Neues Leiden
an der Arbeit
Interview: Cécile Pasche und Peter Streckeisen
Quelle: WoZ-Online, 11.03.99
WoZ: Gerade in linken Kreisen ist heute die Ansicht weit verbreitet, der Menschheit gehe aufgrund der technologischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte langsam aber sicher die Arbeit aus. In Ihren Texten vermitteln Sie aber einen ganz anderen Einblick in die Realität der Arbeitswelt. So zeigen Sie zum Beispiel auf, dass viele Leute heute immer mehr und vor allem immer intensiver arbeiten.
Christophe Dejours: Ich halte gar nichts von dieser These vom Ende der Arbeit. Was wir heute beobachten, ist eine Erosion der Vollbeschäftigung und einer gewissen Stabilität der Arbeitsverhältnisse. Gefährdet ist der Arbeitsplatz, nicht die Arbeit als solche. Mit der Art und Weise, wie die Arbeit volkswirtschaftlich quantifiziert wird, bin ich überhaupt nicht einverstanden, denn die formelle Arbeitszeit ist kein zufrieden stellendes Mass der beruflich relevanten Tätigkeit. Die Arbeitszeit am Arbeitsplatz schliesst nicht die gesamte Arbeit ein, die die Angestellten leisten müssen. Zum Beispiel sind heute die meisten von uns gezwungen, sich fortwährend weiterzubilden. Ein Techniker, der Waschmaschinen verkauft und repariert, muss ununterbrochen dazulernen, Dokumente über neue technische Anwendungen und Geräte lesen. Wann tut er das? Am Arbeitsplatz hat er keine Zeit, denn er muss ja möglichst viel Umsatz machen. Also lernt er zu Hause, nach Feierabend. Ich sehe keinen Grund zu der Annahme, dass uns nächstens die Arbeit ausgehen könnte. Viele Leute arbeiten, ohne dafür bezahlt zu werden und ohne entsprechenden Status. Es sei hier nur die steigende Anzahl PraktikantInnen als Beispiel genannt. Und unter dem Druck von Flexibilisierung, Arbeitslosigkeit und Leistungslohn arbeiten jene, die einen Job haben, immer intensiver. Die SpezialistInnen verzeichnen viele Anzeichen neuer und tragischer Formen arbeitsbedingten Leidens, neuerdings auch Fälle von Selbstmord am Arbeitsplatz. Das ist ein bisher kaum bekanntes, erschütterndes Phänomen!
Bedeutet Arbeit nur Leiden und Entfremdung? Für viele ist es doch die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit, die ihnen Selbstvertrauen und Identität verschafft, und Momente persönlicher Erfüllung am Arbeitsplatz sind nach wie vor wichtig im Leben der meisten ZeitgenossInnen.
Richtig. Diese Frage ist von grosser Bedeutung, denn hinter jeder Form arbeitsbedingten Leidens steckt eine Identitätskrise. Für nicht wenige ist die Arbeit eine Art zweite Chance, um sich eine ansprechende Identität und ein gewisses Selbstvertrauen zu erarbeiten. Manche Leute stufen sich selbst spontan als stark, gut gebaut, schön und intelligent ein, aber die meisten haben ein zerbrechliches, unsicheres Verhältnis zu sich selbst. Da wir also Mühe haben, uns selbst zu mögen, versuchen wir unsere Identität auf das Urteil und den anerkennenden Blick anderer zu gründen.
Das kann zum Beispiel im Bereich von Liebe und Erotik geschehen: in der Liebe Erfüllung seiner selbst zu finden, ist das nicht schön? Doch leider ist dies für viele von uns nicht einfach: Was Liebe und Sexualität betrifft, leiden wir unter Hemmungen und Tabus. Deshalb funktioniert die Erfüllung in der Liebe bei manchen ZeitgenossInnen nicht so gut, und die Arbeit ist dann eine zweite oder dritte Chance. Die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit erlaubt es, ein positives Selbstverständnis aufzubauen.
Aber wie ist das denn möglich, wenn Arbeit heute vor allem Schmerz, Leiden und Entfremdung bedeutet, wie Sie eingangs selbst erwähnt haben?
In der Tat bringt Arbeit immer Leiden und unliebsame Belastung mit sich. Denn Arbeiten bedeutet zwangsläufig, immer wieder von neuem die Erfahrung zu machen, dass nichts wie vorgesehen funktioniert. Selbst am Fliessband genügt es nicht, einfach Vorschriften auszuführen. Wenn alle ArbeiterInnen nur das täten, dann käme die Produktion rasch zum Stillstand!
Das häufige Auftreten psychopathologischer Symptome bei Langzeitarbeitslosen scheint Ihre Analyse von der zentralen Bedeutung der Identitätsbildung durch berufliche Tätigkeit zu bestätigen.
Wer seine Stelle verliert, verliert mit dem Recht auf Arbeit auch das Recht, einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten und damit die Möglichkeit, eine gewisse Anerkennung zu erlangen. Langzeitarbeitslose verlieren etwas, was im Leben von grosser Bedeutung ist: das Gefühl, der Gemeinschaft nützlich zu sein. Die Leute wollen nicht einfach nichts tun. Die meisten von uns wollen arbeiten. Nicht um sich selbst wehzutun, sondern weil sie sich im Gegenzug Anerkennung erhoffen.
Seit einigen Jahren wird der Arbeitsmarkt im Rahmen des neoliberalen Umschwungs grundlegend restrukturiert: Flexibilisierung, Arbeitslosigkeit, prekäre Arbeitsverhältnisse, Leistungslohn und Out-sourcing sind zu Tagesthemen geworden. Welche Auswirkungen hat die Einführung von Evaluationsmethoden am Arbeitsplatz?
Ich bin ein entschiedener Gegner dieser Evaluationsmethoden. Ihr Hauptziel ist es, den Leuten Angst einzuflössen. Aufgrund der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und der Massenarbeitslosigkeit basiert das ganze System auf der Angst, entlassen zu werden oder nicht durchzuhalten. In dieser Situation ist die Evaluation eine Drohung, ein Zwang, individuelle Rentabilität unter Beweis zu stellen. Dieser Rentabilitätszwang läuft den traditionellen Kriterien der Anerkennung zuwider: was gesellschaftlich nützlich ist, ist nicht unbedingt rentabel. Wie kann man zum Beispiel die Rentabilität eines Psychiaters oder einer Sozialarbeiterin messen ?
Die Evaluation führt in vielen Fällen zu einem Orientierungsverlust der Beschäftigten, die nicht mehr genau wissen, nach welchen Kriterien sie arbeiten sollen. Oft ist zum Beispiel im öffentlichen Sektor die Anzahl behandelter Dossiers als Bewertungsmassstab vorgesehen. Aber manchmal gibt es Dossiers, die lang und komplex sind, weil es sich um einen schwer zu behandelnden Patienten oder um einen Arbeitslosen handelt, der sich in einer tragischen Situation befindet. Die Behandlung solcher Fälle erfordert viel Zeit, und gewissenhaft arbeiten bedeutet daher, weniger Dossiers zu behandeln und ein schlechteres Evaluationsresultat in Kauf zu nehmen.
In Wirklichkeit ist die Evaluation der Arbeit ein Ding der Unmöglichkeit. Das Entscheidende an der Arbeit ist die spontane Mobilisierung der Kreativität und Intelligenz der Beschäftigten, um unvorhergesehene Schwierigkeiten zu überwinden. Doch all dies gehört in den Bereich des Unsichtbaren: Man kann Subjektivität, Kreativität, Leiden und Befriedigung nicht sehen. Die Evaluation des Unsichtbaren ist unmöglich. Es handelt sich um eine Pseudowissenschaft, die dazu dient, die Angestellten unter Druck zu setzen.
Da es nicht möglich ist, die Arbeit als solche zu bewerten, misst man das Verhältnis von Arbeitsresultat und Arbeitszeit. Die Leute haben Angst vor der Evaluation und arbeiten immer mehr und immer intensiver. Daher ein Anstieg diverser Symptome arbeitsbedingter physischer und psychischer Störungen.
Ist die Einführung dieser Evaluationsmethoden nicht Teil einer gesamtheitlichen Veränderung der Arbeits- und Produktionsverhältnisse? Was ist denn anders geworden, und welche neuen Leidensformen am Arbeitsplatz lassen sich heute beobachten?
Geändert hat sich die Art der Unternehmensführung an sich. Das grundlegende Prinzip der Personalpolitik fusst heute auf ständiger Drohung und Infragestellung der Löhne, Arbeitsverhältnisse und Arbeitsplätze. Damit ändert sich die Bedeutung der Mühen und Leiden der ArbeiterInnen. Früher wurde schlechtes Verhalten des Arbeitgebers öffentlich verurteilt. Alle wussten, was rechtens ist und was nicht. Und wenn es gelang - was nie einfach war! -, eine Verletzung des Arbeitsrechts nachzuweisen, dann wurde der Schuldige verurteilt. Heutzutage benehmen die Arbeitgeber sich schlecht gegenüber ihren Beschäftigten, und sie werden dafür auch noch gelobt. Entlassungen, Überstunden, niedrige Löhne, Out-sourcing: gut so!
Diese Veränderungen bringen eine neue Form von Leiden am Arbeitsplatz hervor, eine Art ethischen Leidens. Heute verlangt man im Unternehmen von den Beschäftigten, Dinge zu tun, die ihnen moralisch zuwiderlaufen. Kader müssen Leute entlassen, mit denen sie jahrelang zusammengearbeitet haben. Angestellte müssen an Evaluationsverfahren teilnehmen, die zu Entlassungen führen. Viele ArbeiterInnen sehen sich gezwungen, ihren KollegInnen auf unfaire Art und Weise zuvorzukommen, um den eigenen Arbeitsplatz zu verteidigen ... Heute lernen wir bei der Arbeit, unseren Teil zur sozialen Ungerechtigkeit beizutragen.
Doch da die meisten von uns über ein Minimum an moralischem Sinn verfügen, provoziert diese Situation eine spezifische Form von Leiden, einen moralischen und affektiven Konflikt mit sich selbst. Und hinter diesem Leiden steckt eine tragische Identitätskrise. Denn wenn ich zusehen muss, wie mein Kollege vom Chef schlecht behandelt oder entlassen wird, und wenn ich zudem weiss, dass er es überhaupt nicht verdient, und ich unternehme trotz alledem nichts und schweige, dann weiss ich tief in mir drin, dass ich eigentlich ein Feigling bin. Und wenn ich mich für einen Feigling halte, verliere ich an Selbstvertrauen, und ich verliere auch das Vertrauen in die anderen, die sich ja genauso wie ich verhalten. Dieses spezifische ethische Leiden, dieses Bewusstsein, ein Feigling zu sein, lässt sich nicht mit Widerstand oder kollektiver Aktion vereinbaren.
Gibt es eine Möglichkeit, aus diesem Teufelskreis auszubrechen? Wie kann die Linke auf diesem Gebiet aktiv werden und in die Offensive gehen? Ist es nicht so, dass die ArbeitgeberInnen die Bedeutung dieser Fragen weit besser in den Griff gekriegt haben als die Gewerkschaften?
Diese neuen Leidensformen, dieses ethische Leiden, zwingt heute die Leute dazu, spezifische Schutzmechanismen zu entwickeln. Letztere erlauben es ihnen wohl, wie bislang weiterzuarbeiten, indem sie das Leiden anderer nicht mehr wahrnehmen. Doch ermöglichen sie so erst das weitere Funktionieren des Systems, auf dem Leiden und Ungerechtigkeit beruhen, und stellen ein Hindernis für kollektiven Widerstand dar. Um aus diesem Teufelskreis der Verharmlosung sozialer Ungerechtigkeit auszubrechen, ist es notwendig, dass dieses Problem als zentrales Thema politischer und gewerkschaftlicher Reflexion gemeinsam angegangen wird. Die Gewerkschaften müssten zum Beispiel den ArbeiterInnen Möglichkeiten bieten, sich zu ihrem eigenen subjektiven Erleben des Arbeitsalltags anderswo als im offiziellen Betriebsbulletin frei äussern zu können und mit ihren KollegInnen darüber zu diskutieren.