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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Da haben wir eben den Betrieb besetzt ... 135 Beschäftigte kämpfen in Nordhausen um ihre Arbeitsplätze Nordhausen ist ein unscheinbares Städtchen in Thüringen, ein strukturschwacher Raum mit wenig Industrie. Die Stadt ist bisher nicht besonders klassenkämpferisch aufgefallen. Doch seit dem 9. Juli halten die Beschäftigten der Fahrradfabrik Bike Systems ihre Fabrik besetzt - ohne Order von oben, ohne gewerkschaftliche Direktiven, einfach weil es reicht. Artikel von Alix Arnold, zuerst erschienen in ak - zeitung für linke debatte und praxis Jahrelang haben sie Verschlechterungen hingenommen. Sie haben auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld verzichtet und Lohnkürzungen zugestimmt, als es hieß, dass es der Firma schlecht gehe. Denn es ging ja um die Arbeitsplätze. Wenn die Auftragslage es erforderte, haben sie Überstunden gemacht, auch am Wochenende und an Feiertagen. Im Dezember 2005 wurde die Firma vom Finanzinvestor Lone Star übernommen. Eines der beiden Werke sollte geschlossen werden. Als es im Dezember 2006 das Werk im sächsischen Neukirch traf, dachten die KollegInnen von Bike Systems in Nordhausen, der Kelch wäre an ihnen vorübergegangen. Die 135 Festangestellten und bis zu 160 LeiharbeiterInnen montierten weiter Fahrräder. Am 20. Juni 2007 wurde ihnen auf einer Betriebsversammlung verkündet, dass ihr Betrieb ebenfalls geschlossen, die Fertigung zum Ende des Monats eingestellt und über einen Sozialplan verhandelt würde. Auf der Versammlung fiel kein lautes Wort, und am Tag danach erschienen die KollegInnen wie gewohnt an ihren Arbeitsplätzen. In den verbleibenden neun Arbeitstagen erledigten sie alle noch ausstehenden Aufträge in der gewohnten Qualität und Schnelligkeit und feierten dann Abschied. Bis hierhin ist dies die Geschichte einer normalen Abwicklung. Aber zehn Tage später kam alles anders. Auf einer weiteren Betriebsversammlung am 10. Juli wurde der Verhandlungsstand zum Sozialplan bekannt gegeben. Die Geschäftsleitung hatte erklärt, dass der Restbestand an finanziellen Mitteln nicht für die Beteiligung an einer Auffanggesellschaft ausreichen würde, ein Sozialplan könne deshalb nicht aufgestellt werden. Der Betriebsrat hatte mit einem Anwalt nachgerechnet, dass mit diesem Geld noch nicht einmal die Löhne für die Kündigungsfristen von durchschnittlich viereinhalb Monaten bezahlt werden konnten! Jetzt war es mit der Ruhe vorbei. So abserviert werden, nachdem sie alles gegeben hatten? In der Empörung kam die Idee auf, den Betrieb zu besetzen - und wurde sofort in die Tat umgesetzt. Alle waren einverstanden, und alle machen mit. "Der Vorschlag kam aus der Belegschaft", sagt jeder und jede, die ich danach frage [1]. Sofort wurden Schichten eingeteilt für Streikposten rund um die Uhr, Transparente gemalt und Feuertonnen besorgt. "Wir waren total überrascht, mit welcher Selbstverständlichkeit die KollegInnen alles selbst organisiert haben und welche Kreativität sie dabei entwickelt haben", erzählt eine Betriebsrätin. Tatsächlich ist bei dieser Besetzung wenig von der üblichen vorgefertigten Gewerkschaftsdeko zu sehen, dafür aber umso mehr selbst gemalte Transparente und gebastelte Heuschrecken. Die IG Metall unterstützt die Besetzung, die offiziell als Betriebsversammlung mit Unterbrechungen deklariert wurde, aber nur wenige KollegInnen sind in der Gewerkschaft. Die Besetzung ist ähnlich organisiert wie vorher die Arbeit. "Schichtleiter" sind in den Streikpostenschichten dafür verantwortlich, dass die Informationen für alle zugänglich sind. Es sind dieselben Leute, die vorher Schichtleiter in der Fabrik waren. Der Produktionsleiter wurde von den BesetzerInnen zu ihrem Pressesprecher bestimmt. Einige hatten anfangs Zweifel, "ob das denn wirklich was bringt." Aber sie konnten von den entschlosseneren KollegInnen schnell überzeugt werden: "Dann müssen wir uns in einem Jahr wenigstens nicht fragen, warum wir nichts gemacht haben." Die enorme Unterstützung aus der Bevölkerung trägt mit zu der Überzeugung bei, das Richtige zu tun. Die Solidarität ist nicht zu überhören. "Bitte hupen" hatte eine Kollegin am ersten Tag der Besetzung auf ein Schild geschrieben - und das tut fast jeder, der auf dieser viel befahrenen Straße vorbeifährt. Ständig werden kistenweise Lebensmittel und Spenden abgegeben. "Heute haben wir eine Fahrradtour durch die Stadt gemacht, da haben die Leute geklatscht und gesagt: Macht weiter so!" Nordhausen ist eine Kleinstadt mit 43.000 EinwohnerInnen und nur noch wenig Industrie. Die Fahrradmontage ist das Letzte, was von den ehemaligen IFA-Motorenwerken nach der Wende übrig geblieben ist. Offensichtlich sehen viele Menschen in Nordhausen die Besetzung als hoffnungsvolle und längst überfällige Aktion. Jetzt heißt es: "Wir können auch anders!" Anders sieht das der Geschäftsführer, Frederick P. Müller, der den Job seit gut einem Monat macht. Vorher hatte er den Betrieb in Neukirch abgewickelt. Nachdem das so glatt gegangen war, kam die Besetzung für ihn völlig überraschend. "Der war wohl ein bisschen überfordert." Er rastete regelrecht aus, beschimpfte die KollegInnen und riss eigenhändig das erste "Wir-kämpfen-um-Bike-Systems"-Transparent wieder runter. Den ganzen Nachmittag lief er vor dem Betrieb auf und ab und fotografierte jeden, der ein Transparent anbrachte. Er versuchte die KollegInnen mit Briefen einzuschüchtern, in denen sie per Ultimatum zur Räumung des Betriebes aufgefordert wurden, und er beantragte eine einstweilige Räumungsverfügung, die aber vom Gericht abgelehnt wurde. Die Fahrradproduktion begann in Nordhausen 1986 als Teil der IFA-Motorenwerke. 4.000 Leute arbeiteten damals dort. Nach der Wende wechselte der Betrieb mehrfach den Besitzer und gehörte schließlich zu Biria, damals in Deutschland die Nummer eins in der Fahrradproduktion mit 500.000 Fahrrädern pro Jahr. "Oder anders ausgedrückt: 400 Beschäftigte, davon 140 hier aus Nordhausen, haben einen Umsatz von 75 Millionen Euro erwirtschaftet. Jeder Beschäftigte hat also pro Jahr 187.500 Euro mit seinen Händen erarbeitet", wie ein Kollege auf der Betriebsversammlung am 31.7. vorrechnete. Der Aufkauf durch den texanischen Finanzinvestor Lone Star (bzw. durch die eigens für diesen Verwertungszweck geschaffene Tochtergesellschaft Transcontinental SAS Holding mit Sitz in Brüssel) diente wohl in erster Linie der Marktbereinigung. Nach der Schließung des Werkes in Neukirch wurden Material und Kunden des Werkes in Nordhausen an die Konkurrenzfirma MIFA (Mitteldeutsche Fahrradwerke) in Sangerhausen verkauft. Die bezahlte in Aktien, so dass Lone Star jetzt 25 Prozent der MIFA besitzt. Das Werk in Nordhausen fungierte nur noch als verlängerte Werkbank: Die MIFA vergab die Lohnaufträge und bezahlte die in Nordhausen eingesetzten ZeitarbeiterInnen. Am Tag nachdem die Schließung des Werkes in Nordhausen angekündigt worden war, erschien ein Vertreter der MIFA und bot den KollegInnen an, ab dem 1. Juli im 40 Kilometer entfernten Sangerhausen anzufangen. Dort hatte man offenbar erwartet, dass ein Großteil der von Kündigung Bedrohten das Angebot annehmen würde, was nebenbei die Schließung von Nordhausen erheblich verbilligt hätte. Doch über die LeiharbeiterInnen, die in beiden Betrieben eingesetzt wurden, wussten die KollegInnen von den schlechten Arbeitsbedingungen bei der MIFA. "Die arbeiten 18 Tage mehr im Jahr für das gleiche Geld. Die haben da noch nicht mal einen Betriebsrat, die machen mit den Leuten, was sie wollen. Da musst du nach dem Schlüssel fragen, wenn du auf Toilette willst!" Nur drei Beschäftigte wechselten. Die Übrigen waren nicht bereit, auf ihre Rechte bei Bike Systems zu verzichten. "Wir hätten ja einen Aufhebungsvertrag machen müssen, da wären wir ins offene Messer gelaufen. Da wäre alles weg gewesen. Die hätten uns 14 Tage oder drei Wochen beschäftigt und dann gesagt: So, entweder spielt ihr nach unseren Bedingungen, oder ihr könnt gehen. Und da wären die hier sauber rausgekommen." Viele KollegInnen sind seit Jahrzehnten im Betrieb beschäftigt. Sie betonen das gute Verhältnis untereinander: "Wir sind wie eine Familie." Bislang hat diese Familie allerdings in erster Linie für die Produktion und den Profit funktioniert. Die KollegInnen haben nie gestreikt, und sie hatten kein Vorbild für ihre Aktion. "Wir hatten keinerlei Erfahrung, wir müssen das alles erst lernen. Aber wir haben uns in dieser Woche schon viel selbst beigebracht." Wie konnte es zu dieser Besetzung kommen, nachdem sie zunächst widerspruchslos weitergearbeitet haben, in zwei Schichten, zehn Stunden pro Tag, selbst sonnabends? "Wir haben geknufft bis auf die letzte Minute. Weil das auch so bei uns drin steckt, das Pflichtbewusstsein. Wir waren das ja gewöhnt, in Stoßzeiten haben wir immer so gearbeitet." Wie sie es dann in letzter Minute doch noch geschafft haben, den Widerstand gegen die Betriebsschließung aufzunehmen, kann oder mag niemand so richtig erklären. "Irgendwann, da geht nichts mehr, und da haben wir eben den Betrieb besetzt." Trotz ihrer desolaten Situation verbreiten die BesetzerInnen gute Laune. "Die Familie" hält bestens zusammen und funktioniert jetzt für die eigenen Interessen. Man hat den Eindruck, dass die KollegInnen von ihrer eigenen Aktion überholt worden sind. Sie machen täglich neue Erfahrungen, bei den Streikschichten wird viel diskutiert. Mehrere BesucherInnen haben ihnen von den Betriebsbesetzungen in Argentinien erzählt. Zu dem Thema wird ein Filmabend organisiert, einige finden die Idee, ohne Chef zu arbeiten, durchaus interessant. Aber woher das nötige Kapital nehmen? Wo soll das Material herkommen, das bisher aus Fernost bezogen wurde? Wie soll ein kleiner selbstverwalteter Betrieb auf dem Weltmarkt bestehen? Aber wo soll andererseits der Druck herkommen, um die Betriebsschließung noch zu verhindern? Ein Besucher aus Berlin hat ihnen von dem Streik bei BSH [1] erzählt, und dass die Kollegen dort die bereits produzierten Waschmaschinen im Werk festgehalten haben. "Das hätten wir vielleicht auch machen sollen", überlegt eine Kollegin, "aber dafür ist es jetzt zu spät, die Fahrräder sind alle raus, wir haben kein Druckmittel mehr in der Hand. Ob das ausreicht, hier zu sitzen, und die Leute hupen? Wir werden uns wohl noch mehr einfallen lassen müssen." Aufstand gegen den milliardenschweren Gegner Von der Politik sind sie eher enttäuscht. Zwar hatten Oberbürgermeisterin Rinke und Landeswirtschaftsminister Reinholz bei Besuchen ihre Sympathie bekundet, aber von konkreter Unterstützung war noch nichts zu sehen. Mit einem Offenen Brief haben die KollegInnen den Ministerpräsidenten, Dieter Althaus (CDU), zu einem Gespräch vor Ort eingeladen. Mit Hinweis auf die öffentlichen Mittel, die in diesen Betrieb geflossen sind, fordern sie von der Landesregierung eine "klare Positionierung". Der Ministerpräsident lehnte die Einladung jedoch ab. Die Landesregierung habe keine Möglichkeit, auf unternehmerische Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Die BesetzerInnen organisieren ständig neue Aktionen, mit denen sie ihre Situation bekannt machen, und soziale Aktivitäten, mit denen sie sich bei der Bevölkerung für die enorme Solidarität bedanken. "Wir legen uns hier mit einem milliardenschweren Gegner an, weil wir einfach nicht einsehen wollen und können, dass wir mit unseren Familien in naher Zukunft vor dem Nichts stehen sollen, während andere sich zu Lasten unserer Arbeitsplätze den Sack vollmachen." (Pressemitteilung vom 31.7.07) Ein Ende der Besetzung ist nicht absehbar. Nachdem sie den Kampf einmal aufgenommen haben, sind die KollegInnen entschlossen, so lange durchzuhalten, bis ein akzeptabler Lösungsvorschlag vorliegt. Anmerkungen: 1) Die Zitate stammen aus Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen von Bike Systems bei einem Besuch am 19. Juli, dem zehnten Tag der Besetzung. 2) Bosch-Siemens-Hausgeräte; im BSH-Waschmaschinenwerk in Berlin-Spandau streikten die Beschäftigten im September/Oktober 2006 gegen die Werksschließung Kontakt: fahrradwerk@gmx.de Aktuelle Informationen, Spendenkonto usw. im LabourNet Germany ak - analyse & kritik |