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Updated: 18.12.2012 15:51
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Obszönes (Fuß-)volk*

Stellungnahmen zu den Montagsdemonstrationen

Zu den Montagsdemonstrationen haben wir Bernd Gehrke, Renate Hürtgen und Klaus Wolfram [1] jeweils unabhängig ein paar Fragen gestellt. Alle drei gehörten in der DDR zur Opposition; 1989 waren sie in unterschiedlichen Gruppen aktiv: Bernd Gehrke gehörte zu den Gründern der Initiative für eine Vereinigte Linke, Renate Hürtgen war Mitbegründerin der Initiative für Unabhängige Gewerkschaften, und Klaus Wolfram war im Landessprecherrat und in der Programmkommission des Neuen Forums tätig und hat am Runden Tisch für einen Verfassungsentwurf mitgearbeitet. Alle drei zählen heute wieder zur gesellschaftlichen Opposition, denn »das war doch nicht unsere Alternative« – so ihr Resümee zehn Jahre nach der Wende. [2]
Wir wollten von ihnen wissen, ob sich in den Montagsdemonstrationen etwas spezifisch »Ostdeutsches« ausdrückt, das mit den eigensinnigen Erfahrung des Lebens in der DDR zu tun hat. Es geht darum, ob die gesellschaftliche Dynamik der DDR trotz der staatlichen Repression auch, wie z.B. Klaus Wolfram in seiner »Geschichte des guten Willens« [3] und Wolfgang Engler in seiner »Kunde aus einem verlorenen Land« [4] schreiben, eine emanzipatorische Seite hatte, die im Herbst 1989 für einen kurzen historischen Moment praktisch wurde, sich dann aber von der bundesrepublikanischen Politik und deren Versprechungen und Illusionen überrollen ließ. Die Frage nach der Einschätzung der Montagsdemonstrationen im Osten zieht unseres Erachtens die Frage nach der Einschätzung von 1989 und den DDR-Erfahrungen nach sich. Könnten die Ostdeutschen plötzlich doch die »Avantgarde« [5] einer so lange ersehnten sozialen Bewegung in der Bundesrepublik sein? Oder wird der »Spuk« bald wieder zu Ende sein?

 

Was hast Du von den Montagsdemonstrationen bis jetzt mitbekommen? Wer macht dort mit? Sind es die gleichen Leute wie 1989? Wie ist die Stimmung?

Klaus Wolfram: Die Teilnehmer sind gemischt wie ’89, aber es sind nicht so viele. Die Stimmung reicht von sauer bis befreiend; die wiedergefundene Aktivität gibt etwas Würde zurück.

Renate Hürtgen: Berlin hat am 16. August zum ersten Mal demonstriert – interessanterweise genau wie vor 15 Jahren erst, nachdem Leipzig und andere Städte im Süden die Montagsdemos begonnen hatten. Wie auch immer: die Beteiligung und die Atmosphäre waren beeindruckend. Vielleicht für meine Westberliner Freunde noch beeindruckender. Ich sah viele mit leuchtenden Augen und ganz aufgeregt durch die Menge laufen, denn für sie war das wahrscheinlich die erste Demonstration mit Mehrheitsbeteiligung durchs »Volk«. Ich denke, es waren vielleicht 1000 oder 2000 Vertreter linker Gruppen, dann noch einmal ein paar Tausend von etablierten Parteien etc., und der »Rest« waren eben SekretärInnen, VerkäuferInnen, ArbeiterInnen, viele WissenschaftlerInnen, die ich aus früheren Zeiten kenne – und vor allem Arbeitslose. Die meisten aus dem Osten. Kurz: Es waren tatsächlich genau die Leute von 1989. Wenn ich mal weglasse, dass die Demoführung im Machtkampf zwischen verschiedenen Gruppen hier in Berlin dazu geführt hat, dass tatsächlich die Falschen die Lautsprecherhoheit hatten, war es einfach toll: Die Macht lag auf der Straße – mit allen Unwegsamkeiten, die dazu gehören.

Bernd Gehrke: Den Beginn habe ich nur über die Medien und Berichte von Freunden mitbekommen. Am 16. August war ich auf der Dresdener Montagsdemo dabei. Da waren ca. 7-8000 Leute, von meinen Freunden in Berlin und Leipzig weiß ich, dass bei den jeweils 20000 bzw. 30000 Menschen ebenso wie in Dresden natürlich jede Menge »normales Volk« dabei war. In Berlin waren am 23. August mehr als 30000 Leute da, ver.di, IGM, IG Bau und DGB sehr stark präsent. Mein Gesamteindruck ist, dass den Kern der Organisatoren und der Demonstranten vor allem jene bilden, die auch in den letzten Jahren ähnliche Demos zu ähnlichen Themen durchgeführt haben. Das ist im Osten tendenziell eine Mischung aus denjenigen DDR-Bürgerrechtlern und Kirchenleuten, die bei der »Stange« geblieben sind, sich also immer noch für die alten Ziele von ’89 engagieren, von PDSlern, Gewerkschafts- und anderen Teilen der »sozialen Linken«. Die sichtbaren Fahnen und Texte auf den Plakaten kommen von DGB, IGM, PDS und attac. Auch die MLPD ist präsent. Hinzu kommt aber ein großer Zulauf durch wirklich empörtes und verängstigtes Volk, welches dominiert und viele selbstgefertigte Plakate und Transparente mitbringt. Die Demos haben wieder ein ganz anderes Gesicht als bei den sonst üblichen linken Demos, sie sind durch die »normalen« kleinen Leute geprägt. Das und ihre Empörung erinnert mich schon an ’89. Auch die Reden am »offenen Mikrofon«. Dort werden neben den Vorstellungen von Sozialinitiativen usw. die unterschiedlichsten, zum Teil ganz wirren und gegensätzlichen Vorstellungen geäußert. Die Empörung zeigt sich auch darin, dass die Leute zuhauf kommen, obwohl es keine vorgegebenen organisierten Strukturen für sie gibt.

Einige ehemalige Bürgerrechtler, wie die CDU-Abgeordnete Vera Lengsfeld oder Joachim Gauck, kritisieren die Demonstrationen ganz ähnlich wie Wolfgang Clement, indem sie behaupten, hier werde die Bürgerbewegung von 1989 »instrumentalisiert«, denn damals sei es um Freiheit gegangen (FAZ, 10. August 2004), während es jetzt um soziale Fragen geht. Pfarrer Christian Führer aus Leipzig sagt dagegen, dass »Teil zwei von 1989 noch aussteht« (FR, 9. August 2004), womit er anscheinend genau diese soziale Fragen von Gleichheit, Gerechtigkeit etc. meint. Was meinst Du dazu?

Klaus Wolfram: Schon richtig, dass 1989 auf halbem Wege stehen blieb. Vor allem die CDU-Wähler von 1990 hofften, die Arbeit der gesellschaftlichen Erneuerung könnte ihnen abgenommen oder auf dem Geldwege erledigt werden. Mit ihrer Hilfe wurde die andere, klügere Hälfte der ostdeutschen Bevölkerung überstimmt und auch die Stagnation in den alten Teilen der Republik noch einmal verlängert.

Renate Hürtgen: Eigentlich ist es zum Lachen: Da haben diese Bürgerrechtler die Seiten gewechselt, sind staatsmännisch geworden und haben einfach Angst vor dieser Bewegung. Interessant ist, dass die nicht staatsmännisch Gewordenen – trotz unterschiedlicher politischer Entwicklungen – sich ganz spontan hinter die Demonstranten gestellt haben. Allerdings – und das macht mich ganz verrückt – haben wir als vereinzelte Reste der nichtetablierten Bürgerbewegung bisher keine Signale gesetzt – vielleicht gelingt es noch.

Bernd Gehrke: Die Behauptung einer »wahren freiheitlichen Montagsdemonstration«, die heute missbraucht würde, ist aus mehreren Gründen reaktionärer ideologischer Quark. Zunächst zeigt der Einwand des Missbrauchs der Montagsdemos ja nur die bornierte konservativ-bürgerliche Freiheitsauffassung, die bloß eine einzige Dimension der Freiheit kennt: die politische von Staatsbürgern mit bürgerlich-demokratischen Grundrechten. Die ökonomische Unterdrückung von Klassen oder die geschlechterhierarchische von Frauen haben diese Leute nicht im Kopf, soziale oder geschlechtliche Emanzipation und auch dem entsprechende weitere Rechte werden als Dimension realer Freiheit ignoriert. Hätten die Bürgerrechtler, die heute die Montagsdemos kritisieren, noch einmal in die UNO-Menschenrechtscharta geschaut, auf die sie sich früher ja berufen hatten, so könnten sie wissen, dass soziale Menschenrechte dort ebenso sehr als Bestandteil der Menschen- und Freiheitsrechte aufgezählt werden. Davon abgesehen, gerieren sie sich heute so borniert und dogmatisch wie die damals von ihnen kritisierte SED-Politbürokratie, die ebenso verblendet zu wissen meinte, was eine »wahre Liebknecht-Luxemburg-Demo« zu sein habe. Im Falle von Vera Lengsfeld ist das geradezu eine witzige Konstellation, sie wurde nämlich wegen ihrer Teilnahme an der Liebknecht-Luxemburg-Demo 1988 und ihrem dortigen Bekenntnis zu Rosa Luxemburgs Credo von der »Freiheit der Andersdenkenden« verhaftet und aus der DDR hinausgeworfen. Außerdem war sie bis 1988 in der linken Gruppe Gegenstimmen, die sich gerade wegen ihres soziale Rechte integrierenden Menschenrechtsverständnisses von dem eher linksliberalen Menschenrechtsverständnis der Initiative für Frieden und Menschenrechte un-terschied.

Aber mit diesen Leuten heute ernsthaft über deren Ansichten in dieser Sache zu sprechen, lohnt sich nicht – gut bezahlt, etabliert und geschichtsfälschend, wie sie sich präsentieren. Unter dem Aspekt des politischen Schadens für die heutige und künftige soziale Bewegung sowie für die Erinnerungspolitik bezüglich der 89er Demokratiebewegung muss ihre konservative Attacke allerdings öffentlich zurückgewiesen werden. Die Auseinandersetzung sollte nicht nur ihrem reaktionär-bürgerlichen Freiheitsbegriff gelten, sondern auch ihrer Geschichtsklitterung. Der Kampf um Gegenwart und Zukunft ist schließlich immer auch ein Kampf um die Vergangenheit. Diese Leute unterschlagen einfach, für welche Ziele im Herbst 1989 gerade die Bürgerbewegungen und politischen Gruppen aus der Opposition, auch die, denen sie selbst angehört hatten, das Neue Forum und die Grüne Partei der DDR, auf die Montagsdemos gegangen sind: nämlich für eine radikal demokratische und soziale DDR sowie eine »sozial-ökologische Marktwirtschaft« als Alternative nicht nur zur SED, sondern auch zur BRD. Da gab es in mancherlei Hinsicht andere als meine Vorstellungen, aber auf jeden Fall solche, die sich keineswegs auf rein bürgerliche politische Freiheiten beschränkten und zu-dem den heutigen neoliberalen Gesellschaftsvorstellungen konträr entgegengesetzt waren. Der liberal-bürgerliche Flügel des Neuen Forum hatte sich deshalb und wegen des Festhaltens der Mehrheit des Neuen Forum am basisdemokratischen Gedanken der Bürgerbewegung als Alternative auch zu den Parteien als Forumpartei abgespalten und wurde dann ein Teil der FDP. Wirtschaftsdemokratie, eine gemischte Eigentumsstruktur, öko-alternativ-genossenschaftliche und Vorstellungen einer sozialen und ökologischen Regulation des Marktes waren dort fast allgegenwärtig. Man schaue sich auch die Sozialcharta des Runden Tisches an, die schon mit dem Blick auf die kommende Kohl’sche Wiedervereinigung gemacht wurde. Wegen solcher Ziele waren ja auch alle Bürgerbewegungen gegen die damalige Wiedervereinigung, nicht nur die Initiative Vereinigte Linke, der ich angehörte. An diese weit über die Einforderung bürgerlich-demokratischer Rechte hinaus gehenden politischen Ziele der Bürgerbewegungen muss man sich erinnern, um zu verstehen, weshalb Christian Führer, der Pfarrer der Nikolaikirche in Leipzig, meint, dass die soziale Dimension von 1989 noch eingelöst werden und auf die demokratische Revolution nun die soziale folgen müsse. Übrigens hatten sich bereits vor zwei Jahren Dutzende ehemaliger »DDR-Bürgerrechtler« mit ihrer Erklärung »Wir haben es satt« [6] eben in diesem Geiste massiv gegen die unsoziale Politik, aber auch gegen alle anderen gebrochenen Versprechen von Rot-Grün ausgesprochen.

Dennoch will ich aber auch hervorheben, dass die Äußerungen der oben Genannten auch nicht zufällig sind, denn ein wichtiger Teil der damaligen Bürgerbewegungen hat die Brisanz der sozialen und wirtschaftlichen Fragen schon damals unterschätzt und sein praktisches Interesse auf Stasi und rein politische Aspekte beschränkt. Erwähnt werden muss auch, dass die nächsten Montagsdemos nach der Wiedervereinigung be-reits im März 1991 gegen die Kohl’schen Wahlkampflügen, angedrohte Massenentlassungen und die Steuerlüge entstanden, auf Druck der Leipziger Betriebsräte. Seither gab es immer wieder Montagsdemos, z.B. gegen den Kosovo- oder gegen den Irakkrieg.

Ich bin sehr froh über Christian Führer und alle Leute aus dem alten Oppositionsspektrum, die die Tradition des Kampfes für eine demokratische Alternative zur stalinistischen Diktatur 1989 mit der heute notwendigen Verteidigung sozialer Rechte verbinden. Das ist doch das Beste, was freiheitlichen Sozialisten schließlich passieren kann, dass in den Köpfen der Menschen heute zugleich das Bewusstsein der eigenen demokrati-schen Revolution auf den Straßen gestern mit den heutigen sozialen und politischen Kämpfen gegen Neoliberalismus und Kapitalismus verbunden wird. Langsam beginnen sich jetzt auch andere »Ost-Bürgerrechtler« unterstützend für die Montagsdemos zu formieren. Die heutigen Montagsdemos sind eine gute Gelegenheit, sich zum 15. Jahrestag der demokratischen Revolution an die Ziele der Bürgerbewegungen von 1989 zu erinnern und sie in die öffentliche Debatte einzubringen.

Ist eine solche Trennung der Freiheit von sozialen Forderungen vor dem Hintergrund der Erfahrung eines Lebens in der DDR sinnvoll oder verständlich?

Klaus Wolfram: Sie trifft im Osten auf noch größere Ablehnung als vielleicht im Westen. Gerade der Aufbruch in der DDR hatte einen gesamtgesellschaftlichen Anspruch an die Demokratie. Demokratisierung meinte Selbstverantwortung. Jetzt wieder mit politischen Phrasen die Enteignung und Entmündigung zuzudecken, geht nicht. Nicht nur wegen der mehr oder weniger schlechten Erfahrungen seit 1991, sondern auch wegen der guten von ’89 und dem Weg dahin.

Renate Hürtgen: Mir ist diese Trennung in soziale und politische Forderungen fremd. Die Vergleichbarkeit der Situation entsteht doch aus Dreierlei: Erstens ist es eine wunderbare Osterfahrung, mit Massenbewegungen Regierungen ins Wanken zu bringen, zweitens kann diese Breite des Protestes nur entstehen, weil damals wie heute der gemeinsame Nenner sehr klein ist: Es reicht! Und drittens haben die Demonstranten damals wie heute nicht in so’ne und solche Forderungen unterschieden. Sie haben Existenzangst, und sie sehen eine kleine Hoffnung im Aufbegehren – das macht die Stimmung vergleichbar.

Bernd Gehrke: Eine konzeptionelle Trennung politischer und sozialer Rechte ist nicht sinnvoll, obgleich es in verschiedenen historischen Situationen natürlich eine unterschiedliche Relevanz für die eine oder andere Seite gibt. Zur Verwirklichung der Reisefreiheit brauche ich eben sowohl das politische Recht als auch das notwendige Kleingeld. Im Vordergrund standen 1989 zunächst klassische politische, demokratische Freiheitsrechte, aber sie waren in der Realität ganz eng verzahnt mit den dann geäußerten materiellen Zielen der Menschen. An erster Stelle stand bei ihnen nicht einmal die »Westbanane«, sondern der katastrophale Verfall der Betriebe und der Städte, auch die katastrophale ökologische Situation. Das betraf die gesamte Lebensperspektive. Wegen dieser zweiten Dimension wurde die »Wende« von den 89er Bürgerbewegungen auch verloren gegenüber Kohl und Co. Die »D-Mark-Frage« war vor allem eine soziale Frage, die von den Bürgerbewegungen nicht rechtzeitig und eher moralisch als praktisch-politisch beantwortet wurde, während ein großer Teil der in der DDR aufgewachsenen Bevölkerung das Geld als soziale Gewalt unterschätzt hat. In der DDR hatte diktatorische Herrschaft eben ein etwas anderes Aussehen als im westdeutschen Kapitalismus.

Seit 1990 wurden immer mal wieder Umfragen in der Bundesrepublik gemacht, in denen u.a. gefragt wurde, was den Menschen wichtiger sei, die Freiheit oder die Gleichheit. Die Sozialwissenschaftler stellten immer wieder fest, dass den Westdeutschen die Freiheit, den Ostdeutschen aber die Gleichheit wichtiger sei. Wo-her kommt die ausgeprägte Gleichheitsvorstellung der DDR-Bürger?

Klaus Wolfram: Es war die Lebensform mindestens der letzten zwei Jahrzehnte in der DDR. Ohne dass es immer begriffen oder gar begrüßt worden wäre, glich sich die soziale, politische und mentale Situation der meisten Bevölkerungsgruppen immer mehr an. Die gleiche soziale Stellung fast aller DDR-Bürger führte zu ihrer Verständigung untereinander, weit über frühere Gruppen- und Klassengrenzen hinaus; und die dabei aufgedeckte Gemeinsamkeit wurde besitzergreifend. Unterhalb und innerhalb der Planwirtschaft entstand so etwas wie Gegenaneignung. Das Improvisieren, »Besorgen« und »Organisieren« war nicht nur eine erlittene Erfahrung, sondern wurde eine Bewegung, die alle Bereiche der Gesellschaft durchdrang. Die diktatorische Form barg zuletzt einen ganz anderen sozialen Inhalt und der hat sie auch gesprengt. Eben daraus erwuchs die landesweite Bewegung und Selbstorganisation von ’89. Die 15 Jahre Bundesrepublik haben das Lebendige dieser Gleichheit negativ, wie ein Kontrastmittel, bestätigt.

Renate Hürtgen: Das ist sicher ein interessantes Phänomen, dass »den Ostdeutschen« die gleiche Behandlung – oder besser: die »gerechte« Behandlung – so wichtig ist. Allerdings unterscheidet sie das nicht so sehr von den Lohnarbeitern bei Euch. Es ist eine typische Lohnarbeiterforderung, die sich übrigens durch Jahrhunderte zieht. Man könnte auch sagen: Die Mittelschichtenideologie des »Jeder ist seines Glückes Schmied« hat nicht so recht Fuß fassen können in der »Arbeitsgesellschaft« DDR – das wirkt sich bis heute aus.

Bernd Gehrke: Zunächst einmal will ich solche Umfragen zwar nicht in ihrer Aussage-Tendenz bestreiten, sie aber doch relativieren. Zumeist bleiben zwei Aspekte unberücksichtigt: zum einen die unterschiedliche soziale Zusammensetzung der Bevölkerungen in Ost- und Westdeutschland. Seit der Teilung Deutschlands 1945 war Westdeutschland immer bürgerlicher als Gesamtdeutschland. Auch nach 1990 war der Anteil traditioneller industriearbeiterschaftlicher Milieus in Ostdeutschland höher als im Westen. Die Frage, ob die Arbeiterschaft im mitteldeutschen Industriegebiet egalitärer denkt als die im Ruhrpott, wurde so nie gestellt. Es ist aber wahrscheinlich. Die Nomenklatura als die herrschende Kaste in der DDR war auf jeden Fall ega-litärer organisiert als die westdeutsche Bourgeoisie und die dortige kleinbürgerliche Mittelschicht, die es ebenfalls in ihrer traditionellen Form in der DDR nur noch rudimentär gegeben hatte. Auch hatte sich in den 90er Jahren, als diese Untersuchungen gemacht wurden, die real-praktische Bedeutung von Egalitätsproblemen dramatisch für die ostdeutsche Bevölkerung erhöht, als wegen der Vernichtung der ostdeutschen Industrie innerhalb kürzester Frist eine drastische Spaltung bisheriger Sozialverbände erfolgte. 1989 stand jedenfalls für die ostdeutsche Bevölkerung nicht die Gleichheit im Vordergrund ihrer Bestrebungen, sondern die fehlende Freiheit und dann, im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung, eine nackte »Rette-Sich-Wer-Kann-Mentalität«. Diese war ganz und gar unegalitär und unsolidarisch.

Dennoch gilt natürlich, dass die DDR-Gesellschaft weitaus egalitärer strukturiert war als die westdeutsche und dass sich die traditionell egalitären Werte der Arbeiterschaft hier auch in anderen Schichten weiter verbreitet hatten als in Westdeutschland, etwa in der Intelligenz. Hinzu kommt, dass Erfahrungen wie Erwerbslosigkeit oder sozialer Absturz nach der Vereinigung trotz aller sozialen Differenzierungen doch massenhafte waren und egalitäre Werte eher stabilisiert haben, statt sie aufzulösen.

Der DDR-Bürgerrechtler Hans-Jochen Tschiche hat in einem Interview in der FR (11. August 2004) gesagt, dass Hartz IV »eher der Anlass als die Ursache« der Proteste sei, und beschreibt, dass die Menschen im Osten seit 1989 die Erfahrung machen mussten, »dass Teile ihrer Biografie für westliche Augen suspekt waren« und dass sie angesichts der »Deindustrialisierung« und der entsprechenden Entwicklung des Arbeitsmarkts im Osten die letzten Jahre als »permanente Demütigung« und »Enttäuschung« erfahren hätten. Darüber habe sich dieser Zorn angestaut, »der sich nun aus dem relativ geringen Anlass Hartz IV entlädt«. Teilst Du diese Interpretation?

Klaus Wolfram: Ja, Hartz IV ist der Anlass, nicht der ganze Inhalt. Zu dem ganzen Inhalt ist meines Erachtens der Weg noch weit. Das ist jener gesellschaftliche Umbau, der ’89 auf beiden deutschen Seiten umgangen wurde, aber heute mit anderer Ausgangslage beide Teile wieder, oder besser: immer noch, betrifft. Es geht um eine Erneuerung – warum nicht auch der Sozialsysteme –, die den Mehrheiten [7] in allen ge-sellschaftlichen Bereichen Zutritt und Verantwortung verschafft. Ohne reale Selbstbestimmung bricht die allgemeine Blockade-Haltung nie auf. Man könnte sagen, es geht um weitere Vergesellschaftung der Demokratie. Die Erfahrung der letzten anderthalb Jahrzehnte ist doch die ihrer Entgesellschaftung und der Entsolidarisierung – im gesamten Bundesgebiet.

Renate Hürtgen: Wahrscheinlich, finde ich aber ziemlich unwichtig. Vielleicht ist das für »den Kanzler« interessant, für mich nicht!

Bernd Gehrke: Ich denke, dass Tschiche die Dramatik von Hartz IV unterschätzt. Die Ängste, die hier zu Recht bestehen, haben sich bei den Ostdeutschen z.B. in massiven Abhebungen ihrer Ersparnisse von ihren Bankkonten niedergeschlagen. Das hat nichts mit den sonstigen Demütigungen zu tun, sondern mit der realen Bedrohung. Aber natürlich mischt sich das mit den Erfahrungen von Demütigung und Perspektivlosigkeit, in die Ostdeutschland gestoßen wurde, so dass viele Menschen sagen: »Jetzt reicht es!«

Richtet sich der Unmut speziell gegen die Sozialdemokratie oder gegen alle Parteien bzw. gegen den parteienübergreifenden Konsens in Sachen Sozialabbau?

Klaus Wolfram: Ich glaube, in Ostdeutschland gilt eher das letztere; in der alten Bundesrepublik vielleicht das erste.

Renate Hürtgen: Was ich so gehört habe, gegen alle Parteien. Da liegt natürlich auch die Gefahr, dass sich Rechte in den Zug mischen, die »gegen die Bonzen« wettern. Mein Gefühl war, dass bei dem Slogan: »Wer hat uns verraten? – Sozialdemokraten! Wer ist mit dabei – die grüne Partei! Und wer macht uns Stress – die PDS!« eine allgemeine Zustimmung herrschte.

Bernd Gehrke: Mein Eindruck ist, dass er sich gegen »die ganze Politik von denen da oben richtet«, die »doch alle nur lügen«. Auf den Demos wurde in diesem Sinne die Losung gerufen: »Ob Rot, ob Schwarz, wir wollen keinen Hartz!«

Die Bundesregierung hat jetzt an ein paar wenigen, besonders schmerzhaften Punkten »nachgebessert«, also das Gesetz entschärft. Wie schätzt Du die nächsten Monate ein? Werden die Proteste anhalten?

Klaus Wolfram: Da die Änderungen am Hartz-Prinzip, die Staatskasse am unteren Viertel der Gesellschaft sanieren zu wollen, nichts ändern und dieses Prinzip nur der Anlass ist, wird’s wohl weitergehen.

Renate Hürtgen: Ich hoffe. Es wäre jetzt wichtig, ein paar konkrete Forderungen zu formulieren, die zwar nicht das System stürzen, aber einen Erfolg versprechen. Es geht um die unmittelbare Alternative. Ich könnte mir vorstellen, dass die Aussetzung von Hartz IV ein gutes Ergebnis wäre, um dann – aber erst nachdem dieser Gedanke in die Köpfe kommen konnte – eine Grundsicherung zu fordern. Dieser Protest ist kein anti-kapitalistischer, sondern einer, der sich in den Grenzen des Kapitalismus bewegt und einen »menschlicheren« fordert. Aber selbst dafür braucht es Zivilcourage.

Bernd Gehrke: Die ersten Korrekturen werden nur als Erfolg durch den Druck verstanden, sie sind es ja auch. Das motiviert zum Weitermachen. Im Osten wird die Bewegung vermutlich noch zunehmen, und ich hoffe, es gelingt, sie zu verstetigen. Das lässt sich bei einer spontanen Bewegung natürlich schwer vorher sagen. Einen nächsten Schub dürfte es auf jeden Fall geben, wenn die ersten richtigen ALG II-Bescheide vorliegen. Vor allem muss es gelingen, diese Bewegung in den Westen zu tragen.

Teilst Du die Befürchtung, dass die Montagsdemonstrationen auch von Rechten instrumentalisiert werden können?

Klaus Wolfram: Keineswegs. Dagegen wusste sich die Bewegung 1989 auch zu schützen, und jede Demonstration mit einem über sich selbst hinausgreifenden Anliegen kann das. Die wiedergefundene Aktivität kennt auch heute einen weiteren Horizont als die engstirnige Rechte.

Renate Hürtgen: Nein, instrumentalisiert wird sie sicher eher von einer »Wahlinitiative«. Aber die liegt ja eh in der Luft, und ich würde die Situation auch nutzen, wenn ich eine neue Partei anbieten wollte.

Bernd Gehrke: Im Moment nicht, denn die bisherigen Demo-Organisationen liegen vorwiegend in den Händen von Linken, die sich dagegen bisher erfolgreich wehren. Doch habe ich mitbekommen, dass in einigen, sehr schwarz regierten Kommunen Sachsens die zuständigen politischen Stellen versuchen, die linke Abwehr von Nazis zu behindern. Zum Beispiel indem sie eine Abgrenzung der Veranstalter von den Nazis dadurch verhindern, dass sie sagen, es könne wegen der Demonstrationsfreiheit für alle keinen polizeilichen Schutz der Demo vor rechten Gruppen geben. In Orten ohne starke Linke oder ohne Antifa kann das durchaus relevant werden. Entscheidend wird deshalb sein, dass sich die Linke an die Spitze der Bevölkerungsproteste stellt, sich dort eingräbt, um Hegemonie kämpft und vom Boden der Massenproteste aus gegen die Nazis kämpft, nicht etwa gegen die Massenproteste, wie ich das bei einigen Sektierern bemerke, die lieber darüber diskutieren, ob die Losung »Wir sind das Volk!« auch die korrekte linke Losung ist. In Dresden habe ich es als sehr positiv erlebt, wie die Veranstalter gegen die Inhalte der Nazis gesprochen und die Antifa begrüßt haben, die das von Nazis hochgehaltene Transparent verdeckt hat. In Berlin war es ähnlich, hier haben Nazis keine Chance.

Sind diese Montagsdemonstrationen der Beginn einer neuen sozialen Bewegung, die von den Massen ge-tragen wird? Was könnte sie erreichen?

Klaus Wolfram: Das ist vielleicht zuviel gesagt für so wenige Teilnehmer. Sie sind aber der Beginn einer veränderten Fließrichtung der politischen Initiative in Deutschland. Unsere hybride ostdeutsche Ökonomie, unsere enteignete und so lange wieder wie gelähmte Gesellschaft hat gerade daraus die politische Initiative hervorgebracht und in den alten Bundesländern eine neuartige Resonanz erzeugt. Dergleichen sollte die deutsche Einigung nach Kaufmannsart verhindern. Sie hat es auch verhindert – 15 Jahre lang. Da geht eine Übergangszeit zu Ende. Hartz IV wird kommen. Aber diese Wechselwirkung wird sich auch vertiefen und verstärken.

Renate Hürtgen: Die Bewegung wird verschwinden mit dem aktuellen Anlass; im allerbesten Fall wird sie eine ordentliche Regierungskrise auslösen. Aber was bleiben wird, das ist diese Erfahrung einer Massendemonstration, vor der die Herrschenden Angst haben. Das ist ein wunderbares Gefühl der Stärke, und ich denke, das vergisst sich nicht so schnell. Das ist eine historische Erfahrung, die bei Bedarf wieder aus der Schublade geholt werden kann.

Bernd Gehrke: Wenn es auch keine Garantien gibt und jeder Schritt nüchtern analysiert werden muss, so denke ich doch, dass die Hoffnung berechtigt ist, dass es sich um eine solche Bewegung handelt. Denn der Anlass ist ja wirklich dramatisch, und ein realistisches Ziel, nämlich die Verhinderung von Hartz IV, gibt es auch. Stopp von Hartz IV und Beginn einer breiten gesellschaftlichen Diskussion von unten über Reformalternativen zum neoliberalen Umbau sind durchaus realistisch. Die Erreichung dieses Zieles ist im Moment ausschließlich von der Stärke der Bewegung abhängig, der Kanzler längst nicht so stark, wie er tut. Zum einen wegen der Landtagswahlen und der innerparteilichen Weichenstellung für 2006, zum anderen, weil das Zerbröseln seiner Partei begonnen hat. Für den Herbst ist ohnehin eine Regierungsumbildung geplant. Die Wahlalternative und Lafontaine haben vor dem Hintergrund massenhafter Parteiaustritte oder der PDS im Osten einen anderen Stellenwert für die SPD als seinerzeit die Demokratischen Sozialisten in den 80ern. Entscheidend wird die Ausdehnung der Bewegung von unten nach Westdeutschland sein, das ist der Schlüssel. Deshalb denke ich, dass wir neben Hartz IV die ganze Agenda 2010 und die Verhinderung einer verlängerten Wochenarbeitszeit mit in den Mittelpunkt stellen müssen. Davon sind schließlich alle Beschäftigten unmittelbar betroffen.
Wenn die Bewegung weiter Zulauf bekommt, dann wird auch sehr schnell der Rücktritt von Clement und Schröder ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt werden müssen. Bereits jetzt gibt es diese Forderung bei vielen Demonstranten im Osten: »Wenn Schröder keine Alternative zu seiner Politik sieht, muss er eben weg«. Im Gegensatz zu dem Gespenst einer CDU-FDP-Regierung, das von den SPD- sowie den regierungsnahen Gewerkschaftsoberen immer an die Wand gemalt wird, gibt es selbst bei den gegenwärtigen Mehrheiten im Bundestag die Möglichkeit einer gewerkschaftsnahen Regierung, die die Agenda 2010 zurücknimmt und eine Politik beginnt, die sich am rot-grünen Wahlprogramm von 1998 orientiert. Das wäre vielleicht nicht das Gelbe vom Ei, aber doch eine wesentliche politische Trendwende und ein Novum in der bundesdeutschen Geschichte obendrein: eine unter dem Druck der Straße und vielleicht auch von Streiks gestürzte Regierung, die durch eine etwas sozialere ersetzt wird. In der gegenwärtigen historischen Situation könnte sie wohl sogar auf die Unterstützung des »Arbeitnehmerflügels« der CDU rechnen. Eine solche Regierung ist dann durchaus realistisch, wenn sich jetzt eine wirklich breite Massenbewegung in Ost- und vor allem in Westdeutschland entwickelt. Danach wäre weiter zu sehen.

Auch wenn es im gegenwärtigen Augenblick zunächst um Hartz IV geht, scheint es mir sinnvoll, die Möglichkeit der Ersetzung der Schröder-Regierung durch eine »rot-grüne Regierung mit einer sozialen Politik« gerade in den Gewerkschaften breit zu popularisieren, um die Ausreden der Schröder-Kommissare in den Gewerkschaftsführungen und die mentale Fesselung vieler Gewerkschaftsmitglieder an den rot-grünen Neoliberalismus zu durchbrechen und den gewerkschaftlichen Widerstand zu radikalisieren. Im Osten werden die Montagsdemos jedenfalls schon breit von den regionalen Gliederungen der Einzelgewerkschaften und des DGB mitgetragen. Das sollte zur Perspektive in ganz Deutschland werden.

* Frei nach Äußerungen Superministerns im Christiansenschen »Sonntags-Terror« vom 22.8.04 und in der »Welt« vom 18.8.04.


Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 8/04

Anmerkungen

1) Renate Hürtgen antwortete am 18., Klaus Wolfram am 23. und Bernd Gehrke am 24. August.

2) Bernd Gehrke/Wolfgang Rüddenklau (Hg.): »... das war doch nicht unsere Alternative. DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende«, Münster 1999

3) Vgl. Klaus Wolfram: »Zur Geschichte des guten Willens. Skizzen aus der Opposition«, in: Sklaven. Sprachrohr der Loë Bsaffot, Nr. 1/1994 – Nr. 11/1996

4) Wolfgang Engler: »Die Ostdeutschen. Kunde aus einem verlorenen Land«, Berlin 1999

5) Wolfgang Engler: »Die Ostdeutschen als Avantgarde«, Berlin 2002

6) Vgl. express Nr. 1/2002

7) Damit sind nicht die politischen Mehrheiten gemeint. (Anm. der Red.)


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