Plattform Für eine andere Arbeit
Bad-Bevensen, Januar 1999
BAG-Erwerbslose
Bundesarbeitsgemeinschaft
unabhängiger Erwerbsloseninitiativen
Vorwort
Nach dem 1. Bundeskongress der Arbeitsloseninitiativen 1982 in Frankfurt entstanden
die "Bundesarbeitsgruppen der Initiativen gegen Arbeitslosigkeit und Armut".
Sie verstanden sich als politisch strömmungsübergreifend (keine politische
Strömung wurde ausgegrenzt), themenzentriert arbeitend (in den Arbeitsgruppen
"Bilanz und Perspektiven", "Existenzielle Absicherung", "Beschäftigungspolitik"
und "Multinationale Zusammenarbeit") und basisdemokratisch organisiert (von
unten nach oben).
Ergebnisse dieser Zusammenarbeit waren u.a. der 2. Bundeskongress 1988 in Düsseldorf,
die Kampagne gegen die Bedürftigkeitsprüfung, die Kampagne gegen erzwungene
Arbeit mit einer Aktion vor dem Haus der Arbeitgeberverbände in Köln,
die Ausarbeitung und Begründung der Existenzgeldforderung, der Aufbau des
europäischen Netzwerks "Itaka" mit mehreren internationalen Treffen.
Bereits Mitte der 80er Jahre Verlies ein Teil der gewerkschaftlichen Initiativen
diese Zusammenarbeitsebene und gründete die Koordinierungsstelle der gewerkschaftlichen
Arbeitsloseninitiativen in Bielefeld. Nach 1990 etablierte sich der Arbeitslosenverband
(ALV) in Ostdeutschland. So konnten sich in den vergangenen zehn Jahren nach
dem 2. Bundeskongress die "Bundesarbeitsgruppen der Initiativen gegen Arbeitslosigkeit
und Armut" nicht zu dem übergreifenden Zusammenschluss der verschiedenen
Jobber-, Sozialhilfe- und Erwerbsloseninitiativen entwickeln, der angestrebt
war.
Die gewerkschaftliche Koordinierungsstelle in Bielefeld, der ALV, die Bundesarbeitsgemeinschaft
der Sozialhilfeinitiativen (BAG-SHI), die Euromarsch-Koordination, die Bundesarbeitsgruppen
- sie alle haben in der Vergangenheit eigene Organisationsstrukturen und eigene
Politikformen entwickelt.
Die Existenzgeldforderung, von den Bundesarbeitsgruppen im Februar 1992
als Grundsatzposition verabschiedet und damals von allen Zusammenschlüssen
getragen, hat sich nicht zu der inhaltlich bestimmenden Klammer entwickelt,
als die sie gedacht war. Obwohl die Forderung nach wie vor von allen "irgendwie"
vertreten wird, haben sich inhaltliche Begründungen und Aktionsformen der
verschiedenen Initiativen unterschiedlich entwickelt.
Wir müssen uns inhaltlich und organisatorisch neu besinnen. Wir formulieren
deshalb in dieser Plattform unsere Position aktuell und zugespitzt. Sie ist
ein offenes und solidarisches Diskussionsangebot an alle.
Für eine neu zu organisierende Form bundesweiter solidarischer und schlagkräftiger
Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Zusammenschlüssen werden wir
uns zukünftig als "BAG-Erwerbslose" auf der Grundlage unserer Plattform
einsetzen.
I. Eine neu gesellschaftliche Phase ...
Wir schreiben das Jahr 1998. Es ist Herbst, und trotz Regierungswechsel nach
langen sechzehn Jahren Ausweitung der Marktherrschaft, Konkurrenz und sozialer
Kälte, trotz eines dreiviertel Jahrs monatlicher Aktions- und Protesttage
gegen Arbeitslosigkeit und Armut haben wir kein gutes Gefühl!
Wir haben die Befürchtung, dass die entscheidenden Probleme unserer Gesellschaft
weiter mit den Mitteln bekämpft werden sollen, die sie verursachen: Erhöhung
der globalen Konkurrenzfähigkeit und Wirtschaftswachstum.
Mehr als zwanzig Jahre konnte eine radikale Ausweitung der Marktwirtschaft
auf der ganzen Welt unter Beweis stellen, wie sie in der Lage ist, die brennenden
Probleme der Menschheit zu lösen.
In den zwanzig Jahren seitdem hat es mehr als eine Verdoppelung der weltweiten
Reichtumsproduktion gegeben. Die Wirtschaft ist gewachsen, die Investitionen
sind gestiegen, die Marktwirtschaft herrscht seit zehn Jahren auf der ganzen
Welt. Die "Welt" ist 1998 so reich wie nie zuvor. - Und?
Es gibt mehr Hunger. Mehr Krieg. Mehr Arbeitslosigkeit und Armut.
Mehr Ausgrenzung und Verelendung. Mehr Naturzerstörung
- für immer mehr Menschen.
Es gibt mehr Reichtum, Luxuskonsum und Überfluss
- für immer weniger Menschen.
Die Fakten:
Die Kluft zwischen "Nord" und "Süd" wächst.
Profitsteigerung über Wirtschaftswachstum ist heute eine weltweite marktwirtschaftliche
Veranstaltung, die mit immer weniger Menschen auskommt. In der sogenannten "3.Welt"
ist es bereits die Bevölkerung halber Kontinente, die für das weitere
"Wachstum" überflüssig ist. Im "Bericht über die menschliche
Entwicklung" der UNO heißt es schon 1996: "Unter dem Gesichtspunkt der
menschlichen Entwicklung ist Wirtschaftswachstum kein Ziel an sich. Es ist Mittel
zum Zweck: Es soll die Möglichkeiten der Menschen erweitern. Also sollte
es auch danach beurteilt werden, wie es sich auf die Menschen auswirkt. Wieviele
Menschen konnten ihr Einkommen erhöhen? Verringert sich die Einkommensdifferenz
zwischen verschieden Bevölkerungsgruppen? Was bedeutet Wachstum für
die Armen?"
Eine reiche Minderheit im Norden unseres Planeten verbraucht im Übermaß
die begrenzten Rohstoffe der Erde und vergiftet mit Abfällen und Rückständen
aus der industriellen Produktion Böden, Wasser und Luft. In den Industrieländern
leben nur 23% der Weltbevölkerung, aber sie verbrauchen 82 % der Energie,
70 % des Öls, fahren 80 % aller Pkws und verursachen 75 % aller Treibhausgase.
80 % der Menschen in Lateinamerika, 60 % der Asiaten, 50 % der Afrikaner leben
schon heute in ökologisch gestörten Gebieten.
Fast 800 Mio. Menschen haben nicht genug zu essen, etwa 500 Mio. Menschen sind
chronisch unterernährt. Fast ein Drittel der Weltbevölkerung (etwa
1,3 Mrd. Menschen) lebt in Armut. Tendenz steigend.
Die Länder mit geringer menschlicher Entwicklung konnten trotz weltweiter
Wachstumsraten in den vergangenen 33 Jahren ihre jährliche Wachstumsrate
des Pro-Kopf-Einkommens nicht über 1,5 % hinaus steigern. Ohne Indien gab
es eine jährliche Steigerungsrate von nur 0,4 %.
86 % des weltweiten privaten Konsums entfallen auf 20 % der Menschen in den
Ländern mit den höchsten Einkommen, die 20 % am untersten Ende der
sozialen Skala müssen sich 1,1 % des Konsums teilen. Das reichste Fünftel
der sechs Milliarden Menschen auf der Welt verbraucht:
- 45 % allen Fleischs und Fischs, das ärmste 5 %;
- 58 % aller Energie, das ärmste weniger als 4 %;
- 84 % allen Papiers, das ärmste 1,1 %.
Das Vermögen der drei reichsten Personen der Erde übersteigt das
zusammengerechnete Bruttoinlandsprodukt der 48 ärmsten Länder der
Welt.
Das Produktions- und Konsumniveau des Nordens ist nicht verallgemeinerungsfähig.
Der absolute Ausstoß von Gütern und Stoffen kann nicht beliebig gesteigert
werden. Noch mehr Waren und Dienstleistungen, noch mehr Konsum ist heute ein
zerstörerisches Minderheitenmodell in den Industrienationen, dem das Leben
der Mehrheit der Weltbevölkerung geopfert werden soll. Warum sollten wir
daran mitwirken?
Unsicherheit und Existenzangst verbreiten sich auch in den westlichen Industrienationen
Mehr als 100 Mio. Menschen leben in Armut, ebenso viele sind obdachlos. 37
Mio. Menschen allein in den OECD-Ländern sind arbeitslos. In den USA leben
mehr als 19 % der Bevölkerung unter der staatlich definierten Armutsgrenze.
Die Naturzerstörung schreitet voran.
Bei allen seit mehreren Jahrzehnten bekannten Problemen gibt es noch nicht
einmal ein "Einfrieren" auf dem bisher erreichten Stand der Zerstörung,
geschweige denn eine Besserung. In Europa verschlechterte sich der Zustand der
Wälder allein in den letzten zehn Jahren noch einmal drastisch: Heute sind
bereits zwei von drei Bäumen krank.
Wir haben kein gutes Gefühl
Wir haben ein schlechtes Gefühl, weil jede weitere Minute Marktwirtschaft Zerstörungen und Veränderungen hinterläßt, die nicht wieder gut zu machen sind. Die sogenannten Fortschritte von Naturwissenschaft und Technik Fliesen ohne jegliche demokratische Kontrolle direkt in die Massenproduktion, wenn sie nur Profit versprechen. Es gibt kein Innehalten, keine Besinnungspause. Es gibt kein rationales, vernünftiges und demokratisch legitimiertes Abwägen über Vor- und Nachteile technologischer Entwicklungen, das den Prinzipien der Nachhaltigkeit gerecht Würde. Das gilt besonders für die Atom- und die Gentechnologie. Es wird blind und massenhaft weiterproduziert, ohne Rücksicht auf Ressourcen und Natur - weder auf die Äußere noch auf die innere. Auch noch die letzten Regulären werden als "Bürokratie" verteufelt und sollen abgeschafft werden. Erst wenn der ganze Schrott auf dem Markt ist und Fehlentwicklungen nicht mehr zu kaschieren sind, wird an die Menschen appelliert: als Verbraucher. Dann wird plötzlich ihnen die Verantwortung zugeschoben, sie sollen über ihre "Verbrauchergewohnheiten entgegensteuern".
Wir haben kein gutes Gefühl, deshalb sind wir auch keine "glücklichen"
Arbeitslosen - auch wenn wir es richtig finden, die Erwerbslosigkeit als "Befreiung
von der Lohnarbeit" nicht nur zu bejammern. Aber wir halten fest an dem Prinzip,
dass es ein "gutes Leben" nur für alle geben kann - auf der ganzen Welt.
Deshalb bekämpfen wir jeden Versuch nationalistischer und neofaschistischer
Gruppen, in der Erwerbslosenbewegung Fuß zu fassen. Wir halten fest daran,
Menschen mit der Begabung zu Vernunft und Moral zu bleiben, die weder den Naturgesetzen
noch Gesetzmäßigkeiten irgendwelcher Wirtschaftssysteme hilflos ausgeliefert
sind. Wir sind nicht glücklich, aber unsere Hoffnung richtet sich darauf,
dass die Menschen alles, was sie selber schaffen können, auch rational
und vernünftig am Maßstab ihrer Bedürfnisse kontrollieren können.
Wir haben eine gesellschaftliche Aufgabe...
Es ist nicht umsonst, dass all die sozialen Bewegungen der Ausgegrenzten, die
sich heute auf der ganzen Welt gegen Ausbeutung, Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit
und Verelendung bilden, auf die fundamentalen Menschenrechte sich berufen. Fast
kann man Industrialisierung und Kapitalismus mit ihrer Befreiung der Menschen
aus dem Joch von Naturmythen, Kirche und Adel als zweihundertjähriges Experiment
zur Verwirklichung der Aufklärung betrachten - als Versuch, einen Ausweg
aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu finden und die in Kämpfen
formulierten grundlegenden Menschenrechte zu verwirklichen. Heute, nach zweihundert
Jahren, wo der weltweite Kapitalismus die materiellen Voraussetzungen geschaffen
hat, weit mehr als die grundlegenden Bedürfnisse aller Menschen auf der
ganzen Welt befriedigen zu Können, müssen Menschen sich wieder auf
diese Grundrechte, auf ihre Würde als Menschen berufen, um für das
nackte Überleben zu kämpfen. Um für alle sechs Milliarden Menschen
auf der Welt elementare Bildung, Gesundheitsversorgung, ausreichende Ernährung,
sauberes Trinkwasser und Sanitäreinrichtungen zur Verfügung zu stellen,
wären jährlich 40 Milliarden Dollar erforderlich - weniger als 4 %
des Vermögens aller Superreichen.
Wo die Fesseln der Natur und die Beschränkungen der Ökonomie durch
Knappheit gesprengt sind, wo Reichtum und Wohlstand für alle kein materielles
Problem mehr ist, sind die meisten Menschen auf der Welt am weitesten von der
Verwirklichung ihrer Grundrechte und einem menschenwürdigem Leben entfernt.
Zugegeben: Es ist schwer, an solchen Vernünftigen Überzeugungen festzuhalten.
Man muss heute damit rechnen, deshalb nicht für voll genommen zu werden.
Das Prinzip "was wir für uns wollen, das wollen wir für alle" und
"Wir wollen eine gerechte Organisation und Verteilung der gesamten gesellschaftlichen
Arbeit" aber sollen alle ernst nehmen.
II. ... Eine neue Organisation der gesellschaftlichen Arbeit
Die Forderung nach einer Produktion und Verteilung von für die Menschen
nützlichen Dingen und Tätigkeiten, die nach den Bedürfnissen
der Menschen organisiert werden, wäre ein (revolutionärer) Angriff
auf das Wesen des Kapitalismus, wo einzelne Konzerne und Betriebe privat produzieren
und handeln, was ihnen Profit verspricht - ohne Blick für das Ganze - und
nicht nach einem demokratischen und Vernünftigen Verständigungsprozeß
unter allen beteiligten Menschen.
Die Forderungen, die sich aus unseren Prinzipien ergeben, wären sofort
erfüllbar. Radikale Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung auch der
unbezahlten Arbeit über Grundsicherung, Mindestlohn und Existenzsichernde
Teilzeitmodelle sind theoretisch und rechnerisch auch innerhalb einer Marktwirtschaft
umsetzbar.
Es werden machtpolitische Konstellationen sein, die das entscheiden.
1. Wir brauchen nicht "mehr Arbeit", sondern radikale Arbeitszeitverkürzung
Wie unter dem Einheitszwang der untergegangenen Kommandowirtschaft tönt
uns von allen Parteien entgegen: Um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen,
muss "mehr Arbeit" geschaffen werden - als wenn es nicht genügend gesellschaftlich
notwendige Arbeit gäbe, die gar nicht oder nur unbezahlt getan wird. Mit
"mehr Arbeit" meinen sie aber die Ausweitung schlechtbezahlter und prekärer
Beschäftigungsverhältnisse auf dem sogenannten 1. Arbeitsmarkt. Solche
"mehr Arbeit" kann nur mit mehr Wachstum erreicht werden.
Seit Ende der 70er Jahre erzählen uns Politiker und Unternehmer: Die Gewinne
von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen.
In den letzten 20 Jahren hat es mehrere Phasen mit enormen Wachstums- und Gewinnraten
gegeben - die Massenarbeitslosigkeit ist gestiegen und steigt weiter. Wir wollen
uns nicht weiter für dumm verkaufen lassen. Auch mit extremem Wirtschaftswachstum
wird es unter den gegebenen marktwirtschaftlichen Bedingungen keine Vollbeschäftigung
mehr geben.
Die weltweite Tendenz ist eindeutig: Mehr privater Reichtum wird mit weniger
bezahlter Arbeit produziert. Aber statt dass alle weniger arbeiten und mehr
Einkommen erzielen, müssen weniger Arbeitskräfte immer mehr arbeiten
und erhalten auch noch verhältnismäßig weniger Einkommen dafür.
Und immer mehr dürfen überhaupt nicht mehr bezahlt arbeiten und erhalten
gar kein Einkommen.
Wir sagen: Wir brauchen nicht "mehr Arbeit". Wir brauchen
radikale Arbeitszeitverkürzung.
Alle brauchen weniger Arbeit und eine gerechte Verteilung des
Einkommens.
Die Fakten
Bis zum Jahr 2005 fallen im Agrar-, Metall-, Staats-, Transport/Verkehrs-,
Handels- und Bausektor nach vorsichtigen Schätzungen mindestens weitere
1,6 Mio. Arbeitsplätze weg.
Die Beschäftigungsentwicklung im verarbeitenden Gewerbe verläuft
seit 1992 wieder negativ: allein von 1992 bis 1994 gibt es jährlich 1,2
% weniger Beschäftigte. Die Produktivität vollzieht dagegen ab 1993
einen neuen Niveausprung. Während das Produktivitätswachstum von 1986
bis 1993 pro Jahr um 2 % gestiegen ist, steigt es seitdem um jährlich 4,5
%, im Strassenfahrzeugbau als Schlüsselindustrie sogar um 7,5 %. Das IAB
dazu: "Die Beschäftigung in Unternehmen mit 20 und mehr Beschäftigten
werden in den Nächsten drei bis Fünf Jahren durchschnittlich um 50.000
Personen pro Jahr abnehmen. Die von den erwarteten kräftigen Produktionssteigerungen
ausgelösten Beschäftigungseffekte werden voraussichtlich durch überproportional
hohe Produktivitätssteigerungen mehr als kompensiert."
Das Arbeitsvolumen der deutschen Industrie ist innerhalb der letzen zwanzig
Jahre um 40,8 % geschrumpft. Nach dem Unternehmensberater McKinsey würden
9 von 33 Mio. Arbeitsplätze wegfallen, wenn die bereits heute verfügbare
Technik auch eingesetzt würde.
In ihrer "Analyse der Ertragslage" für 1997 kommt die Deutsche Bank zu
folgenden Ergebnissen: Die Gewinne der westdeutschen Unternehmen sind 1997 aufgrund
des Exportbooms, geringerer Steuerbelastung und stagnierender Personalkosten
im Schnitt um 30 Prozent gestiegen. Die arbeitsplatzschaffenden Investitionen
sind dagegen "noch" nicht in ausreichendem Maß gesteigert worden. Es sei
schon als Erfolg zu werten, wenn Unternehmen ihre Anlagen auf technischem Spitzenniveau
halten und hierzulande Arbeitsplätze mittel- und langfristig absichern.
Die stärksten Gewinnzuwächse um 40 Prozent konnten 1997 die Unternehmen
des Verarbeitenden Gewerbes erzielen. Der Anteil der Personalkosten an der Gesamtleistung
sank erneut. Mit 18,5 Prozent war er zuletzt um einen Prozentpunkt niedriger
als noch 1994.
Wenn angesichts dieser Entwicklung fast 7 Mio. Menschen keine bezahlte Arbeit
finden, ist nicht einzusehen, warum die Beschäftigten im Westen durchschnittlich
über 38 Stunden, im Osten sogar über 41 Stunden die Woche arbeiten.
Absurd ist, dass diese Beschäftigten pro Kopf und Jahr auch noch mehr
als 65 Überstunden leisten, 1995 allein 1.676 Mio. Stunden.
Das DIW sagt: "Würde in allen Betrieben und Branchen West- und Ostdeutschlands
bis zum Jahr 2000 die 35-Stunden-Woche eingeführt, die Zahl der Überstunden
halbiert, insbesondere im Osten mehr Teilzeitarbeit angeboten und sämtliche
Zuschläge Für Nacht- und Feiertagsarbeit in Freizeit ausgeglichen,
könnten rund 2,7 Mio. Arbeitsplätze zusätzlich geschaffen werden."
Was könnte also eine radikale Arbeitszeitverkürzung
bewirken!
2. Wir brauchen kein "Beschäftigungswunder" im Billiglohnbereich, sondern
eine gerechte Umverteilung der gesamten - auch unbezahlten - Arbeit zwischen
Männern und Frauen.
Wir Erwerbslosen sollen Für diejenigen die Haushalte putzen, die Kinder
betreuen, die Einkäufe besorgen, die Schuhe putzen und die Pizza liefern,
die das selbst nicht mehr schaffen, weil sie zuviel (erwerbs-) arbeiten. Viele
der neuen Jobs vor allem im Dienstleistungsbereich gibt es nur deshalb, weil
es in den anderen Bereichen keine Vernünftige Verteilung der Arbeit gibt.
Aber an einem gesellschaftlichen Zusammenleben, in dem es moderne Sklavenhalter
und Sklaven gibt, was sowohl die Arbeit als auch die Bezahlung betrifft, haben
wir kein Interesse.
Wir haben kein Interesse daran, gleichzeitig in zwei bis drei Arbeitsverhältnissen
rund um die Uhr arbeiten zu müssen und trotzdem nicht genügend Einkommen
Für ein menschenwürdiges Leben zu erhalten. Eine wachsende Klasse
von "working poor", von Menschen, die arm sind, weil sie nur unter katastrophalen
Bedingungen arbeiten dürfen, ist ausschließlich für die Unternehmer
von Vorteil.
Statt die gesamte Arbeit gerecht auf alle zu verteilen, so dass auch alle die
gesellschaftlich notwendigen Arbeiten wie Haushalt und Kindererziehung gleichermaßen
übernehmen müssen, Knüppeln die einen Überstunden für
den zweiten und dritten Urlaub im Jahr, während wir ihren Dreck wegräumen
sollen, um überhaupt was zu essen zu haben. Wer einmal in solchen Jobs
gearbeitet hat, wer Kinder und Haushalt hat, weiß, dass diese finanzielle
und soziale Klassenspaltung nicht etwa mit dem Leistungsprinzip begründet
werden kann. Wenn über Leistung und Bezahlung gesprochen werden soll: Zwei
Drittel der gesamten Arbeit in dieser Gesellschaft wird unbezahlt und überwiegend
von Frauen verrichtet. Das sind nicht die Luxusarbeiten, die zur Verschönerung
des Lebens der Reichen dienen: Freizeit, Urlaub und Fitneß. Es sind die
gesellschaftlich notwendigen Arbeiten. Ohne Kindererziehung, Hauswirtschaft
und Wiederherstellung der (männlichen) Arbeitskraft würde auch im
Kapitalismus nichts passieren. Diese Leistungen nimmt sich die Marktwirtschaft
ohne Bezahlung - im Gegenteil: Wer Kinder großzieht, wird dafür mit
dem Risiko belohnt, zu verarmen.
Das "Beschäftigungswunder" im Dienstleistungssektor kann es nur geben,
wenn auch immer mehr und immer wieder neue und völlig überflüssige
Produkte und Dienstleistungen auf den Markt geworfen werden. Einmal abgesehen
davon, dass wir gar nicht genügend Einkommen für steigenden Konsum
zur Verfügung haben, führt dieser Weg geradezu in die globale ökologische
und soziale Katastrophe.
3. Wir brauchen keinen Arbeitszwang, keine Schikanen und Kontrollen, sondern
ein existenzsicherndes Einkommen und eine - nicht nur finanzielle - Teilhabe
am gesellschaftlichen Leben.
Die "Behinderungen" des Arbeitsmarktes
Nach der kapitalistischen Wachstumslogik gefährden Soziale Sicherungsleistungen
und zu hohe Lohn- und Lohnnebenkosten das Beschäftigungswachstum und die
Konkurrenzfähigkeit des "Standort Deutschland". "Arbeitsanreize" müssen
durch den Abbau von Sozialleistungen geschaffen werden. Die Erwerbslosen und
Sozialhilfeberechtigten, die durch ihr weibliches Geschlecht, ihr Alter oder
ihre Jugend, ihre fehlende oder falsche Qualifikation "behindert" sind, müssen
durch erzwungene Arbeit, Beschäftigungsmaßnahmen und untertarifliche
Bezahlung "wieder fit" für den "ersten Arbeitsmarkt" gemacht werden. Auch
wenn nur die wenigsten dort einen Platz finden: So werden sie nochmals ausgesiebt,
untereinander und gegen die Beschäftigten ausgespielt, auf "Arbeit" vertröstet.
Sie begreifen und organisieren sich nicht als eine neue Klasse, die das Opfer
der modernen Produktionsverhältnisse ist. Sie werden als vereinzelte Individuen
"in Bewegung gehalten", damit sie gesellschaftlich nichts in Bewegung setzen.
Der "Rest" wird als endgültig "überflüssig" der Armut und Verelendung
überlassen.
Wenn die Weltmarktkonkurrenz über die Einkommenshöhe und die soziale
Absicherung der Menschen entscheiden soll, wo soll die Grenze nach unten für
uns verlaufen: beim Einkommen einer Arbeiterin in Südkorea? Gleichzeitig
sollen wir aber hier wohnen, arbeiten und konsumieren zu steigenden Preisen.
Eine absurde Spirale nach unten, die weltweit auf Kosten der Armen und Ausgegrenzten
geht. Warum soll es eigentlich besser sein, wenn asiatische Menschen erwerbslos
sind statt deutsche Menschen?
Ein Erwerbsloser hat im Prinzip alles verkehrt gemacht –
der Arbeitsmarkt kann prinzipiell nichts verkehrt machen?!
Die Forderung nach einem "Recht auf Arbeit"
Wir halten auch wenig von der Forderung nach einem "Recht auf Arbeit". Sie
geht unter den jetzigen Bedingungen des Arbeitsmarktes eher nach hinten los,
- weil sie die realen Bedingungen von Lohnarbeit außer acht lässt.
Arbeit an sich ist kein besonders erstrebenswertes Ziel, auch nicht mit einem
Rechtsanspruch. Und auch der Zusatz, man fordere ja "sinnvolle Arbeit", ändert
nichts am prinzipiell fremdbestimmten Charakter kapitalistischer Arbeit;
- weil mit zunehmender Rationalisierung und Technisierung der Produktion immer
weniger Lohnarbeiter gebraucht werden;
- die sie die Lohnarbeit zum Lebensinhalt hochstilisiert, obwohl es zuerst
um eine ausreichende materielle Lebenssicherung geht;
- weil sie sich primär auf staatliches Handeln verlässt. Weder kann
der Staat die Arbeitgeber zwingen, Arbeitsplätze zu schaffen, noch ist
er selbständig in der Lage, massenweise Erwerbslose in den Arbeitsmarkt
zu integrieren. Historisch und aktuell gesehen tritt staatliche Arbeitsbeschaffung
immer in Doppelfunktion auf: als erzwungener Arbeitseinsatz und mit untertariflicher
Bezahlung. Der Weg vom Recht zum Zwang ist, wie die Erfahrungen des Nationalsozialismus
zeigen, ein sehr kurzer.
Diese Befürchtungen sind nicht weit hergeholt. Die autoritär-staatliche
Formierung durch Zwangseinsätze gegenüber Erwerbslosen und SozialhilfebezieherInnen
hat besonders in den letzten Jahren zugenommen.
Die Grundrechte des Grundgesetzartikels 12 verlieren für bestimmte Bevölkerungsgruppen
ihre Gültigkeit. Soziale Leistungen müssen mit dem Zwang zur Arbeit
"erkauft" werden. Die Arbeitspflicht erhält Vorrang vor der grundgesetzlichen
Bindung des Staates und seiner Institutionen. Die staatliche Demokratie wird
dem Primat des autoritären Rechtsstaats unterworfen: Wer nicht arbeitet,
soll auch nicht essen. Einen negativen Höhepunkt fand diese Politik mit
dem Asylbewerberleistungsgesetz gegen Immigranten und Asylbewerber: Sie dürfen
nicht (erwerbs)arbeiten, aber die Sozialhilfe und Gesundheitsversorgung wurde
unter das Existenzminimum gekürzt.
Diese Entwicklungen finden auf europäischer Ebene statt. Die Europäisierung
der Sozialpolitik hat besonders zwei Aspekte im Auge: Die weitere Reduzierung
der Kosten für Sozialleistungen und den Ausbau von Zwangsmaßnahmen.
In diese Richtung gehen bereits die unterschiedlichsten "Beschäftigungsprogramme"
in England, Dänemark, Schweden und Finnland, nicht selten unter sozialdemokratischer
Federführung.
Die Reform der Sozialen Sicherung
Aus dieser Erfahrung betrachten wir alle "Reform" vorschläge besonders
argwöhnisch, die Erwerbslose "wieder in Arbeit" bringen sollen, wenn sie
nicht die Organisation und Verteilung der Arbeit überhaupt thematisieren.
Wir sagen: Nicht die Erwerbslosen sind krank, sondern der Arbeitsmarkt. Wenn
schon die Sozialhilfe nicht für eine wirkliche, menschenwürdige Teilhabe
am gesellschaftlichen Leben reicht, warum sollten Menschen dann für noch
weniger Geld freiwillig arbeiten? Wie sollen Mütter arbeiten, wenn ihnen
keine gute und kostenlose Kinderbetreuung angeboten wird? Wenn Frauen durchweg
ein Drittel weniger für die gleiche Arbeit erhalten? Wenn sie von einem
der vielgepriesenen Teilzeitjobs nicht einmal die Miete zahlen können?
Wir sagen: Solange nicht sinnvolle und existenzsichernde Arbeitsplätze
für alle organisiert werden und die Ausschöpfung aller Sozialleistungen
kein ausreichendes Einkommen bringt, ist die Schwarzarbeit der Erwerbslosen
ein Akt der Notwehr, gesellschaftlich berechtigt und sollte nicht kriminalisiert
werden.
Neue Arbeitsplätze in der Marktwirtschaft entstehen, wenn der Einsatz
menschlicher Arbeitskraft billiger ist als der Einsatz von Maschinen. Die Schaffung
von "mehr Arbeit" bedeutet deshalb einen Angriff auf die Höhe der Löhne
von allen abhängig Beschäftigten. Die Umverteilung von Arbeit könnte
auch ein Angriff auf die Gewinne von großen Konzernen sein: Auf nicht
investierte Gewinne, auf hinterzogene Steuern, auf Spekulationsgewinne, auf
Rationalisierungsgewinne, auf Millionenvermögen, auf Luxusgüter usw.
So entwickelt sich nach Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe die Sozialhilfe
zum letzten Bollwerk gegen die Einführung eines ausgedehnten Billiglohnsektors.
"Lohnabstandsgebot", "Kombilohn", "Bürgergeld", "Negative Einkommenssteuer",
und wie die verschiedenen Modelle zur Reform der Sozialen Sicherung alle heißen:
Sie sind mehr oder weniger verkappte Angriffe auf dieses Bollwerk.
Wir haben drei einfache und sichere Beurteilungsmaßstäbe für
alle Modelle:
- Werden uns durch die Einführung sinnvolle und existenzsichernde Arbeitsplätze
angeboten?
- Haben wir nach der Einführung ein existenzsicherndes Einkommen in der
Tasche?
- Gibt es nach der Einführung mehr oder weniger Zwang zur Annahme von
(nicht-existenzsichernden) Arbeitsverhältnissen?
Unsere Antwort auf existenzielle Probleme: Existenzgeld
Wir fordern 1.500 DM plus Warmmiete monatlich als Existenzgeld, unabhängig
von Nationalität, Geschlecht und Familienstand und ohne den Zwang zur Arbeit.
Jede deutliche Verbesserung gegenüber der Sozialhilfe begrüßen
wir als einen richtigen Schritt in diese Richtung.
Das Existenzgeld ist eine solidarische Grenze
gegen Verarmung, Ausgrenzung und Ausbeutung –
ein faktischer Mindestlohn, unter dem niemand arbeiten muss!
Existenzgeld ist der Stachel, der die Ungerechtigkeit in Frage stellt,
- daß Einkommen und gesellschaftliche Teilhabe ausschließlich
an die Lohnarbeit gekoppelt wird, obwohl immer weniger Menschen eine bekommen
können,
- daß die Arbeit, ohne die eine Gesellschaft nicht existieren könnte,
wie Hausarbeit, Kindererziehung, Wiederherstellung der Arbeitskraft, überhaupt
nicht bezahlt wird, obwohl sie einen größeren Anteil hat als die
Lohnarbeit,
- daß die "Bewertung" eines Menschen ausschließlich über
seine Lohnarbeit, sein Einkommen und seinen Konsum bestimmt wird, obwohl darüber
Konkurrenz, Rücksichtslosigkeit und Gewalt zwischen die Menschen gebracht
wird statt Solidarität, gegenseitiger Hilfe und Toleranz.
Wir möchten noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen: Diese Gesellschaft
ist nicht etwa ärmer geworden, sondern reicher. Wir reden heute nicht von
einer Mangelkrise wie nach dem 2. Weltkrieg, als es zu wenig zu essen, zu wenig
Wohnraum und zu wenig Bekleidung gab. Wir haben eine Reichtumskrise: das Bruttoinlandsprodukt
(BIP) war bereits 1990 doppelt so hoch wie 1970, diese Gesellschaft ist heute
doppelt so reich wie noch vor zwanzig Jahren! Und trotzdem hat es noch nie so
viele Arbeitslose, Sozialhilfeberechtigte und Arme gegeben wie heute. Die Krise
ist also eine Verteilungskrise von Einkommen und Arbeit. Aber das Programm der
gesellschaftlicher Umverteilung dieses Reichtums lautet seit zwanzig Jahren:
Immer weniger Beschäftigte zahlen immer mehr Steuern und Sozialversicherungsbeiträge
und schaufeln die produzierten Werte zu den Reichen, die immer weniger Steuern
und Sozialversicherungsbeiträge zahlen, aber immer mehr Leute entlassen.
Wirtschafts-und Sozialpolitik wird seit zwanzig Jahren auf Kosten dieser Entlassenen,
der Erwerbslosen, Armen und Ausgegrenzten betrieben. Jede weitere Kürzung
unserer Einkommen lehnen wir ab.
Die Fakten
Die Lohnquote liegt Mitte der 90er unter dem Niveau der 70er Jahre, während
die Nettokapitalrendite deutlich über dem Durchschnitt liegt.
Während 1960 der Anteil der von Unternehmern und Selbständigen zu
zahlenden Unternehmens, Vermögens- und Einkommensteuern am gesamten Steueraufkommen
noch bei rund 35 % lag, sank er bis 1994 auf etwa 16 %, und ist seit dem z.B.
durch die Abschaffung der Vermögenssteuer nochmals deutlich geringer geworden.
Umgekehrt stieg der Anteil der ganz überwiegend von den Lohnabhängigen
aufzubringenden Lohn- und Umsatzsteuern an der Steuerlast von 51,8 % in 1960
auf 68,4 % im Jahr 1994 und dürfte nicht zuletzt wegen einer weiteren Erhöhung
der Mehrwertsteuer 1997 auf über 70 % gestiegen sein.
Nach einer Statistik des Bundesarbeitsministeriums stiegen die Nettoeinkommen
der Arbeitnehmer zwischen 1982 und 1994 um 50,6 %, die der Unternehmer im gleichen
Zeitraum um 156 %. Zwischen 1993 und 1997 sanken die Einkommen der Arbeitnehmer
nach Angaben des Statistischen Bundesamtes netto und unter Berücksichtigung
der Inflationsrate um 3 %, während die Unternehmergewinne netto und inflationsbereinigt
um 48 % stiegen.
Der Anteil der Sozialleistungen am BIP hat sich bereits von 1980 bis 1992 von
28,7 % auf 27,3 % verringert. Dies wird auch deutlich beim Betrachten der drastischen
Sozialkürzungen in den letzten fünf Jahren, die in der Geschichte
der Bundesrepublik beispiellos sind. Seit 1982 hat es nach Angaben der Arbeiterkammer
Bremen insgesamt über 200 Einschnitte ins soziale Netz gegeben. Bei fast
allen handelte es sich um Änderungen, die sich auf Einzelleistungen bezogen
haben. Das hat sich mit der letzten Wirtschaftsrezession geändert: 1993
und 1994 , d.h. innerhalb von nur zwei Jahren, wurden gleich mehrere grossdimensionierte
Kürzungen verabschiedet. Mit dem Gesetz zur Umsetzung des Föderalen
Konsolidierungsprogrammes (FKPG) im Rahmen des sogenannten "Solidarpakts" wurde
im Juli 1993 der Anfang gemacht. Im Rahmen dieses Gesetzespakets sollten 23
Mrd. DM eingespart werden.
Dazu gehörten:
- Asylbewerberleistungsgesetz - AsylbLG - Juni und Dezember 1993,
- Erstes und zweites Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und
Wachstumsprogrammes,
- und 2. SKWP - 1994,
- Beschäftigungsförderungsgesetz - BeschfG - August 1994,
- Arbeitslosenhilfe-Reformgesetz - Juni 1996,
- Gesetz zur Reform des Sozialhilferechts - Juli 1996,
- Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz - WFG - September
1996,
- Arbeitsförderungs-Reformgesetz - AFRG - März 1997,
- Änderung des Asylbewerberleistungsgesetz ab Juni 1997,
- Ersetzung des AFRG durch das wesentlich repressivere SGB III - Januar 1998.
Die Folgen dieser Gesetzesänderungen lassen sich nur schwer in wenigen
Worten beschreiben. Allein mit dem Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz
vom September 1996 sollen 50 Mrd. DM bis zum Jahre 2000 bei den Arbeitslosen,
SozialhilfebezieherInnen und zukünftigen RentnerInnen eingespart werden.
Norbert Blüm rühmte sich im Januar damit, dass durch Gesetzesänderungen
seines Hauses Einsparungen bei Erwerbslosen in Höhe von 98 Mrd. DM allein
1997 erzielt worden seien.
Vor allem dienten die Gesetzesänderungen dazu, Leistungen pauschal zu
kürzen oder einzufrieren, die Förderprogramme im Rahmen einer aktiven
Beschäftigungspolitik und einer Qualifikationsstabilisierung herunterzufahren,
Teile der Bevölkerung, vor allem AsylbewerberInnen, selbst noch unter das
durch die Sozialhilfe definierte Existenzminimum zu drücken oder sogar
ganz auszuschließen, Arbeitslose auf einen zweiten Arbeitsmarkt zu verweisen
und ihnen Löhne unterhalb der Tarifgrenzen zuzumuten, erhöhten Druck
zur Aufnahme einer gering entlohnten Beschäftigung auszuüben und für
die Zukunft ein Heer verarmter RentnerInnen zu produzieren.
Was gab es zum Beispiel an Veränderungen:
- Reduzierung geplanter Anhebungen der Sozialhilfe-Regelsätze ab 1.7.93,
- Ausgrenzung von AsylbewerberInnen aus dem Sozialhilfebedarfssystem ab 1.11.93,
zum Beispiel Zahlung eines Betrages, der unter den Sozialhilfesätzen
liegt, für ein Jahr im Anschluss an den Asylantrag, für die dafür
von drei Jahren ab 1.6.97, Übernahme von Kosten einer medizinischen Behandlung
nur noch in akuten Notfällen,
- Kürzungen sämtlicher Leistungen wie Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe,
Unterhalts-, Übergangsgeld zum 1.1.94,
- Erschwerung des Zugangs zu Leistungen des Arbeitsamtes, zum Beispiel durch
Befristung der originären Arbeitslosenhilfe auf ein Jahr ab 1.1.94,
- Einschnitte bei der Höhe der zu zahlenden Leistungen durch Verlängerung
des Bemessungszeitraumes von drei auf sechs ab 1.1.94, auf zwölf Monate
ab 1.1.98,
- Erschwerung des Zugangs zu Rehabilitationmaßnahmen, unter anderem
durch Umwandlung der Kosten in eine Ermessensleistung ab 1.4.97,
- Kürzung des Gehalts bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auf zuerst
90 % ab 1.1.95, auf 80 % des Tariflohns ab 1997,
- Änderung der Sozialversicherungsgrenzen, Änderung in der Rentenbemessungszeiten,
Senkung des Krankengeldes ab Oktober 1996,
- Einfrieren der jahresüblichen Steigerungsraten der meisten Sozialleistungen
im Jahr 1997,
- Verschärfte Kontrollen und Schikanen gegen Erwerbslose durch Einführung
von Meldekontrollen, Trainingsmassnahmen, Ernteeinsätzen und die Verschärfung
der Zumutbarkeitsregelungen im Rahmen des SGB III,
- Streichung sämtlicher Sozialleistungen bis auf das "Unabweisbare" ab
Juni 1998 an bestimmte Flüchtlinge, denen bspw. vorgeworfen wird durch
Verlieren/Vernichten/mangelhafte Mitwirkung ihre "Ausreise" zu verzögern
bzw. zu verhindern.
Diese unvollständige Liste zeigt, mit welchen Schwierigkeiten Arbeitslose,
SozialhilfebezieherInnen, Geringverdienende bzw. Teilzeitbeschäftigte,
AsylbewerberInnen sowie RentnerInnen in den letzten vier Jahren konfrontiert
worden sind. Sie mussten teilweise erhebliche Leistungskürzungen hinnehmen.
Reformen aus dem Bereich des Kranken- und Rentenversicherungsrecht sowie aus
dem Pflegebereich sind in der Liste noch nicht einmal aufgeführt.
III. Auf zu einer unabhängigen und radikalen Selbstorganisation
Unser Verhältnis zu den Gewerkschaften
Gewerkschaften in Deutschland sind nur bedingt in der Lage, die Erwerbslosen
tatkräftig und solidarisch zu unterstützen. Ihr Umgang mit uns bei
den Demonstrationen gegen Sozialabbau, beim Euro-Marsch, zuletzt bei den Aktionstagen
und vor allem der geplanten bundesweiten Abschlussdemonstration der Aktionstage
am 12. September hat uns gelehrt, dass sie eher mit Unterstellungen, Spaltung
und Abgrenzung gegenüber eigenständigen Bewegungen an der Basis reagieren,
als nur einfach einmal souverän und praktisch solidarisch zu sein. Eine
eigenständige, unabhängige Protestbewegung oder gar Organisation der
Erwerbslosen bedeutet offensichtlich praktische Kritik an der Gewerkschaftspolitik,
mit der sie nicht solidarisch umgehen können.
Wir begreifen nicht, warum die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften die
Verteidigung und Ausweitung einer Sozialen Mindestsicherung nicht aus ureigenstem
Interesse an einem Mindestlohn zu ihrem eigenen Kampf machen. Solange Arbeit,
Einkommen und die Form der Sozialen Sicherung die Beschäftigten, Jobber,
Erwerbslosen und Sozialhilfeberechtigten spalten und gegeneinander ausspielen,
solange es für die überwiegende Mehrheit der Lohnabhängigen nicht
hinnehmbar ist, dass Leute, die nicht (erwerbs-) arbeiten, genau so viel Geld
erhalten wie Leute, die arbeiten, wird unser Verhältnis zu ihnen eines
der Überzeugungsarbeit und Rechtfertigung bleiben müssen - aus einer
eigenständigen, unabhängigen Organisation heraus.
Unser Verhältnis zu den Aktionstagen
Die Aktionstage der Erwerbslosen im vergangenen dreiviertel Jahr haben gezeigt,
dass entgegen allen "wissenschaftlichen" Untersuchungen Erwerbslose sehr wohl
in der Lage sind, sich zu organisieren und Widerstand zu leisten. Über
50.000 Menschen in mehr als 200 Städten sind über Monate regelmäßig
auf die Strasse gegangen und haben mehr oder weniger radikal gegen ihre Ausgrenzung
und Verarmung protestiert. Dieser Protest muss inhaltlich, organisatorisch und
praktisch weitergeführt werden!
Die Aktionstage haben aber auch gezeigt, dass wir uns mit unseren Positionen
in einer Minderheit befinden. Es tat weh zu sehen, wie in den Medien die radikalen
und konsequenten Aktionen völlig ausgeblendet und dafür die Jammer-
und Opferhaltung einiger Erwerbsloseninitiativen in den Vordergrund gespielt
wurden. Unser Protest darf sich nicht auf "Klagemauern", "Kohlsuppen", "Arme–Socken-Teppiche"
und Parolen wie "Wir wollen Arbeit" und "Kohl muss weg" reduzieren lassen. Wir
dürfen uns keine Illusionen machen. Gegen die geballte Macht von Unternehmerverbänden,
Politik und Medien und solange die Gewerkschaften ihre Politik nicht konsequent
auch auf Erwerbslose und Arme ausrichten, haben wir keine Chance, unsere Interessen
auch nur öffentlich zu machen, wenn wir nicht laut werden, radikale Forderungen
erheben, mit Aktionen begrenzte Regelverstöße riskieren und den "Frieden"
empfindlich stören, den die Gesellschaft mit der Arbeitslosigkeit geschlossen
hat.
Als unabhängige Organisation solidarische Bündnisse organisieren
Bei den Aktionstagen hat es erste Ansätze dafür gegeben. Wo die Aktionen
konsequent, radikal und mit Mut und Entschlossenheit organisiert und durchgeführt
wurden, waren sie häufig Ergebnisse von Bündnissen der Erwerbslosen
mit Antifa-, Autonomen-, Anti-Atom-, Frauen- und StudentInneninitiativen, kritischen
Gewerkschaftern, SchülerInnen. Es wurden Arbeitsämter über Nacht
besetzt, Börsen gestürmt, Banken und Autohäuser besetzt, Strassen
blockiert, Lebensmittel ohne Bezahlung aus Supermärkten organisiert.
Wo wir unsere gesellschaftliche Ohnmacht durchbrechen, wo gegenseitige Hilfe
zur Aneignung von unten wird, wo wir Erfahrungen von Macht, Selbstbestimmung
und Autonomie machen, werden wir zu einer Sozialen Bewegung. Trotz aller Kritik
sind die Protesttage der erfolgreichste (und einzige?) praktische Organisationsansatz
der letzten Jahre in dieser Richtung.
Eine Soziale Bewegung der Erwerbslosen trägt den Keim der Verallgemeinerung
in sich: Durch die Frage der Organisation und Verteilung von Arbeit und Einkommen
schillert das Problem der gesamten Organisation, die eine Gesellschaft sich
gibt. Soziale Bewegungen auf der ganzen Welt richten sich gegen die Ausgrenzung
der "Überflüssigen" und klagen ihr Existenzrecht, die Menschenwürde
und gesellschaftliche Teilhabe ein. Über die jüngsten Proteste und
die Europäischen Märsche werden multinationale Kontakte ausgeweitet,
vertieft und Forderungen und Aktionen aufeinander abgestimmt.
Die Erwerbslosen- und SozialhilfeInitiativen müssen sich dafür neu
auch auf Bundesebene organisieren: Autonom und politisch selbstbestimmt, aber
in Bündnissen mit anderen Initiativen. Schon bald nach dem Regierungswechsel
wird es auch eine neue Bereitschaft und Einsicht vieler Menschen innerhalb der
Gewerkschaftsorganisationen geben, eine oppositionelle Praxis mit den Erwerbslosen
und anderen Gruppen zu entwickeln. Ein Gelingen dieser Bündnisse wird überlebensnotwendig
sein - für beide Seiten.
Wer, wenn nicht wir, soll den Anfang machen?
Bad-Bevensen im Januar 1999
das frankfurter arbeitslosenzentrum (falz), solmsstr.1a, 60486 frankfurt/m., 069/700425 (tel.)
die arbeitslosenselbsthilfe oldenburg (also), kaiserstr. 19, 26122 oldenburg, 0441/16313 (tel.)