HILFE IM HANDGEMENGE.

PERSPEKTIVEN INTERNATIONALER SOLIDARITÄT GEGEN DIE HERRSCHENDEN WELTVERHÄLTNISSE.

 

1968 - ...

medico international wurde im Mai 1968 in Frankfurt gegründet. Damals übermittelt das Fernsehen allabendlich und in Nahaufnahme Bilder der Verheerungen, die die Kriege in Vietnam und Biafra anrichten. Solche Bilder waren noch ungewohnt, erzeugten wenigstens moralische Empörung, bald auch politischen Protest, schließlich organisierten Widerstand. Der Verein medico setzt sich schnell wirksame „Katastrophenhilfe“ zum Ziel: Die ersten Mitglieder schreiben Hunderte von Ärzten an und sammeln Medikamente, um sie den Kriegs- und Hungeropfern zukommen zu lassen. Schnell wächst der Verein, erweitert sich der Umfang der Aktivitäten. Ein erstes Medikamentenlager im Abstellraum einer Kirche reicht schon bald nicht mehr aus, medico findet größere Räume in einem Studentenwohnheim. In öffentlichen Veranstaltungen an der Universität werden die Gelder gesammelt, mit denen im August 1968 eine erste Medikamentensammlung nach Biafra ausgeflogen wird.

 

Der Internationalismus der Neuen Linken

Die Revolten des Mai 68 waren der Höhepunkt der ersten tatsächlich weltweiten Emanzipationsbewegung. In den Ländern des Nordens brachen vornehmlich die jüngeren Generationen aus dem politischen und kulturellen Konsens einer „Konsumgesellschaft“ aus, in der sich „sozialer Fortschritt“ auf die Endlosschleifen fordistischer Massenproduktion reduziert hatte. In den Ländern des Ostens wuchsen seit dem Tod Stalins Hoffnungen auf einen Liberalisierungsprozeß, der den autoritären Staatssozialismus demokratisch verwandeln könnte. In Asien, Afrika und Lateinamerika förderten die siegreichen antikolonialen Revolutionen Algeriens, Kubas und Vietnams die Ausbreitung einer Vielzahl von Befreiungskämpfen, die den überkommenen Kolonialismus weltweit zusammenbrechen liessen.

Mitte der sechziger Jahre hat sich nahezu überall das Bewußtsein über den inneren Zusammenhang dieser Kämpfe verbreitet; „internationale Solidarität“ wird zunehmend nicht mehr als symbolischer Akt, sondern als konkret umzusetzende Strategie einer „Globalisierung der revolutionären Kräfte“ begriffen:

„Jede radikale Opposition gegen das bestehende System, das uns mit allen Mitteln daran hindern will, Verhältnisse einzuführen, unter denen die Menschen ein schöpferisches Leben ohne Krieg, Hunger und repressive Arbeit führen können, muß heute notwendigerweise global sein. Diese Globalisierung der revolutionären Kräfte ist die wichtigste Aufgabe der ganzen historischen Periode, in der wir heute leben und in der wir an der menschlichen Emanzipation arbeiten. Die Unterprivilegierten in der ganzen Welt stellen die realgeschichtliche Massenbasis der Befreiungsbewegungen dar; darin allein liegt der subversiv-sprengende Charakter der internationalen Revolution.“1

Der strategische Vorgriff auf die Internationalisierung der Revolten war allerdings nicht frei von Projektionen. So verband sich die Anrufung der „Unterprivilegierten der ganzen Welt“ mit einer mehr als unkritischen Idealisierung der „revolutionären Völker des Trikont“. Ähnlich dem Kultus des Proletariats im Marxismus der Arbeiterbewegung wurde das „kämpfende Volk“ als  natürliche‘ Einheit der Unterdrückten und bestimmendes Subjekt der Weltgeschichte verstanden. In der Gefolgschaft dieses Über-Subjekts wurde das eigene politische Handeln voluntaristisch überhöht und nach einem reduzierten Freund-Feind-Schema ausgerichtet: gut/böse; wir unten/sie oben; unterdrückte Massen/herrschende Cliquen usw. Der Idealisierung des Volks-Subjekts entsprach die Idealisierung der in den „Volkskriegen“ praktizierten Gewalt und die romantische Verklärung eines ausgerechnet im Kampf sich bildenden „neuen Menschen“ – wiederum Muster, die dem Proletkult der Arbeiterbewegung nachgebildet waren. Trotz dieser z. T. fatalen Projektionen ging der neu-linke Internationalismus nicht in seiner eigenen Ideologie auf.2 Statt dessen etablierte er allererst das Bewußtsein dafür, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse der metropolitanen Länder auf der kolonialen und neo-kolonialen Ausplünderung der Menschen in der Peripherie aufruhen und ohne diese durch nackte Gewalt reproduzierte Ausplünderung nicht einen Tag länger bestehen könnten. Emanzipatorische Politik kann deshalb nur als internationalistische Politik wirklich werden - oder gar nicht.

 

Von der „Katastrophen-“ zur „Befreiungshilfe“

Die Geschichte medicos resultiert aus diesem Beginn.3 Im Zuge einer aus der Praxis selbst motivierten Politisierung im Verlauf der siebziger Jahre wird die ursprünglich moralisch begründete „Katastrophenhilfe“ nach und nach zur „Befreiungshilfe“ entwickelt. Diese setzt auf eine langfristig angelegte „Projektarbeit“, deren Ziel die politische, kulturelle und ökonomische Autonomie der Menschen ist, für die und mit denen sie unternommen wird. Ansatzpunkt bleibt die Gesundheit, die jetzt aber nicht mehr durch ausreisende Ärztinnen und Ärzte oder den Export westlicher Medizin, sondern durch den Aufbau autonomer Basisgesundheitsdienste gefördert werden soll. Im medico-Selbstverständnis wird dies schließlich wie folgt formuliert:

„Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit!

Die »Weltgesundheitsorganisation« (WHO) hat eine vielbeachtete Definition gegeben, die auch die Tätigkeit von medico international leitet: »Gesundheit ist der Zustand des physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens.« - Der weit gefaßte Rahmen verdeutlicht den politischen Gehalt des Begriffs. Gesundheit bestimmt sich nicht über die Frage, zu wie vielen medizinischen Angeboten ein Mensch Zugang hat. Denn das menschliche Wohlbefinden wird nur in zweiter Linie von Ärzten, Arzneimitteln oder Krankenhäusern beeinflußt. In erster Linie sind es ausreichende Ernährung und Einkommen, menschengerechte Wohnverhältnisse und selbstbestimmte Entfaltungsmöglichkeiten, persönliche Identität und lebendige Kultur, die gesellschaftliche Respektierung der Rechte der Menschen.

Physis

Die physische Dimension offenbart, wie mit der ungleichen Verteilung der weltweit verfügbaren Überlebensressourcen jeweils andere Krankheitsbilder korrespondieren: hier, in den reichen Ländern, bedingen der übermäßige Konsum von zumeist ›industrialisierten‹ Nahrungsmitteln und die entfesselte Produktion mit ihren entfremdeten Arbeitsbedingungen sogenannte »Zivilisationskrankheiten« (Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Vergiftungen, Allergien, Krebs). Dort, in den armgehaltenen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas bestimmt der allgegenwärtige Mangel die »Massenkrankheiten der Armut«, hinter denen hauptsächlich Infektionskrankheiten stehen, die häufig deshalb tödlich verlaufen, weil die Menschen durch Unterernährung körperlich geschwächt sind.

Psyche

Auf ein weiteres Mißverhältnis verweist die psychische Ebene. In den industrialisierten Ländern ist die Auflösung einer unverwechselbaren menschlichen Identität bereits weit vorangeschritten, darüber kann auch die rastlose »Identitätssuche« so vieler Menschen in unserer Gesellschaft nicht hinwegtäuschen. Atom- und Gentechnologie verdeutlichen exemplarisch, wie die von Menschenhand geschaffenen Produkte sich nicht nur zu einer »zweiten Natur« verselbständigt, sondern sich längst auch der Sinne der Menschen bemächtigt haben. An die Stelle von Subjektivität ist eine eigenschaftslose Warenförmigkeit getreten: Personen sind austauschbar, ihr Wert bemißt sich danach, wie sie dem ökonomischen Prinzip dienen. Die gesundheitlichen Folgen: Vereinsamung, Ängste, Drogenmißbrauch, psychosomatische Erkrankungen oder Depression, die unbemerkt zur Weltkrankheit Nr. 1 avanciert ist.

Auch in den südlichen drei Kontinenten ist dieser Prozeß heute in vollem Gange. Überall dort, wo der vorrückende Weltmarkt mit seinen standardisierten Angeboten auf noch erhaltene, ihm unverträgliche Identität trifft, auf ein Bewußtsein, das authentisch-unmittelbare Bedürfnisse zeitigt, herrscht Krieg, drängen Folter und Staatsterrorismus auf Gleichschaltung und die Vertreibung des Menschlichen.

Sozial

Zur modernen »Ellenbogengesellschaft« gehört die Konkurrenz aller gegen alle, die in ihrem Wesen jedem sozialen Zusammenleben entgegensteht. Sie erzeugt eine Form von Anti-Kultur, die nur deshalb überdauert, weil sie die Möglichkeit aktualisiert, sich nach außen von den Unterlegenen abgrenzen zu können. Brechen aber im Inneren solcher ›Zitadellenkulturen‹ die dem einzelnen gewährten Kompensationsangebote zusammen, kommt es zum sozialen Konflikt: zu Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, zur Korruption, Vorteilsnahme, also zu »sozialer« Kriminalität.

Die Realität in den Ländern der drei südlichen Kontinente ist miserabel. Ihre Menschen bieten wenig Anlaß zur Idealisierung. Weil die sozialen Unterschiede ausgeprägter sind und häufig mehrere sich widersprechende Modelle von gesellschaftlichem Zusammenleben nebeneinander existieren, treten Mißstände und Konflikte viel krasser zutage. Prozesse der inneren Kolonisierung, der faktischen Versklavung bis hin zum Genozid an indigenen Völkern bestimmen die ungesunde und tödliche Wirklichkeit dieser Gesellschaften. Dagegen regt sich auf verschiedenen Ebenen Widerstand.“

Allerdings stellt die Ersetzung von Medikamentenversand und Personaleinsätzen durch qualifizierte gesundheitspolitische Projekte in gleichberechtigter Kooperation mit lokalen Partnerorganisationen nur den ersten Schritt der „Befreiungshilfe“ dar. Ebenso entscheidend ist, daß die Entwicklungszusammenarbeit in einen umfassenden politischen Kontext gestellt wird. In diesem geht es über die einzelne Hilfsmassnahme hinaus um grundlegende gesellschaftliche Veränderungen - weltweit. Deshalb betreibt medico Projekthilfe vornehmlich dort, wo nationale Befreiungsbewegungen um die Unabhängigkeit von kolonialer und neo-kolonialer Ausbeutung oder den Sturz diktatorischer Regime kämpfen: Auf den Kapverden, in Palästina, auf den Philippinen, in Burkina Faso, in Mexiko, Nicaragua, Guatemala, El Salvador, Chile, in Südafrika und Namibia sowie in den verschiedenen Teilen Kurdistans.

So verstandene „Befreiungshilfe“ wird durch eine kritische Öffentlichkeitsarbeit vermittelt, die sich früh vom alleinigen Zweck der Spendenbeschaffung löste. Ziel dieser Öffentlichkeitsarbeit war und ist die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse im eigenen Land:

„Öffentlichkeitsarbeit,

die mehr beinhaltet als das Verbreiten von Information in einer Gesellschaft, in der eher zuviel als zuwenig »Nachrichten« verbreitet werden, deren Zusammenhang und tieferer Sinn sich der Einsichtsmöglichkeit der einzelnen aber entzieht. Das Aufdecken von Verblendungszusammenhängen in unserer Gesellschaft und in unserem Verhältnis zu den Menschen in Lateinamerika, in Asien und in Afrika ist der einzige Weg, uns als Subjekte wiederbegegnen zu können. Dazu gehört die Konfrontation mit der eigenen Geschichte und mit der Geschichte der kolonialen Durchdringung, die von Europa ausging. Dazu gehört auch, die Differenz zwischen Anpassung und Widerstand virulent zu halten und Bewußtsein darüber herzustellen, daß wir als Europäer an einem grenzenlosen Zerstörungsprozeß beteiligt sind, in dem es nicht nur Sieger und Besiegte gibt, sondern beschädigte Existenz auf allen Seiten. Dieses gegenseitige Verhältnis zu definieren, abseits von Realitätsverzerrung und Mythenbildung, ist nicht nur Öffentlichkeitsarbeit, sondern Aufklärung im kritischen Sinne (ebd.).“

Zur Aufklärungsarbeit gehört schließlich der natürlich immer nur begrenzt erfolgreiche Versuch, die eigene Arbeit selbstkritisch zu reflektieren. Dies führt - vor allem im Rahmen von gemeinsam mit anderen Organisationen der Solidaritätsbewegung betriebenen Kampagnen - zu politischen Konfrontationen mit Regierungsstellen und Konzernzentralen. Es führt aber auch zu Konflikten mit den Partnern in den Projektländern.4 An der Grenze von Projekt- und Öffentlichkeitsarbeit nahm und nimmt die Verteidigung der politischen und sozialen Menschenrechte verfolgter Individuen und Gruppen schließlich einen immer größeren Raum ein:

„Menschenrechtsarbeit,

die eingreift, wenn Menschen staatlicher Repression ausgesetzt sind. Wenn sie in Gefahr sind, Folter zu erleiden, verschleppt zu werden oder ihr Leben als Gefangene oder Flüchtlinge eines Systems bedroht ist, das organisierte Gewalt gegen jede politische Opposition ausübt. Diese Menschenrechtsarbeit umfaßt nicht nur möglichst wirkungsvolles Intervenieren in den Ländern selbst, soweit es in den Kräften von medico steht, sondern sie richtet sich öffentlich gegen die Unterstützung solcher Unrechtsregime durch die Regierung oder Politiker der Bundesrepublik, internationaler Banken oder Konzerne. Das Herstellen von Öffentlichkeit über Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist ein wichtiger Schritt zur Verhinderung neuerlicher Greuel. Gleichzeitig fördert medico Einrichtungen, die den Opfern von Repression und ihren Familienangehörigen soziale und therapeutische Hilfe anbieten, weil die traumatischen Erlebnisse von Folter und Gewalt nicht nur körperliche, sondern auch seelische Wunden verursachen (ebd.).“

 

Das Ende der Blockkonfrontation und...

In der über die Jahre immer wichtiger werdenden Menschenrechtsarbeit drückt sich allerdings auch der schon zu Beginn der siebziger, spätestens aber in den achtziger Jahren immer deutlicher hervortretende Rücklauf des emanzipativen Aufbruchs aus. Da die 1968 noch erhoffte „Globalisierung der revolutionären Kräfte“ ausblieb, gelang es den kämpfenden oder regierenden Befreiungsbewegungen kaum, sich von der Blockkonfrontation des „Kalten Krieges“ zu lösen: Auf ihren jeweiligen nationalstaatlichen Rahmen beschränkt, blieben viele Befreiungskämpfe „Stellvertreterkriege“. In diesen aber wurden letztlich nicht die Emanzipationsansprüche der revoltierenden Individuen und Gruppen, sondern die Weltmachtskalküle der USA, der Sowjetunion und der ihnen angeschlossenen Staaten ausgefochten.

Wo einzelne Befreiungsbewegungen oder „Volksfronten“ zunächst erfolgreich waren, verfingen sie sich bald im vergeblichen Versuch, den in der Sowjetunion schon gescheiterten „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ unter noch einmal schlechteren Ausgangsbedingungen zu wiederholen. Im Innern wie von aussen her permanent von Destabilisierung bedroht, wurde der bloße Machterhalt noch dort zur Staatsräson, wo er - wie zuletzt in Nicaragua - wenigstens subjektiv Mittel zum emanzipativen Zweck bleiben sollte. Mit der autoritären Verhärtung vieler an die Macht gelangter Befreiungsbewegungen kam es zu einer Militarisierung der jeweiligen Staaten, durch die Ansätze demokratischer Entwicklung massiv behindert, oftmals gänzlich erstickt wurden. Die Machtverhältnisse der Weltökonomie schließlich beschnitten die Entwicklungsmöglichkeiten der postkolonialen Gesellschaften bis hin zum politisch gewollten Bankrott. In Ländern wie Chile wurden gegen demokratische bzw. sozialistische Regierungen putschende Militärs sogar in aller Offenheit durch die USA und andere Westmächte unterstützt. In anderen Ländern gingen die als „Stellvertreterkrieg“ ausgefochtenen Befreiungskämpfe schließlich in Bandenkriege über, die nur noch auf Rechnung der jeweils kommandierenden warlords geführt werden - und zum Nutzen der transnationalen Konzerne, die sich die materiellen und sozialen Ressourcen der jeweiligen Länder zum Schleuderpreis aneignen.

Bringt man diesen Prozeß auf den Punkt, muß anerkannt werden, daß die auch und gerade von den Befreiungsbewegungen verfolgte Perspektive einer „nachholenden Entwicklung“ nach dem Muster der industrialisierten Metropolen offenbar eine Illusion war. Diese Illusion hatte nur solange Bestand, als mit der Existenz des staatssozialistischen Blocks wenigstens nominell eine eigenständige Entwicklungs- und Modernisierungsoption außerhalb der kapitalistischen Zentren gegeben war.5

 

...der Malstrom des Neo-Liberalismus

Konsequenterweise gelangt mit der Niederlage des staatssozialistischen Blocks und dem folgenden Zusammenbruch vieler postkolonialer Länder die zuerst in Chile, schließlich auch in den USA, Großbritannien und der BRD zur Staatsdoktrin erhobene Ideologie des Neo-Liberalismus zu weltweiter Hegemonie. Jetzt gewinnt der Begriff der „Globalisierung“ eine gänzlich andere Bedeutung. Er bezeichnet nun die politische und ökonomische Offensive eines Kapitalismus, der sich rasant der Beschränkungen und Hemmnisse entledigt, die ihm während der Blockkonfrontation auferlegt waren.

Freilich führte dies gerade nicht zum von den neo-liberalen Ideologen beschworenen universellen Sieg der Menschenrechte, der Demokratie und der westlichen Zivilität im Zeichen der Freiheit des Welthandels. Statt dessen kam es binnen weniger Jahre zu einer prekären Neu-Aufteilung der Welt unter die Triadenmächte USA, Europa und Japan. Deren weltweite Konkurrenz läßt die politischen Formationen und Allianzen der letzten Jahrzehnte zerbrechen, führt zum direkten oder indirekten Anschluß der formell noch souveränen Nationalstaaten an überstaatliche Blöcke wie die EU, ASEAN oder die NAFTA-Zone. Über Superinstitutionen wie IWF, Weltbank oder WTO wird die Finanz- und Handelspolitik und in der Folge auch die Sozial- und Umweltpolitik der nationalen Regierungen dem System eines Weltmarkts eingeordnet, in dem der Waren-, Dienstleistungs-, Informations- und Kapitaltransfer von allen staatlichen Grenzen und Beschränkungen entbunden wird.

 

Erste, Zweite, Dritte - und Vierte Welt

Zur „Neuen Weltordnung“ gehört aber nicht allein der Einschluß bisher noch relativ eigenständiger Regionen wie der ehemals staatssozialistischen Länder ins kapitalistische Weltsystem, sondern zugleich der Ausschluß von Millionen Menschen aus jeder „Entwicklungsperspektive“. Dabei wird der Unterschied von Metropole und Peripherie von der geographischen Nord-Süd-Spaltung überlagert und zugleich weltweit zwischen und in den Staaten, zwischen inner- und überstaatlichen Regionen, zwischen Stadt und Land, zuletzt in den Städten und zwischen den Individuen selbst reproduziert: Unübersichtlicher und zugleich schärfer als je zuvor, in einer weltumspannenden „sozialen Apartheid“. Deren äußerste Grenze ist - überall - die Vierte Welt der vollständig Marginalisierten. Diese breitet sich in dem Maß auch in der ersten und zweiten Welt aus, in dem neo-liberale Regierungen die sozialen Kompromisse auflösen, die dem Kapital in der Blockkonfrontation abgerungen wurden. So sind weltweit jetzt schon neunzig Prozent aller Menschen in die Schattenwirtschaften des sog. „informellen Sektors“ abgedrängt worden - ein Prozeß, den Karl Heinz Roth als „Wiederkehr der Proletarität“ beschreibt.6 Hier müssen sie ihr Überleben unter fast völlig entrechtlichten Bedingungen organisieren, ausgezehrt von einer Überausbeutung, die an frühkapitalistische Verhältnisse erinnert.

Mit der rasant zunehmenden Polarisierung und Hierarchisierung der herrschenden Verhältnisse geht die fortschreitende Auflösung überlieferter sozialer Bindungen einher. Je schärfer die Konkurrenz um die materiellen, sozialen und symbolischen Güter, desto rigoroser werden die im Überlebenskampf isolierten Individuen nach sexistischen, ethnizistischen und rassistischen Kategorien „sortiert“. Dieselben Kategorien überlagern die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die dadurch nicht mehr als solche, sondern als quasi-natürliche „ethnische Konflikte“ oder gar als „Kampf der Kulturen“ erscheinen. Ökonomisch um jede Überlebenschance gebracht und von Pogromen bedroht, werden unzählige Menschen in die Flucht gejagt; die Wanderbewegungen der Vertriebenen brechen sich an den immer hermetischer verschlossenen Grenzen der (noch) prosperierenden Weltregionen. Die in Ausmaß und Umfang historisch einzigartige Verelendung und Entrechtung von Millionen wird zugleich zum Druckmittel, um die Arbeits- und Überlebensbedingungen im „informellen Sektor“ weiter zu verschärfen: so weit, daß schon jetzt von einer partiellen Wiederherstellung sklavenhalterischer Produktionsregimes gesprochen werden kann. Auch dies gilt tendenziell weltweit: Gleichen sich doch die Lebensverhältnisse der rumänischen oder thailändischen Prostituierten oder der polnischen und portugiesischen Bauarbeiter in Berlin denen der Arbeiterinnen in den Maquiladora-Industrien Mexikos und Malaysias oder der landlosen Bauern Brasiliens und Indiens zunehmend an.

Alle diese Prozesse werden überlagert vom Netz der Medienmonopole, die die Wert-, Verhaltens- und Konsummuster der ‘weißen’ Mittelklassen bis in die Slums von Sao Paulo, Kalkutta und Kairo verbreiten. Dabei werden die de-regulierten Gesellschaften ebenso wie die zum „Material“ der grenzenlos erweiterten Kapitalakkumulation herabgesetzte Natur der Ideologie eines gnadenlosen Produktivismus unterworfen, der rechtfertigt, was „sich rechnet“ und verwirft, was nicht verwertet werden kann.

 

Transformationen der Staatlichkeit

Vielerorts wird die neo-liberale Globalisierung als Resultat technischer und ökonomischer „Sachzwänge“ und zugleich als Auflösung des Systems der Nationalstaaten und -ökonomien bezeichnet. Dabei wird übersehen, daß sie ganz wesentlich durch eine Allianz zwischen den transnationalen Konzernen und den dominierenden Staaten der „Neuen Weltordnung“ vorangetrieben und durchgesetzt wird. Globalisierung entspringt keiner automatisch wirkenden „Strukturlogik“, sondern einem strategischen Kalkül: Sie stellt den Versuch einer umfassenden Reorganisation der polit-ökonomischen Verhältnisse durch De-Regulierung der Kapital- und Finanzströme und durch eine Internationalisierung der Produktion und der Arbeitsteilung dar. Erzwungen wird dies durch eine in siebziger Jahren einsetzende Überproduktionskrise, die strukturell zu werden droht.

Dem entspricht, daß die nationale Staatlichkeit entgegen der Rhetorik der neo-liberalen Ideologen nicht aufgelöst, sondern transformiert wird: Ihrer relativen Selbstständigkeit gegenüber der Ökonomie beraubt, stellt staatliche Politik in den gegebenen oder in neugeschaffenen nationalen Grenzen die optimalen Verwertungsbedingungen für das transnational freigesetzte Kapital her. Der Staat, der diese Aufgabe erfüllt, ist alles andere als ein „schlanker“, er ist und bleibt ein autoritärer, demokratischer Kontrolle zunehmend enthobener Staat. Weil seine wesentliche Aufgabe in der Regulation der menschlichen Arbeitskraft innerhalb der nationalen Grenzen besteht, ist er entgegen dem Anschein stärker denn je - repressiver Staat, dessen A und O das eigene Gewaltmonopol bleibt. Das verrät die Ideologie, die den Schutz des „Standorts“ zum obersten Staatsziel und schließlich konsequent den Krieg zum legitimen Mittel der eigenen „Weltinnenpolitik“ erhebt. Es zeigt die Schwäche der Gegenkräfte an, daß dazu in geradezu schamloser Weise derselbe Menschenrechts- und Demokratisierungsdiskurs verwendet wird, auf den sich die versprengte Linke hat zurückziehen müssen.

 

Von der „Befreiungshilfe“ zur „Hilfe im Handgemenge“

In der Folge der niedergeschlagenen Befreiungskämpfe einerseits und der neo-liberalen Offensive andererseits ist die Projektarbeit medicos nahezu überall mit „Nachkriegssituationen“ konfrontiert, die längst zum Dauerzustand geworden sind. Sozialmedizinische und menschenrechtliche Unterstützung gilt heute vornehmlich den unsichtbar gemachten Opfern der „Neuen Weltordnung“: den Bewohnerinnen und Bewohnern der sahrauischen, palästinensischen und kurdischen Flüchtlingslager in Algerien, im Libanon, im Irak, den Überlebenden des Minenterrors in Kambodscha und Angola, den endlich - oder nur vorübergehend? - demobilisierten Kindersoldaten von Mosambik, den vom weißen Terror überzogenen zapatistischen Gemeinden im Chiapas, den Verschleppten und Gefolterten in Chile und der Türkei, den Betrogenen der „Friedensabkommen“ und „Versöhnungsprozesse“ in Guatemala und Südafrika. Zugleich muß die kritische Öffentlichkeitsarbeit im eigenen Land sich an eine Gesellschaft wenden, die in bedrohlich zunehmender Weise massenmedial zur wohlstandschauvinistischen Volksgemeinschaft immunisiert wird.

Das aber heißt: „Befreiungshilfe“ wird tendenziell auf „Katastrophenhilfe“ zurückgeführt, in der nicht mehr individuelle und soziale Autonomie, sondern die Abwendung noch größeren Unheils Maßgabe internationaler Solidarität wird. Weil aber selbst dieses Ziel nur zu erreichen ist, wenn jede Chance genutzt wird, um - wie begrenzt auch immer - selbst wieder in die Offensive zu kommen, spricht medico jetzt weder von „Befreiungs-“, noch von „Katastrophen-“, sondern von einer „Hilfe im Handgemenge“. Dies hat trotz des Anklangs weniger mit Raufereien als mit den Unwägbarkeiten zu tun, denen sich aussetzen muß, wer ohne Gewißheit nach Auswegen aus einer Situation sucht, die fast verloren scheint. Zu den größten Unwägbarkeiten zählt hier zweifellos, daß solche Praxis ohne die Rückversicherung durch ein geschichtsmächtiges Über-Subjekt auskommen muß - was zu durchaus eigenartigen Koalitionen führt und manchmal auch dazu, ganz auf eigene Faust aufbrechen zu müssen.

 

Die Internationale der NROs

So initiiert medico in den neunziger Jahren „Projekte“ neuer Art: Die International Campaign to Ban Landmines (ICBL) oder das Kurdish Human Rights Project (KHRP). Im Rahmen solcher überstaatlichen Netzwerke wird auf eine andere Globalisierung gesetzt: Quer zum System der Nationalstaaten wird in internationalen Bündnissen von „Nicht-Regierungs-Organisationen“ (NROs) um die Herstellung einer weltweit vernetzten kritischen Öffentlichkeit und um die Wahrung und Setzung überstaatlichen Rechts gestritten. Die Ausbreitung solcher - in der Regel äußerst heterogenen - „Organisationen neuen Typs“ ist selbst ein Phänomen der letzten Jahre. Weil NROs heute vielfach Aufgaben wahrnehmen, die noch vor kurzem (sozial-)staatlich bewältigt wurden, bilden sie häufig „erweiterte Staatsapparate“ im Sinne Gramscis. Als solche tragen sie gerade mit der Professionalität und Qualität ihrer „Ersatzdienste“ zum weiteren Abbau staatlicher Sozialleistungen bei. Schlimmstenfalls leisten sie sogar staatsterroristischen Operationen wie „ethnischen Säuberungen“ Vorschub, die schon im zynischen Kalkül auf ihre „Hilfe“ geplant und durchgeführt werden. Hier reicht die Perfidie der politisch-militärischen Führungsstäbe so weit, die Ineffizienz von „Hilfswerken“ in der Beseitigung der „Kollateralschäden“ ‘friedensschaffender’ Kriegsführung zu beklagen, um die Unterstellung der NROs unters eigene Kommando vorzubereiten.

Andererseits nehmen NROs advokatorisch die Interessen derjenigen wahr, die - da hilft auch die logisch richtige Kritik an „Stellvertreterpolitik“ nichts - sich selbst schlichtweg nicht mehr vertreten können, weil sie nach neo-liberaler Strategie nur noch „Überbevölkerung“ sind: niedergeworfen durch jahrelange Repression, demoralisiert durch das Scheitern vorangegangener Befreiungsversuche, physisch und psychisch entkräftet durch im wahrsten Sinn des Wortes entmenschlichte Lebensverhältnisse.

So entstand die auf Initiative von medico und den Vietnam Veterans of America gegründete ICBL aus der Einsicht heraus, das noch das bestkonzipierte Projekt zur Rehabilitierung von Überlebenden der Minenkriege sinnlos bleibt, wenn es nicht gelingt, die Räumung der bereits verlegten Minen zu veranlassen und zugleich die großflächige Neuverlegung dieser Killerwaffen in immer mehr internen Kriegen und lokalen Konflikten zu verhindern. Binnen weniger Jahre schließen sich weltweit mehr als tausend NROs der ICBL an. Deren organisatorischer Zusammenhalt wird dezentral und informell durch konsequente Nutzung der neuen elektronischen Kommunikationsmittel hergestellt. Im Verbund mit einer wachsenden Zahl von nationalen Regierungen kann im Dezember 1997 der sog. Ottawa-Vertrag geschlossen werden, mit dem sich 132 Staaten zum Verbot von Anti-Personen-Minen, zur weltweiten Förderung von Minenräummaßnahmen und Maßnahmen zur Rehabilitation der Überlebenden verpflichten. Der Erfolg dieser „größten Bürgerinitiative der Welt“ wird im selben Jahr mit der Verleihung des Friedensnobelpreises an die ICBL anerkannt.

Wie die ICBL zielt auch die Arbeit des Menschenrechtsprojekts KHRP unmittelbar auf die internationalen Rechtsverhältnisse. Aufgegriffen werden staatlich betriebene, wenigstens aber staatlich gedeckte und hauptsächlich gegen Kurdinnen und Kurden gerichtete Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, die dort nicht zur Verhandlung gebracht werden können. Die Fälle werden auf Anfrage von Betroffenen nachrecherchiert, das Material wird nach London weitergeleitet, wo es übersetzt und aufgearbeitet wird. Innerhalb von jeweils sechs Monaten wird dann vor der Europäischen Menschenrechtskommission in Straßburg Anklage eingereicht, bisher insgesamt in über dreihundert Fällen. In den meisten Fällen ist die Türkei rechtswirksam verurteilt worden; im Herbst 1996 sperrte das Europäische Parlament unter ausdrücklichem Verweis auf KHRP und medico EU-Mittel für die Türkei in Höhe von 1,5 Milliarden DM.

Trotz solcher Erfolge bleiben die Möglichkeiten des international operierenden NRO-Reformismus beschränkt. Weil sie sich notwendig innerhalb der geltenden Rechtsverhältnisse bewegen müssen, können NROs selbst dort nur systemimmanente Ziele verfolgen, wo sie sich für neues Recht einsetzen. Strukturell auf Lobby-Aktivitäten ausgerichtet, sind sie schon von sich aus darauf angewiesen, von den bestehenden Machtstrukturen ko-optiert zu werden. Dies wird durch den Zwang noch verstärkt, sich mangels der Rückendeckung durch autonome soziale Öffentlichkeiten an die massenmedialen Apparate wenden zu müssen, um das eigene Anliegen zu vermitteln und dabei - auch - durch Spendenbeschaffung das eigene, stets prekäre Überleben zu sichern. Insofern gilt, daß die Internationale der NROs nicht umstandslos als Medium emanzipativer Strategien verstanden werden darf, sondern eher als ein Feld, in dem solche Strategien eingesetzt und zur Wirkung gebracht werden können. Dabei ist die Abstimmung zwischen qualifizierter Projektarbeit, dem auf die Beeinflussung von Staatsapparaten ausgerichteten Lobbyismus und der Teilnahme an gesellschaftlichen Widerständen immer neu und folglich nie in „politisch korrekter“ Weise auszutarieren. Gerade deshalb ist die möglichst genaue Analyse und Reflexion des eigenen Handelns und der umgreifenden Weltverhältnisse eine dringliche Aufgabe.

 

Was tun?

Je weiter die neo-liberale Transformation der Staatlichkeit vorangetrieben wird, desto weniger allerdings können Staat und Staatsmacht Mittel emanzipativer Gesellschaftsveränderung sein. Deshalb muß emanzipatorische Politik die Staatlichkeit zugleich über- und unterschreiten: Sie muß - wie in der ICBL oder dem KHRP exemplarisch realisiert7 - in grenzüberschreitendem NRO-Reformismus internationale Solidarität und soziale Autonomie von ihren nationalstaatlichen Begrenzungen ablösen. Sie muß aber andererseits zugleich „unterhalb“ der staatlichen Sphäre intervenieren, um gesellschaftliche Selbstbestimmung auch auf lokaler oder regionaler Ebene zu verteidigen oder - wichtiger noch - neu zu erfinden. Dies schließt die Abkehr auch von den formell fortbestehenden, faktisch weithin leerlaufenden liberaldemokratischen Institutionen ein.

Der Dreh- und Angelpunkt solcher Verteidigung und Neu-Erfindung des Sozialen kann nur in der Dynamik neo-liberaler Globalisierung selbst gefunden werden: Da, wo Millionen von Menschen in die Informalität de-regulierter sozialer Verhältnisse gezwungen werden. Gerade dort aber ist in den letzten Jahren schon die subjektive Befähigung zu emanzipativem Handeln systematisch zerstört worden. Am deutlichsten lässt sich dies anhand der Differenz zwischen der „moralischen Ökonomie“ (E. P. Thompson) industrie-proletarischer, aber auch subsistenzorientierter traditionaler Milieus einerseits und der der „informellen Sektoren“ der slums, favelas, gecekondus oder townships andererseits aufweisen. Erstere konnten historisch eine weitreichende politische und kulturelle Autonomie ausbilden, die sich in den zweideutigen Klassenkompromissen der fordistischen Ära sogar institutionell niederschlug. In der Informalität aber kann von Selbstbestimmung zunächst nur insoweit gesprochen werden, als sich jenseits einer staatlich garantierten Rechtssphäre oftmals bandenförmige, in vielen Fällen auf unmittelbarer Gewaltausübung aufruhende korporative Strukturen herausbilden mussten. Beispiele dafür sind die Regimes bewaffneter Gangs in den Slums der Megastädte, die „Paralleluniversen“ der Mafia in den Drogenanbaugebieten Lateinamerikas oder Asiens oder die neo-feudalen Territorialherrschaften „wilder“ warlords, die sich in nahezu allen „Nachkriegsgesellschaften“ Afrikas, aber auch ehemals staatssozialistischen Ländern wie Jugoslawien etablieren konnten.

 

„Social Movement Unionism“ und „Neozapatismus“

Und trotzdem: Weil der Rückzug der Staatsapparate und die Brutalität der globalisierten Ökonomie, aber auch die Unerträglichkeit der noch bestehenden „Normalarbeitsverhältnisse“ samt der auf sie gegründeten Lebensweisen immer mehr Menschen dazu bringen, nach Überlebens- und Lebensmöglichkeiten jenseits von Staat und Markt zu suchen, finden sich überall auf der Welt Versuche zur Selbstorganisationen, in denen Menschen ihre Existenz in die eigene Hand zu nehmen suchen. Auch hier gilt, daß die Mehrzahl solcher Projekte aus äußerster Verelendung entstehen und insofern kaum mehr als selbstverwaltete Armutsregimes darstellen, die vom formalen Sektor der Warenproduktion als materielles Reservoir und soziales Auffangbecken gebraucht werden. Die Spaltungen und Ausgrenzungsmechanismen der gesellschaftlichen Verhältnisse finden sich auch in den „autonomen Gemeinden“, in den Kooperativen, Genossenschaften und sozialökonomischen NROs, sie fanden und finden sich in den Gewerkschafts- und Parteiverbänden, die sich diesen Selbstorganisationen als politische Vertretung anbieten oder sie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren suchen. In nicht wenigen Fällen aber sind es gerade diese Spaltungen, Ausgrenzungen und Instrumentalisierungsversuche, die zum Anlaß einer fortschreitenden Politisierung solcher Projekte werden. Dies aber ist die Voraussetzung dafür, daß aus den real life economics der Informalität Keimformen neuer sozialer Bewegungen werden können. Bewegungen, die im Unterschied zu den Partei- und Gewerkschaftsorganisationen der Industrieproletariate und im Unterschied auch zu den oftmals von städtischen Intellektuellen dominierten antikolonialen Befreiungsfronten ihren Ort unmittelbar in der ökonomischen Sphäre haben. Sie sind insofern erstmals „soziale Bewegungen“ im Vollsinn des Wortes: Vorgriffe auf eine nur scheinbar „vor-politische“, nichtsdestotrotz aber autonome gesellschaftliche Reproduktion jenseits von Staat und Markt.

Erste politische Ausdrücke einer solchen autonomen Reproduktion des Sozialen sind die Bauernbewegungen des indischen Subkontinents, die sich in der alltäglichen agrikulturellen Praxis selbst verankern und zugleich militante Kampagnen gegen die Praktiken des US-amerikanischen Monsanto-Konzerns organisieren; die Bewegung der Landlosen in Brasilien, deren Angehörige sich mittlerweile nicht nur das Land nehmen, das ihnen verweigert wird, sondern in Eigenregie niederkonkurrierte Fabriken übernehmen, in denen sie eine nicht-warenförmige Selbstversorgungsproduktion initiieren; die grassroots-Organisationen südafrikanischer townships, die im Bündnis mit oppositionellen Gewerkschaftsverbänden jenen neuartigen Typ eines territorial organisierten sozialen Widerstands praktizieren, den man „social movement unionism“ zu nennen beginnt.8

Das Gemeinsame dieser und anderer Initiativen überall auf der Welt ist die Weise, in der sie die für emanzipative Bewegungen seit je zentrale „Machtfrage“ neu zu stellen und zu beantworten suchen: So nämlich, daß es ihnen allen fern der ursprünglich bürgerlichen Fixierung auf die „Eroberung der Staatsmacht“ eher um die Subversion bestehender als um die Schaffung neuer Machtverhältnisse geht. Solche Subversion zielt dann nicht einfach auf die formelle Demokratisierung autoritärer Staatsapparate, sondern auf die Schaffung der rechtlichen und politischen, vor allem aber auch der kulturellen und der ökonomischen Voraussetzungen sozialer Autonomie auf der lokalen und regionalen Ebene. Der Sprecher des chiapanekischen Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN), Subcomandante Marcos, bezeichnet diese Umkehr der Perspektive als das Besondere eines ebenso universellen wie pluralistischen „Neozapatismus“:

„Das ist es, was wir als Neozapatismus bezeichnen. Etwas, was nicht mehr uns gehört, was nicht mehr der EZLN gehört und natürlich noch viel weniger Marcos. Aber auch nicht den mexikanischen Zapatistas. Es ist das Symptom für etwas Größeres, das sich auf der ganzen Welt entwickelt und das Beste hervorgebracht hat, was in den letzten Jahren dieses Jahrhunderts geschehen ist: ihr. Es ist die Sache aller, dieses Neue zu bestimmen und ihm eine Ausrichtung zu geben. Wie man es auch immer nennen will, der Zapatismus, wie er sich 1994 im Krieg der Worte abspielte, ist das Symptom von mehr, was in Südamerika, Nordamerika, Europa, Asien, Afrika, Ozeanien passiert. (...) Damit wir dies aufbauen können, müssen wir unserer Ansicht nach das Problem der Macht neu stellen. Keine Wiederholung der Formel, daß es notwendig sei, die Macht zu ergreifen, um die Welt verändern zu können, und daß sich, wenn man erst einmal an der Macht ist, schon alles so organisieren wird, wie es für die Welt am besten ist, das heißt, wie es für mich, der ich an der Macht sitze, am besten ist. Wir denken also, wenn wir die Macht nicht ergreifen wollen, daß dies zu einer anderen Form der Politik und zu einer anderen Art von Politikern und Politikerinnen führt, zu anderen Menschen, die die Politik anders als auf die Weise betreiben, wie wir sie heute vom gesamten politischen Spektrum erleiden müssen. (...) Der Preis für unser Leben ist weder ein Bürgermeisteramt noch ein Gouverneursstelle, noch die Präsidentschaft von Mexiko, noch der Vorsitz der Vereinten Nationen. Der Preis für das Leben der Zapatistas ist eine Welt, in der alle Welten Platz haben. (...) Das ist die Politik, deren Aufbau sich lohnt, eine Politik, deren Grundwerte auf Einschluß und Toleranz basieren und die letztendlich überall auf der Welt aufgebaut werden kann, solange sie dazu nicht andere erniedrigen muß... .“9

 

Nochmals: „Hilfe im Handgemenge“

Mehr als je zuvor muß internationale Solidarität heute als gemeinsame Aktion auf der Grundlage selbstbestimmter Gegenseitigkeit verstanden werden - als weltweiter Demokratisierungsprozeß. Dabei gilt es allerdings, auf die bestenfalls romantische Unterstellung abstrakter Gemeinsamkeiten und übermächtiger Klassen- oder Volks-Subjekte zu verzichten: Anerkannt werden muß, daß internationale Solidarität aus höchst unterschiedlichen Bedingungen und Interessenlagen erwächst und deshalb nur in einem notwendig widersprüchlichen Prozess entstehen kann, der für alle Beteiligten zuerst ein Lernprozeß sein wird. Anerkannt werden muß allerdings auch, daß trotz der relativen Ent-räumlichung des Unterschieds von Metropole und Peripherie das Zentrum der globalen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse mehr denn je in den führenden Staaten der „Neuen Weltordnung“ liegt, in den USA, in Europa und in Japan. Eine Veränderung der Verhältnisse in den Peripherien ist deshalb primär an eine Veränderung der Verhältnisse in den Metropolen gebunden. Diese aber wurzeln nicht allein, ja nicht einmal primär in der staatlichen Aussen- und Aussenhandelspolitik, sie wurzeln vielmehr im Ganzen der alltäglich gelebten Produktions-, Konsum- und Lebensformen. Das kapitalistische Weltsystem ist keine abstrakte Supermacht, sondern das gesellschaftliche Verhältnis, dem wir selbst angehören und das wir alle im eigenen Alltagshandeln aufrechterhalten. Auch und gerade deshalb sind emanzipative Politik und internationale Solidarität keine „Staatsaffaire“, keine Angelegenheit durchorganisierter Avantgarden oder revolutionärer Kommandoräte. Sie hängen an der autonomen Vertretung der eigenen Interessen, an der praktischen Selbstorganisation in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und an der Wiedergewinnung einer Öffentlichkeit, in der um Emanzipation allererst gestritten werden kann. Eine Hilfsorganisation wie medico international kann solche Demokratisierungsprozesse weder anleiten noch auch nur anstoßen. Sie kann sie lediglich solidarisch begleiten, indem sie zu einem Relais wird, über das materielle Ressourcen, soziale Beziehungen sowie Wissen und Erfahrung aus jeder Richtung ausgetauscht werden: Knoten im Netz einer „staatenlosen Demokratie“ (S. Bologna), die sich weder als Ziel noch als Zustand begreift, sondern als hoffentlich wirksamer Widerstand gegen die Katastrophe eines Fortschritts, der ansonsten nur der Fortschritt der Katastrophe wäre.

 

1Rudi Dutschke in der Rede über Die geschichtlichen Bedingungen für den internationalen Befreiungskampf, mit der im Februar 1968 der Vietnam-Kongress des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) eröffnet wurde. Vgl. W. Balsen/K. Rössel, Hoch die internationale Solidarität. Zur Geschichte der Dritte-Welt-Bewegung in der Bundesrepublik, Köln 1986, S. 188ff.

2 An dieser Stelle sei ausdrücklich festgehalten, daß ein Unterschied besteht zwischen dem Gebrauch der  Volks‘-Kategorie durch nationale Befreiungsbewegungen in der Peripherie einerseits und die Solidaritätsbewegung in den Metropolen andererseits. Während im Kontext antikolonialer Befreiungskämpfe der Rückgriff auf diese Kategorie bzw. dem voraus ihre Einführung in die ideologische Auseinandersetzung unvermeidlich sein kann, gilt dies in der Solidaritätsarbeit gerade nicht. Zu beachten sind außerdem die Differenzen im Gebrauch des Volksbegriffs etwa bei kurdischen PKK, der baskischen ETA, der chilenischen Unidad Popular oder der chiapanekischen EZLN. Generell allerdings sollte Klarheit darüber bestehen, daß nationalistische und linke Positionen wenigstens on the long run unverträglich sind – wenn überhaupt.

3 Wie jede Form der Geschichtsschreibung schließt auch die hier versuchte Verschiebungen ein, die sich erst in der Interpretation ergeben. In diesem Sinn ist dieser Text ein Diskussionspapier, das selbst von dem bestimmt wird, was der französische Philosoph Gilles Deleuze einmal als den Unterschied von  Geschichte‘ und  Aktualität‘ bezeichnet hat.  Geschichte‘ war für Deleuze das Archiv des Gewesenen,  Aktualität‘ aber der Möglichkeitsspielraum des Werdens: dessen, was jetzt wird, was wir jetzt werden. Solange das eine (die  Geschichte‘) seine Bedeutung stets erst im Licht des anderen (der  Aktualität‘) gewinnt, sind sowohl der historische Prozeß als auch seine Interpretation offen... .

4 Der schärfste Konflikt mit einer Partnerorganisation ergab sich, als medico die Menschenrechtsverletzungen in den Lagern der namibischen Befreiungsbewegung SWAPO öffentlich machte. Weil die offene Kritik an der SWAPO in Teilen der Solidaritätsbewegung zu „Verrats“-Vorwürfen führte, publizierte medico eine entsprechende Studie gemeinsam mit dem Bundeskongreß der entwicklungspolitischen Aktionsgruppen (BUKO), dem Weltfriedensdienst, der Aktion Solidarische Welt (u.a.). Vgl. medico international u.a. (Hrsg): Menschenrechtsverletzungen der SWAPO. Eine Auseinandersetzung, Frankfurt 1990.

5 Damit ist nicht gesagt, daß die Sowjetunion und der von ihr kontrollierte staatssozialistische Block jemals als emanzipatorische Kraft gewirkt hätten, im Gegenteil: Viele Befreiungsversuche sind nicht allein durch westliche Intervention, sondern auch durch die Politik der UdSSR niedergeworfen oder wenigstens entstellt worden. Allerdings hat die Existenz des staatssozialistischen Blocks der Aggressivität sowohl des Kapitals wie der führenden kapitalistischen Staaten Grenzen gezogen hat, die wiederum emanzipatorischen Kräften Möglichkeitsspielräume eröffnet haben, die heute nicht mehr bestehen.

6 Vgl. K.H. Roth, Die Wiederkehr der Proletarität und die Angst der Linken, in: Frombelloff (Hrsg.), ...und es begann die Zeit der Autonomie, Hamburg 1993, S. 271ff.

7 Ein weiteres Beispiel ist die innerhalb kürzester Zeit und ebenfalls primär durch freien Gebrauch von Internet- und Email-Verkehr entstandene NRO-Kooperation gegen das von den WTO-Führungsmächten in Zusammenarbeit mit den transnationalen Konzernen ausgearbeitete Multilateral Agreement on Investment (MAI). Ihr gelang es immerhin, die schon bestehenden Widersprüche zwischen den beteiligten Staaten so weit zu verstärken, daß die Verhandlungen bis auf weiteres abgebrochen wurden.

8 Vgl. Kim Moody, Workers in a Lean World. Unions in the International Economy, London/New York 1997.

9 Subcomandante Marcos in: REDaktion (Hrsg.), Chiapas und die Internationale der Hoffnung, Köln 1994, S. 51. Um der subversiven Ironie der EZLN gerecht zu werden, sei ausdrücklich vermerkt, daß sie an anderer Stelle klarstellt: „Der Zapatismus existiert nicht!“ (ebd., S. 9). Auf Initiative der EZLN, des brasilianischen Movimento Sem Terra, der indischen Bauernbeweguiing KRRS und vieler anderer neuer sozialer Bewegungen und Graswurzel-Initiativen ist mittlerweile das Netzwerk Peoples’ Global Action (PGA) entstanden, das sich explizit gegen die Strukturen und Institutionen der neo-liberalen Globalisierung wie IWF oder WTO richtet. Obwohl PGA den Lobbyismus der professionellen Nicht-Regierungs-Organisationen ablehnt und statt dessen auf international vernetzte Aktionen gewaltfreien zivilen Ungehorsam setzt, läßt sich durchaus eine entsprechende Zusammenarbeit vorstellen, mit der die vermutlich falsch gestellte Alternative ‘Soziale Bewegung’ versus Lobby zugunsten neuer Möglichkeiten der Intervention zu verschieben wäre.