tiefer in ihre Sucht.

 

Anmerkungen

1. Vgl. hierzu auch Scherhorn 1996, S. 168.

2. Erst in den letzten zwei Jahrzehnten unter dem Eindruck der Erkenntnisse über massenhafte Traumafolgen bei amerikanischen Veteranen des Vietnamkriegs sind die seelischen Folgen von Traumatisierungen bei Erwachsenen "offiziell" durch Aufnahme in die Handbücher Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) und des International Statistical Classification of Deseases and Related Health Problems (ICD) der Weltgesundheitsorganisation unter der Bezeichnung "Post Traumatic Stress Disorder" aufgenommen worden (vgl. Schmidbauer,1998, S. 97).

3. Schmidbauer führt dieses als Hypothese, als ein "in der therapeutischen Praxis bewährtes Modell der Depression" ein.

4. Die daraus resultierende Rücksichtslosigkeit richtet sich grundsätzlich gegen Andere wie gegen sich selbst.

5. Näheres dazu habe ich an anderer Stelle skizziert (Heide 1999).

6. Da fast alles an Information uns ins Wohnzimmer geliefert wird, wir aber nicht die Spur einer Chance haben, "angemessen" auf die damit verbundenen Herausforderungen zu reagieren, wirkt allein die Massifizierung der Information demoralisierend (vgl. Postman 1993).

7. Das gilt z.T. auch in den Unternehmen in Südostasien und auch in der V.R. China, die durch japanisches koreanisches und taiwanesisches Kapital und deren Methoden des personnel management dominiert sind

8. Die Begriffe werden zunächst zur Kennzeichnung des Unterschieds zum "Fordismus" gebraucht (vgl. Kang 1995), werden aber an anderer Stelle noch weiter entwickelt.

9. Vgl. das Konzept der introjektiven "Identifikation mit dem Aggressor" (Ferenczi 1933, Hirsch 1986), zu dem ich mich an anderer Stelle in Bezug auf die koreanische Entwicklung geäußert habe (Heide 1997).

10. Genau da scheint mir auch der entscheidende Unterschied bei der Herausbildung des Toyotismus und später des Hyundäismus zu liegen, nämlich, dass es weniger zu verteilen gab, als in den traditionell industrialisierten Ländern. Das wird an anderer Stelle näher auszuführen sein.

11. Diese "Tradierung von Sucht" hat bei einigen Forschern den Fehlschluss nahe gelegt, Sucht sei "vererbbar", d.h. eine genetisch bedingte Veranlagung.

12. Vgl. dazu ausführlicher z.b: Fassel (1990) und - mit etwas anderer Schwerpunktsetzung - Richter et al. (1984).

* Anmerkung für den Übersetzer: "Dealer" steht hier für Drogenhändler.

 

Literatur:

Bartolomé, Fernando (1983): The Work Alibi: When it's harder to go Home. In: Harvard Business Review. March-April 1983.

Fassel, Diane (1990): Working ourselves to death. San Francisco.

Ferenczi, Sándor (1933): Sprachverwirrung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft. In: Schriften zur Psychoanalyse. Vol. 2.

Freud, Anna (1936/1980): Das Ich und die Abwehrmechanismen. In: Die Schriften der Anna Freud. Vol. I. München.

Gruen, Arno (1986): Der Verrat am Selbst. Die Angst vor Autonomie bei Mann und Frau. München.

Hatterer, Lawrence J. (1980): The Pleasure Addicts. The Addictive Process - Food, Sex, Drugs, Alcohol, Work,, and More. South Brunswick.

Heide, Holger (1999): Zur Bedeutung der Subjektivität für die südkoreanische Akkumulationsweise. In: Derselbe (Hg.): Südkorea - Bewegung in der Krise. Bremen

Heide, Holger (1997): The Creation of Individual and Collective Strategies of Survival as a Precondition for Capitalist Development - The Example of South Korea. In: Proceedings of the 5th Int'l Conference on Korean Studies. Osaka. Der Text kann auch nachgelesen werden auf meiner Homepage: http://www.wiwi.uni-bremen.de/seari.

Herman, Judith Lewis (1992/1993): Die Narben der Gewalt (Trauma and Recovery. Basic Books). München.

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Work Addiction – Outline of Some Theoretical Foundations

This research project is prompted by the supposition that in certain countries of East Asia work addiction assumes different forms to those in Europe and North America. This supposition, which has already been partially corroborated by talks and discussions held over the years in Korea and Japan, is now to be followed up in an empirical examination of lifetimes which will take into consideration the different societal relationships, such as the familial situation and personnel management at the workplace. In this paper I have compiled several theoretical reflections which may contribute towards defining an approach to the issues involved.

On the one hand work addiction is an addiction like any other, which would suggest incorporating the results of addiction theory in general. But in addition to this the high social acceptance of work addiction and the difficulty in avoiding the social coercion to work contribute greatly to the likelihood especially of work addiction.

To begin with I formulate some basic statements with regard to a social economic theory of addiction. The essence of addiction is seen as a reaction of fear to the destructiveness of capitalistic development. With regard to social custom, i.e. for passing on to the following generation the disposition to addiction, it is the phase of childhood development which is most crucial. Childhood fears, if they are not resolved, are capable of determining patterns of behaviour which prevail an entire lifetime. Psychic traumas experienced during adulthood, though, are also capable of exerting destructive influences.

The addiction to work as a specific form of addiction often occurs – encouraged by the modern "society of work" – because individuals already at a very young age they have learned that recognition is gained solely by means of work and performance. Thereby individuals perceive the "escape into work" as the sole means of self-estimation. As is true for every addiction, the addict unconsciously realises that his or her addictive action - in this case work - is nothing less than an attempt to avoid coming to terms with his or her Self. This leads to a process in which even an ever-increasing work load no longer suffices to shut off reality and he or she clutches to other, mostly intoxicating addictions, like alcohol, medicaments, or sex.

In the course of the proposed research project there will be a special focus on the relationship between the external coercion to work and the "internal" compulsion, and thus the process of internalisation and the role of the production process, personnel management, etc.

The consequences of work addiction for the individuals themselves, for the families, for enterprises and finally for society as a whole are outlined. The consequences for the prevention of and recovery from work addiction can only be touched on briefly in this paper. The fundamental prerequisite for recovery is in every case coming to terms with the own Self and facing up to reality, an essential aspect of which is the fundamental fear originates – at both the individual and the social level.

 


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