Aus Jungle World ??.Juni 1999
Ernst Lohoff
Während der Aufstiegsgeschichte der Warengesellschaft hatte die linke Systemoppositon lange Zeit eine Avantgardefunktion inne. Sie hat vorgedacht, die Rechte nach-gedacht, adaptiert und für ihre Zwecke umfunktioniert. Dieses Verhältnis hat sich längst umgekehrt. In die Defensive geraten und orientierungslos geworden, findet die Linke heute ihre Positionen vornehmlich in den Stellungen, die das bürgerliche Denken vor Jahr und Tag geräumt hat. Unter linken Soziologen hat die Rezeption von Max Weber die von Marx ersetzt; unter linken Ökonomen ist die keynesianische Lehre zusehends an die Stelle der Kritik der politischen Ökonomie getreten. Auch der populäre Antikapitalismus folgt diesem Muster. Will er nicht abstrakt utopisch bleiben, fällt ihm heute für gewöhnlich nicht viel mehr ein, als den x-ten Aufguß der alten staatsinterventionistischen Doktrin mit antikapitalistischen Aromastoffen zu versetzen und den Kapitalismus von gestern gegen den von heute zu mobilisieren.
Diese Tendenz dürfte auch die Gegenkongresse zum EU- und zum G8-Gipfel prägen, die in diesem Monat in Köln stattfinden. Forderungen wie die nach einem "Recht auf sozial geschützte Arbeit" (Aufruf Bündnis Köln 99), (warum nicht gleich beschütze Werkstätten für alle, Behinderte wie Nichtbehinderte?) muffeln jedenfalls unüberriechbar nach keynesianischer Gebrauchtsockensammlung.
Diese seltsame Liebe kommt nicht von ungefähr. In der abgetakelten keynesianischen Nostalgie findet eine bestimmte Sorte von linkem Denken genau das wieder, woran es am meisten hängt, nämlich den Glauben an die Allmacht politischen Gestaltens. Die neokeynesianische Kritik am Neoliberalismus fällt auf fruchtbaren Boden, weil sie bestätigt, was man immer schon wußte: die Entstehung des Globalisierungs-Kapitalismus ist nicht als die Verlaufsform irgendwelcher objektivierter Selbstwidersprüche der Warengesellschaft zu verstehen. Es handelt sich um einen "Modellwechsel", für den immer nur die subjektiven Entscheidungen der souveränen kapitalistischen Handlungssubjekte verantwortlich zu machen sind. Der politische Wille ist alles, die Vorstellung hingegen, hinter dem modernen Globalisierungs-Kapitalismus könnte eine dem Handeln der Kapitalisten vorausgesetzte Krisenlogik stehen, ist dasselbe wie das neoliberale Sachzwanggeschwätz, nämlich pure Ideologie.
Zweierlei zeichnet die linksneokeynesianische Weltsicht aus. Zum einen löst sie ihren Kritikgegenstand, den Neoliberalismus, aus der historischen Entwicklung heraus. Das Verhältnis zwischen Kapitalismus im Allgemeinen und dessen gegenwärtiger Phase bleibt im Dunkeln. Die Gegnerschaft zum herrschenden System verschwindet dementsprechend hinter der zum Neoliberalismus. Sie ist analytisch nirgends mehr greifbar und lebt nur mehr als Gestus fort. Zum anderen beruht die scheinbare Plausibilität der ganzen Deutung im Kern darauf, daß sie das neoliberale Selbstverständnis für bare Münze nimmt und nur zu einer umgekehrten Wertung kommt. Die Politikillusion des Schmalspur-Antikapitalismus setzt unmittelbar die neokeynesianische fort und die wiederum lebt von der negativen Staatsillusion der Neoliberalen.
Die moderne Warengesellschaft befindet sich in der Beziehung zu ihrem Staat in einem grundsätzlichen strukturellen Dilemma, über das sich Neokeynesianern wie Neoliberale gleichermaßen hinweglügen. Die Existenz eines ständig wachsenden Staatssektors ist für den Akkumulationsprozeß ebenso unabdingbar wie hinderlich. Auf der einen Seite kann die einzelbetriebliche Verwertung nur funktionieren, indem sie sich auf zahllose infrastruktrelle und soziale Rahmenbedingungen stützt (Verkehr, Gesundheit, Bildung, Forschung, sozialstaatliche Absicherung), für die der Staat Sorge zu tragen hat. Je höher das erreichte Produktivitäts- und Vergesellschaftungsniveau, desto größere Leistungen hat der Staat in Sachen Verkehr, Gesundheit, Bildung, Forschung, sozialstaatliche Absicherung, usw. zu erbringen. Auf der anderen Seite werfen all diese öffentlichen Beschäftigungsbereiche keinen Profit ab, sondern müssen im Gegenteil via Steuern und Abgaben, direkt oder indirekt von den wertproduktiven Sektor alimentiert werden. Sie sind Voraussetzung der kapitalistische Akkumulation und zugleich faux frais, tote Kosten.
Dieser systemische Widerspruch konnte unter dem Deckel bleiben, solange die kontinuierliche Vermehrung der Staatslast durch die Ausdehnung der industriellen Kernsektoren kompensiert wurde. In den marktwirtschaftlichen Wunderjahren der Nachkriegszeit war das der Fall und so machte sich damals sogar die Vorstellung breit, der Etatisierungsprozeß wäre die Ursache der Wachstumsdynamik. Der Staat galt demnach als eine Art von Demiurg, der den Kapitalismus von seiner Krisenhaftigkeit erlöst habe.
Dieses Deutungsmuster mußte freilich mit dem Auslaufen des fordistischen Booms in den 70er Jahren zu Bruch gehen. Weil der Interventionsstaat dem Wachstumsmotor nur mit Schmieröl, aber nicht mit Treibstoff versorgt, brachten die fortgesetzten staatlichen Betankungsversuche den ins Stottern geratenen Motor auch nicht wieder auf Touren.
Das war die Stunde des Neoliberalismus, der nun mit einem neuartigen Verleugnungstrick reüssierte. Weil der Staatsinterventionismus die Krise nicht hatte lösen können, erklärten die Befürworter des reinen Marktes nun das Wirken des hilflosen Helfers kurzerhand selber zur einzig wahren Krisenursache. Das Grundproblem, das Verschwinden der lebendigen Arbeit in den wertproduktiven Sektoren, blieb außen vor. Dafür wurde der Demiurg der Keynesianer als leibhaftiger Antichrist entlarvt.
Der Triumph der neoliberalen Ideologie konnte natürlich keinen Systemzwang aus der Welt schaffen wie den historischen Trend zu wachsenden Staatsausgaben. Wo die Staatsquote zeitweilig sank, lag dem immer nur der Verkauf von staatlichem Tafelsilber (produktiven Staatsbetrieben) zugrunde oder die Abnahme ging auf Kosten der langfristigen Wettbewerbsposition des Landes (Vernachlässigung der Infrastruktur). Dennoch wurde die neoliberale Revolution geschichtsträchtig und trug ein stückweit. Sie schuf nämlich die institutionellen Voraussetzungen dafür, daß das Erlahmen der Realakkumulation durch die explosionsartige Vermehrung fiktiver Werte vorübergehend ersetzt werden konnte und der anstehenden große Krisenschub auf diese Weise vertagt wurde. Diese bemerkenswerte Leistung war an ein fast noch beeindruckenderes Kunststück gekoppelt. Der Neoliberalismus hat die sich abzeichnende Paralyse des Politischen einstweilen überspielt und wegdefiniert, indem er den blanken Markt selber zur erstrebenswerten sozialen Ordnung ausgerufen und Deregulierung und Entstaatlichung in den Rang eines explizit politischen Programms erhoben hat. Der strukturell-systemische Misere jeder politischen Regulation wurde insofern unsichtbar, als der neoliberale Staat, das, was die Politik nicht mehr konnte, auch nicht mehr wollen wollte.
Der Neokeynesianismus hat auf seine Weise diesen seltsamen Zaubertrick nicht nur begeistert akzeptiert, er gründet auf ihm. Das systemische Elend von Staat und Politik, das im Erfolg des Neoliberalismus sein Symptom fand, wurde als der Sieg einer anderen, falschen Politik gewertet und das Ende des sozialdemokratischen Zeitalters damit zum Ergebnis politischer Fehlentscheidungen (v)erklärt. Damit liegt das kapitalistische Gestern aber als jederzeit abrufbares alternatives Zukunftskonzept in den ideologischen Schubladen parat.
Krisenverschiebung ist keine Krisenlösung. Die neoliberale Ära hat nicht nur soziale Verwerfungen mit sich gebracht; mit der sich abzeichnenden Erschöpfung der spekulationskapitalistischen Dynamik, stehen die neoliberalistischen Konzepte auch ökonomisch vor dem Offenbarungseid. Für ein warengesellschaftlich vernageltes Bewußtsein ist es in einer solchen Situation naheliegend, die negative Staatsillusion wieder durch eine positive zu ersetzen oder zumindest eine neue Mischung aus beidem zu kreieren. Die Renaissance der Sozialdemokratie, die in ganz Europa "Linksregierungen" an die Macht brachte, hat hierin ihre Hauptwurzel und zeigt die Massenwirksamkeit dieses Impulses.
Die neokeynesinanische Illusion kann die marode Arbeitsgesellschaft noch viel weniger retten als die neoliberale. Das Instrumentarium, das in den 70er Jahren schon nicht gegriffen hatte, greift unter den zugespitzen Bedingungen eines globalisierten Kapitalismus erst recht nicht. Daß Figuren wie Lafontaine, die die Nachfrageseite zu stärken versprachen, im politischen Richtungsstreit unter die Räder kommen, mag für Neokeynesianer Anlaß sein, an Dolchstoßlegenden zu stricken. Antikapitalisten haben nur Grund das Illusionäre und Reaktionäre an der neokeynesianischen Mythologie herauszustellen und nicht den geringsten beim Bäumchen-wechsel-dich-Spiel von Neoliberalen, Neokeynesianern, Neo-Neoliberalen und Neo-Neokeynesianern ad infinitum mitzumachen.