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Updated: 18.12.2012 15:51
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Dirk Hauer

Wir wollen Alles – Supermärkte und Bäckereien
Einige Anmerkungen zum Thema „Aneignung“

Referat für die Veranstaltung „Eigentum und Diebstahl. Schwarzfahren für die Revolution?“ der Gruppe Kritik + Praxis, Berlin am 1.4.2004


„Hauptproblem ist dabei, dass sich mit der Aneignungspraxis niemals Produktionsverhältnisse thematisieren lassen. Mit der Orientierung auf Waren wird nicht gebrochen, man möchte sie eben nur umsonst.“

Dieses Zitat zu den aktuellen „umsonst“-Kampagnen formuliert eine alte und weit verbreitete Kritik an sozialrevolutionär begründeten Aneignungspraxen. Für die offizielle ArbeiterInnenbewegung waren und sind „Einklauen“ und „lumpenproletarischen Verhaltensweisen“ eher moralisch anrüchig und/oder „kleinbürgerlich-anarchistisch“. Für manche/n marxistische/n TheoretikerIn sind sie nur eine implizite Bestätigung des Privateigentums. Nun kann man sicherlich eine Reihe ernsthafter Bedenken gegen die momentanen „Umsonst“-Kampagnen formulieren, doch dermaßen verkürzte Statements werden dem Thema Aneignung und Aneignungspraxis kaum gerecht. Ich möchte im Folgenden eine Gegenposition zu dem Eingangszitat entwickeln und dabei eine differenziertere Einschätzung zu den Möglichkeiten und Grenzen von Aneignung formulieren. Ich werde grob und schematisch drei "Aneignungsprinzipien" unterscheiden: ein kapitalistisches, ein dem Kapitalverhältnis verhaftetes, aber nichts desto trotz subversiv-rebellisches sowie ein kollektiv-kommunistisches.


1. kapitalistische Aneignung: Aneignen – enteignen

Zunächst einmal sei daran erinnert, dass Aneignung eines der konstituierenden Prinzipien der kapitalistischen Gesellschaft darstellt – ein Prinzip, das über Privateigentum und die bloße Aneignung von Waren weit hinausgeht. Kapitalistische Aneignung ist nicht nur „die private Aneignung gesellschaftlich produzierten Reichtums“. Das Kapitalverhältnis beruht auf dem dialektischen Verhältnis von Aneignung und Enteignung. Die private Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums bedeutet nämlich gleichzeitig die Enteignung des kollektiven Produktionsprozesses: Mit der Aneignung insbesondere der Ware Arbeitskraft eignen sich die Kapitalisten auch unbezahlte Mehrarbeit, den Mehrwert, sowie Zeit, Kreativität, Kontrolle und Macht an. Die Aneignung der lebendigen Arbeit ist gleichzeitig die Enteignung von Produktions- und Reproduktionsmitteln, die Enteignung der kollektiven Kontrolle über die eigenen Produktions- und Reproduktionsbedingungen. Hier, in der Produktion und Reproduktion, liegt das Wesen der kapitalistischen Aneignung: in der Aneignung unbezahlter Arbeit, des Mehrwerts, und damit der Herrschaft und Kommando über die lebendige Arbeit.

Wenn Marx also von Kommunismus u.a. als der „Expropriation der Expropriateure“ spricht, so wäre es ein fatales Missverständnis, wenn seine NachfolgerInnen das lediglich auf die kollektive Aneignung von Gütern, also auf die Kollektivierung des Privateigentums reduzierten wollten. Worum es in einer linken Aneignungsperspektive vielmehr gehen muss,
ist die kollektive (Wieder-)Aneignung des eigenen Lebens, d.h. der Bruch mit der kapitalistischen Herrschaft und Kontrolle über unsere Tätigkeiten, unsere Zeit, unsere Bedürfnisse.

Eine System sprengende Perspektive muss also über die Verteilungs- und Eigentumsfrage hinaus die sozialen und kulturellen Produktions- und Reproduktionsverhältnisse diskutieren. Im Zusammenhang etwa mit der Existenzgelddiskussion haben das manche GenossInnen, z.B. aus der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO), als "Aneignung der Arbeit" bezeichnet. Dieses Label ist problematisch, weil es den falschen Schluss nahe legt, man könne sich die real existierende Arbeit, ihre Organisation und diese Arbeitsbedingungen einfach zu eigen machen. Aber "Aneignung der Arbeit" als "Kampf gegen die Arbeit", als Aneignung der eigenen Existenzbedingungen, als Kampf gegen die Herrschaft und Kontrolle im Arbeitsprozess, in den Arbeitsbedingungen, in der Arbeitsorganisation, im Technikeinsatz, - das wäre schon die richtige Stoßrichtung.

Im Sinne einer Aneignung der eigenen Existenzbedingungen ist eine kommunistische Aneignungsperspektive somit nicht nur möglich, sondern auch zwingend erforderlich. In dieser Perspektive wird deutlich, dass Aneignung von links gedacht sehr viel mehr ist als nur die „Aneignung von Waren und zwar umsonst“.


2. Ladendiebstahl und Schwarzfahren – subversiver Alltag im Kapitalismus

Auch unabhängig von irgendwelchen linken Kampagnen gibt es eine mehr oder weniger weit verbreitete alltägliche und individuelle Aneignungspraxis: Schwarzfahren, Ladendiebstahl, Stromklau, Versicherungsbetrug, die kleinen und größeren Bescheißereien gegenüber Sozial- und Arbeitsämtern etc. All diese Praxen stellen – zumindest vordergründig – weder die Ware noch das Privateigentum in Frage. Erst recht stellen sie die kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsbedingungen nicht in Frage. Und in irgendeiner Weise revolutionär sind sie schon gar nicht. Sie sind vielmehr konkrete Umgangsweisen mit diesen Bedingungen. Manchmal sind sie Überlebensstrategie, manchmal Ausdruck von Konsumismus, manchmal einfach nur Lust am Abenteuer oder Ausdruck sportlichen Ehrgeizes.

Und dennoch greift auch hier der Vorwurf der Warenorientierung zu kurz. In aller Regel beinhalten solche Aneignungspraxen nämlich auch eine individuelle Rebellion gegen den Konsumverzicht und damit gegen die gesellschaftlich verordnete Verweigerung von Bedürfnisbefriedigung. Wo Bedürfnisse nur über den Konsum von Waren befriedigt werden können und wo die Teilnahme am Warentausch in zentralem Maße über gesellschaftliche Exklusion oder Inklusion entscheidet, ist auch die individuelle Aneignung eine systemimmanente Rebellion gegen den gesellschaftlichen Ausschluss bzw. für gesellschaftliche Teilhabe. Wenn mache linke KritikerInnen hier nur die angeeignete Ware, aber nicht das angeeignete Bedürfnis sehen, dann entgeht ihnen das subversive Potenzial in solchen Handlungsweisen - nämlich der Wille, auch ohne allgemeines Äquivalent in den Genuss von Gebrauchswerten zu kommen.

3. kollektive Praxen – kollektive Orientierung

Linke Aneignungspraxen beinhalten immer drei Momente:

a) Sie zielen auf eine kollektive und egalitäre Aneignung von Gebrauchswerten, d.h. für eine gesellschaftliche und gleiche Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums. Die Parole „Alles für Alle“ bringt das auf den Punkt.
b) Sie formulieren das uneingeschränkte und unbedingte Recht auf Bedürfnisbefriedigung für jeden und jede. Sie sind also der aktionsmäßige Ausdruck einer Orientierung auf das unteilbare und unbedingte Existenzrecht eines jeden Menschen, unabhängig von Geschlecht, ethnischer Zuschreibung, Alter oder Verwertbarkeit am Arbeitsmarkt; ein Recht, das eben nicht vom Staat gefordert, sondern in der eigenen Praxis hier und jetzt durchgesetzt wird.
c) Sie setzten auf die kollektive Aktion, auf die „Propaganda der Tat“, auf Verbreiterung und Kommunikation der eigenen Politik. Es geht also nicht zuletzt auch um die Vermittlung von Kampferfahrungen, Tipps und Tricks. Die Null-Tarif-Kampagne der Schwarze Katze-Gruppen im Hamburg der 1980er Jahre bestand z.B. neben kollektiven und demonstrativen Schwarzfahraktionen auch in Flugblättern, wie man beim Schwarzfahren die Nerven behält, wie man SchwarzfahrerInnen schützt und unterstützt etc.

Alle drei Komponenten machen aus einer solchen Praxis vielleicht keine revolutionäre Strategie (m.W. hat das aber auch niemand behauptet), nichts desto weniger begründen sie aber eine sozialrevolutionäre Alltagspraxis mit einer dezidiert antikapitalistischen Perspektive: Die Umsetzung des Existenzrechts für alle jenseits der kapitalistischen Verwertungslogik hier und jetzt.

Es ist richtig, dass manche der real existierenden Aneignungskampagnen in der Thematisierung der kollektiven Bedürfnisbefriedigung, der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, eine offene Flanke in Bezug auf die Thematisierung der Produktions- und Reproduktionsbedingungen, der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens, hatten und haben. Das galt z.B. schon bei der Entstehung der Existenzgeldforderung Anfang der 80er Jahre. Formuliert als Kampf gegen die Arbeit und als Abwehrparole gegen das „Recht auf Arbeit“ wurde die Arbeit und die kapitalistischen Verwertungsbedingungen zwar theoretisch thematisiert, eine entsprechende Praxis blieb hingegen immer minoritär. Die Parole „Wir nehmen uns, was wir brauchen“ transportierte zwar die kollektive Bedürfnisbefriedigung, doch in dem Maße, wie der praktische Kampf gegen die Arbeit wegfiel, blieb eine so konzipierte Aneignungspraxis tendenziell reproduktionsorientiert.

Das ist allerdings kein Argument gegen Aneignungspraxen an sich, sondern gegen ihre Verkürzungen. Es käme darauf an, den Begriff Aneignung und die entsprechenden praktischen Schritte breiter zu fassen: Aneignung der Produktionsmittel, Aneignung und kollektive Selbstbestimmung der Produktionsbedingungen, Aneignung und kollektive Selbstbestimmung über alle Bereiche des Lebens.

Orientierungspunkte für solche Ansätze in der Praxis gibt es in der Geschichte linker Aneignungskämpfe durchaus: in der Häuserbewegung der 1970/80er Jahre oder den Kämpfen der Jobber- und Erwerbslosenbewegung. Die militanten Betriebskämpfe Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre um die Entkoppelung von Einkommen und Produktivität beinhalteten ebenso eine Aneignungspraxis wie die gleichzeitigen selbstbestimmten (Miet-)Preisreduzierungen. Parolen wie „Wir wollen Alles“, „Weniger arbeiten, mehr Geld, noch weniger arbeiten“, „Autoriduzione“, „Miete ist Raub“ drücken das genauso aus wie die ersten Null-Tarif-Kampagnen (Rote Punkt-Aktionen).

Heute kann eine (sozial-)revolutionäre Alternative zur Agenda 2010 und der damit verbunden Umstrukturierung von Produktion, Reproduktion und sozialpolitischer Re-Regulierung gar nicht auf eine Aneignungspraxis verzichten, denn nur so kann die abstrakte Vorstellung eines Existenzrechts oder von sozialen Grundrechten praktisch gemacht werden.


4. Aneignungskampagne vs. Aneignung als Organisationsansatz

Das Problem bei Aneignungskampagnen wie etwa den „umsonst“-Kampagnen liegt also überhaupt nicht im Moment der Aneignung selbst, im Gegenteil. Es liegt vielmehr – ähnlich wie bei dem Versuch von felS, 1999 eine „Existenzgeldkampagne“ loszutreten - im Charakter der Kampagne.

Das Problem ist, dass die neoliberalen „Kolonisierung der Lebenswelten“ in den Köpfen der Menschen nur aufgebrochen werden kann, wenn es der Linken gelingt, praktisch in die gesellschaftlichen Basisprozesse von Produktion und Reproduktion zu intervenieren. Wenn man das aber ernsthaft durchdenkt, setzt das eine linke Alltagspräsenz und linkes Alltagsverhalten voraus, das heute praktisch völlig verschwunden ist: in den Betrieben und Büros, in den Stadtteilen, in den Mietshäusern, den Kindergärten, den Sozial- und Arbeitsämtern etc. etc. Diese Leerstellen werden nicht durch noch so gut gemeinte Kampagnen gefüllt, sondern durch Basisorganisierung und die (Re-)Politisierung des eigenen alltäglichen Kampfes, die eigenen Existenzbedingungen auf die Reihe zu bekommen.

Das ist der wesentlichste Unterschied der jetzigen Kampagnen zu ihren historischen Vorläufern: Damals waren Aneignung und Aneignungskampagnen (etwa die Kampagne der Jobber- und Erwerbsloseninitiativen gegen die Bedürftigkeitsprüfung oder die Null-Tarif-Kampagnen) eingebettet in eine linke und linksradikale Alltagspraxis von Sozialberatung, Hausbesetzung, Ämterbegehung/Ämteragitation und Begehungen bei Chefs, die keine Löhne gezahlt hatten. Oder - wenn man an die 1960er und 1970er Jahre zurückdenkt – sie waren Bestandteil einer Ausweitung der Betriebskämpfe in das räumliche und gesellschaftliche Territorium.

Dabei hatten und haben ja Parolen wie „Wir wollen Alles“ und „Wir wollen nicht nur ein Stück vom Kuchen, sondern die ganze verdammte Bäckerei“ für sich genommen und als reine Kampagnenslogans durchaus auch die erwähnte offene Flanken in Bezug auf eine Aneignung von Waren bzw. die bloße Übernahme der Produktion. Eingebunden in die damaligen Klassenauseinandersetzungen war Aneignung jedoch Teil einer sehr viel breiteren klassenkämpferischen Praxis. Und sie zielte gleichzeitig als Aneignung des eigenen individuellen und kollektiven Leben auch auf eine ganz andere Gesellschaft: auf ein Ende der Warenbeziehungen und auf eine Gesellschaft, in der die Arbeiterklasse nicht in erster Linie an die Macht will, sondern in erster Linie keine Arbeiterklasse mehr sein will.

Wie eine solche Praxis heute, unter geänderten gesellschaftlichen Bedingungen, aussehen kann, weiß niemand wirklich. Hier ist das Feld für Experimente weit offen, und in diesem Sinne wäre die Auseinandersetzung mit den konkreten Aneignungskampagnen zu führen. Es geht dabei nicht um eine besserwisserische (und tendenziell praxisfeindliche) Kritik, sondern vielmehr darum, auf welche Weise heutzutage Aneignungspolitik auf alle Bereiche des Lebens ausgeweitet und alltagsmächtig gemacht werden kann. Und das ist eine Aufgabe, die letztlich nur praktisch von Leuten gelöst werden kann, die sich auch politisch im sozialen Alltag bewegen.


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