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Updated: 18.12.2012 15:51 |
FabrikbesetzerInnen in Nordhausen: Wir haben nichts zu verlieren! Bericht und alle Fotos von Dieter Wegner (Jour Fixe Gewerkschaftslinke Hamburg) vom 31.07.2007
Es sind 135 Beschäftigte und 160 LeiharbeiterInnen, die hier bis Dienstag Fahrräder gebaut haben, zuletzt 9,5 Stunden am Tag, auch samstags. Auch nachdem sie erfahren hatten, daß das Werk geschlossen werden soll, montieren sie pflichtbewußt bis zum 10.7. weiter, bis zum letzten Auftrag. Für Juli haben sie ihren Lohn noch erhalten. Am Dienstag um 9:30 Uhr ist dann Betriebsversammlung. Am Tag vorher hatten sie erfahren, daß man sie so schnell und so billig wie möglich loswerden will. Bike Systems gehörte zu DDR-Zeiten zum VEB IFA Motorenwerk. Mitte der 80er Jahre erhielt IFA die Regierungsauflage, auch Konsumgüter herzustellen. Von da an wurden in Nordhausen Fahrräder gebaut.
Am Dienstag, auf der Betriebsversammlung beschließt die Belegschaft spontan, die Fabrik zu besetzen. "Wir haben keine richtige Erklärung wie das kam, es entstand mitten in der Belegschaft". Die von Lone Star angebotene Summe hätte nicht mal ausgereicht, die Löhne für die Zeit des Kündigungsschutzes (ein bis sieben Monate, je nach Dauer der Betriebszugehörigkeit) auszuzahlen. (Thüringer Allgemeine Zeitung vom 11.7.) "Mit einem Appel und einem Ei" wie in Neukirch wollen sie sich nicht abspeisen lassen. "Als die letzten sich noch in die Listen eintrugen, haben die ersten schon unten Transparente gemalt". Es sind viele neue Plakate und Transparente dazu gekommen: Immer wieder taucht das Wort und das Symbol Heuschrecke auf.
Auf die Frage, wer die Idee zur Besetzung hatte, kommt jedesmal die Antwort: "Die Belegschaft". Ich frage weiter, warum in Neukirch nichts passierte, hier aber besetzt wurde. "Wir haben nichts zu verlieren. Wir hatten immer ein gutes Betriebsklima, wie eine Familie. Und wir haben einen guten Betriebsrat". Das mit dem guten Betriebsklima glaube ich sofort: alle sind entspannt und freundlich, die ankommenden KollegInnen werden begrüßt, oft in den Arm genommen. "Und jetzt ist es mit dem Betriebsklima noch viel besser geworden", meint eine Kollegin. Sie meint nach der Besetzung. Ich frage einen Kollegen mit einer roten IGM-Schirmmütze, ob er Gewerkschaftsmitglied sei. "Ach wo, ich trage die Mütze nur wegen der Sonne, die blendet vormittags so, die Mützen wurden hier massenhaft verteilt". Ob denn viele Kollegen Gewerkschaftsmitglied seien, will ich wissen. "Außer dem Betriebsrat kaum welche". Dennoch ist ein Nordhauser Gewerkschaftssekretär oft vor Ort und unterstützt den Kampf. Bei einer Frage nach dem Lohn sind die KollegInnen zurückhaltend: "Wir durften über den Lohn nicht reden, das war ein Kündigungsgrund, wurde uns gesagt". Dann sagt der Kollege doch: "Wir verdienen etwa 1 000 Euro netto, Urlaubs- und Weihnachtsgeld wurde uns ja schon gestrichen".
Nachts stehen zehn Besetzer Posten, Frauen nicht mehr nachts. Tagsüber sind oft 30-40 BesetzerInnen da, trinken Kaffee, Selter, Bier ist verboten. Ständig ist was los, ständig muß organisiert werden. Am 17. Besetzungstag war ein Chor der Uni Göttingen, bestehend aus verdi-KollegInnen da. Sie sangen moderne und Arbeiterlieder. Sie hatten extra ein Lied gedichtet. Kurz vorher hatte die Belegschaft ein Kinderfest organisiert, viele Firmen der Stadt hatten es materiell unterstützt. Der Ertrag des Festes, 400 Euro, wurde für ein geplantes Kinderhospiz gestiftet. "Wir haben soviel Freundlichkeit und Sympathie aus der Stadt bekommen, das wollten wir zurückgeben". Dieser Satz eines Kollegen klingt gar nicht gekünstelt sondern ganz echt. Das Bläserquartett eines hiesigen Orchesters war dagewesen und hatte ein kleines Konzert gegeben. Für die nächste Woche ist eine weitere Fahrradtour durch Nordhausen und Umgebung geplant. Am 23. Besetzungstag will attac aus Leipzig kommen und einen Film über eine Fabrikbesetzung in Argentinien zeigen. Am 25. Besetzungstag dann Kollegen und Unterstützer von Bosch-Siemens aus Berlin, die einen Film über ihren Streik zeigen. Am kommenden Freitag gehen die KollegInnen zum Blutspenden nach dem Motto: "Wir geben unseren letzten Tropfen, bevor uns Lone Star ganz aussaugt". Am Wochenende ist Stadtfest in Nordhausen. Die BesetzerInnen machen eine Art TÜV-Stand: Alle NordhäuserInnen können ihre Fahrräder durchprüfen lassen. Am Zaun, für jeden Vorbeifahrenden sichtbar hängt ein Pappschild mit dem Besetzungstag. Ich bin am 17. und 18. Besetzungstag dort. Nachts wird das Schild angestrahlt. Abends gegen zehn kommt ein Polizeiauto vorbei und hupt. Als Reaktion Daumen nach oben, ein besonders lautes Trillern und ein trockener Kommentar: "Das ist der erste, der hupt, bisher haben die Polizisten nur freundlich gewunken".
Am liebsten wäre den Kollegen, daß ein neuer Investor käme: "Was wir dann produzieren, wäre uns ziemlich egal". Das scheint mir aber nur so dahingesagt, der Produzentenstolz auf ihre Fahrräder dringt immer wieder durch. Am 18. Besetzungstag ist wieder Betriebsversammlung, diesmal mit ihrem Anwalt, Jürgen Metz aus Erfurt, den sie schon seit dem Insolvenzverfahren kennen. Die Gesichter der Herauskommenden signalisieren: Nichts Neues. Anfang August soll es eine Verhandlung bei der Einigungsstelle geben. Der jetzige Besitzer des Geländes und der Anlagen heißt Biria. Bike Systems ist nur Pächter. Ab und zu kommen noch LKW auf das Gelände und holen Fahrradteile ab. Der Anwalt hat ihnen geraten, die Transporte nicht zu behindern.
Mit der Post wird ein großes Paket mit Kaffee (Marke Störtebeker) gebracht, mit dem Versprechen, bei Bedarf ein weiteres Paket zu schicken. Absender ist ein Hamburger Kollektiv. Es gehen etliche Solidaritätsschreiben ein, in einigen steht die Aufforderung, doch die Firma zu übernehmen und weiter Fahrräder zu bauen. Es sind schon mehrere Bestellungen dabei! Ein Mann aus Holland schreibt, er kenne mehrere linke Fahrradhändler, die würden gern die Fahrräder aus der besetzten Fabrik verkaufen. Ich mache einen Kollegen auf die Bestellungen und Versprechungen aufmerksam. Er habe auch schon dran gedacht, das wäre eine schöne Lösung. Aber einige gute Kollegen, die man dazu brauchte, seien schon nicht mehr da - und woher solle das Geld kommen?
Das zentrale Symbol der Besetzung ist die Heuschrecke, der zentrale Satz: "Wir haben nichts zu verlieren". Beim halbjährigen Streik von gate gourmet in Düsseldorf 2005/2006 gab das Plakat "Menschenwürde!" den Kern des Kampfes wider. Als ich mich verabschiede, kommt mir der Gedanke, daß Besetzung genau so anstrengend sein kann wie Produktionsarbeit: wahrscheinlich haben die Posten vor dem Zaun schmerzende Kehlen, Arme und Daumen. Ich habe sie leider nicht danach gefragt. Aber mit ihrer ausdauernden Antwortgeste auf das Solidaritätshupen wollen die BesetzerInnen wohl ihre Hartnäckigkeit und Unnachgiebigkeit bekunden. Auf der Heimfahrt fällt mir ein, daß die gelassene, ja heitere Stimmung der stärkste Eindruck in diesen beiden Tagen war. Auf der Hinfahrt hatte ich gedacht, daß mich Wut, Empörung, vielleicht Niedergeschlagenheit und Angst vor ALG II erwarten. Sie haben alles wohl schon mehrere Male durchlebt in einer Achterbahn der Gefühle - geblieben ist Gelassenheit, Offenheit, fast heitere Stimmung. Spendenkonto: Kreissparkasse Nordhausen Email-Adresse: fahrradwerk@gmx.de |