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Updated: 18.12.2012 15:51
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Besetzung gegen Schließung

Marsha Niemeijer über die Auseinandersetzung um den Aluminium-Multi Alcan

Die Zeiten, in denen Sozialpläne halfen, den Personalabbau ›sozialverträglich‹ zu ›gestalten‹, dürf-ten auch hierzulande mit den Hartz-Gesetzen, ihren verschärften Zumutbarkeitsregelungen und geringeren Absicherungen vorbei sein. Zeit, sich an andere Formen der Auseinandersetzung mit Betriebsschließungen zu erinnern. Eine aktuelle Variante dessen dokumentieren wir mit dem Bericht von Marsha Niejmeier, freie Mitarbeiterin der US-amerikanischen Zeitschrift Labor Notes, über die Betriebsbesetzung in einem kanadischen Werk von Alcan. Die Besetzung ist zwar seit dem 20. Februar beendet, die Auseinandersetzung ist dennoch von Interesse: Die Beschäftigten wollten nicht nur, dass Alcan gezwungen würde, endlich in neue, umwelt- und menschenfreundlichere Technik zu investieren und Ersatzarbeitsplätze zu schaffen, sondern auch den Ausverkauf der Ressourcen ihrer Region verhindern: Alcan ginge es nur um den Zugriff auf die natürlichen und sozialen Standortbedingungen, um den dort gewonnenen Strom günstig zu exportieren. Die Beschäftig-ten forderten dagegen eine Konversion der Produktion, die Aufgabe monopolistischer Energieversorgungsstrukturen (Alcan ist Hauptlieferant nicht nur der Region Quebec) und die Teil-Verstaatlichung der Konzernaktivitäten. Die Vereinbarung, die zur Beendigung der Besetzung führte, beinhaltet die Verpflichtung des Konzerns, eine bereits 1998 gegebene Zusage zur Investition in moderne Fertigungstechnik und damit verbundene Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen einzuhalten.

In den letzten Jahren wurde es für Beschäftigte und Gewerkschaften immer schwerer, sich der Schließung von Fabriken zu widersetzen. Als aber Alcan, der weltweit größte Produzent von Alu-minium, die Schließung der Söderberg-Schmelze im Industriekomplex Jonquière in Arvida (Provinz Quebec) ankündigte, beschlossen die 550 betroffenen Beschäftigten nicht nur, Widerstand zu leisten – sondern auch, die Fabrik unter ihre Kontrolle zu bringen und die Produktion selbst in die Hand zu nehmen.

Nachdem das Unternehmen am 22. Januar angekündigt hatte, es werde die Fabrik zehn Jahre früher schließen, als es die zuvor getroffene Vereinbarung mit der für diesen Betrieb zuständigen Gewerkschaft Syndicat National des Employé(e)s de l’Aluminium d’Arvida vorsah (eine Gewerkschaft mit 2300 Mitgliedern, die sich der CAW angeschlossen hat), diskutierten die Mitglieder auf einem vollbesetzten Treffen am 26. Januar die möglichen Optionen. »Jemand schlug vor, die Fabrik zu besetzen, und von da an wurde die ganze Sache irgendwie zum Selbstläufer«, erinnert sich Ge-werkschaftsvertreter Jeannot Boivin. Am nächsten Morgen traten die Arbeiter wie gewöhnlich zur Schicht an. Anders als sonst folgten sie allerdings den Anweisungen der Vorgesetzten nicht mehr und begannen, die Schmelzprozesse selbst in die Hand zu nehmen.

Die lokale Gewerkschaft kontrolliert praktisch den kompletten Produktionsablauf in der Fabrik von der Ankunft des Bauxits am Hafen bis hin zu den Schmelzprozessen. Auch die chemische Fabrik, wo aus Bauxit Aluminium gewonnen wird, das Schienennetz sowie die hydroelektrischen Anlagen zur Stromversorgung werden von der Gewerkschaft gemanagt.

Am 30. Januar urteilte das Labour Relations Board von Quebec, die Aktivitäten der Gewerkschaft seien illegal.

Output erhöht

Ein paar Tage nach der Übernahme gab die Gewerkschaft eine Stellungnahme heraus, in der sie feststellte, dass die Arbeiter den Output der Fabrik erhöht hätten. Der Vorsitzende Claude Patry sagte dazu: »Das unter der Leitung der Gewerkschaft produzierte Aluminium ist von höherer Qua-lität als das vorher produzierte – und das, obwohl Alcan sich alles andere als kooperativ verhalten und sogar versucht hat, die Produktion zu sabotieren. Das muss man sich mal vorstellen: Die orga-nisierten Beschäftigten wollen dafür sorgen, dass die Fabrik weiterläuft, während die Bosse versu-chen, die Produktion zu blockieren.«

Boivin, informell zum Anführer der Besetzer geworden, gab bekannt, dass die Gewerkschaft alle Aufträge über Aluminium, die Alcan vor der Besetzung angenommen hatte, eingehalten und damit für das Unternehmen inzwischen 15 Mio. kanadische Dollar (ca. 9,5 Mio. Euro) verdient hat – und das ohne einen einzigen Unfall.

Treffen hinter verschlossenen Türen

»Wir zeigen äußerste Disziplin und sorgen dafür, dass jeder Beschäftigte sicher arbeiten kann«, sagt Boivin. Den Vorgesetzten wird der Zutritt zur Fabrik nicht verwehrt, aber keiner hört mehr auf sie. Laut Boivin hatte die Gewerkschaft Alcan in der Vergangenheit oft darauf hingewiesen, wie die Schmelzprozesse effizienter ablaufen könnten: »Wir sind die Arbeiter. Wir wissen, wie die Fabrik zu führen ist. Die Vorgesetzten haben die Schmelzprozesse noch nie in einem so guten Zustand gesehen.«

Die Gewerkschaftsmitglieder hatten sich am 9. und 10. Februar hinter verschlossenen Türen getrof-fen, um einen Einigungsvorschlag zu diskutieren, den ihre Führung nach fünf Tagen intensiver Ge-spräche mit dem Unternehmen verhandelt hatte. Rolland Poirier, der Chef der lokalen Gewerk-schaft, berichtete, dass dieser Vorschlag die Zustimmung der Gewerkschaft zum Verschwinden der 550 Jobs im Laufe von drei Monaten beinhaltete, und zwar durch Frühpensionierungen und Verset-zungen. Entlassungen waren darin nicht vorgesehen, und das Unternehmen hatte zugesagt, 20 Mio. kanadische Dollar (ca. 12,5 Mio. Euro) in die ökonomische Entwicklung der Region Saguenay/Lac St. Jean zu investieren.

Die Mitglieder hingegen waren aufgebracht über neue Informationen, denen zufolge das Unter-nehmen die vorgezogene Schließung der Fabrik nur vorangetrieben hatte, um den Strom, den die Schmelze verbraucht, Aluminiumfabriken in anderen Regionen von Quebec zur Verfügung stellen zu können, an denen es beteiligt ist. Daher wiesen sie den Vorschlag zurück und ihre Führung an, Alcan aufzufordern, ein ausreichendes Stromkontingent für die Schmelze bzw. für eine ersatzweise zu bauende neue Fabrik in der Region Saguenay zu belassen. Darüber hinaus fordert die Gewerk-schaft nun die Verstaatlichung der hydroelektrischen Anlagen von Alcan in der Region Saguenay. [1] Diese waren 1962 bei der Verstaatlichung der Elektrizität in der Provinz Quebec ausgeklammert worden.

Als die Gewerkschaft am 10. Februar mit diesen Forderungen an den Verhandlungstisch zurück-kehrte, erging sich das Unternehmen in Drohungen, es werde vielleicht eine andere Möglichkeit finden, die Besetzung zu beenden. Seitdem sind an den Arbeitsplätzen in der Fabrik ständig die Radios eingeschaltet, weil die Arbeiter im Fall einer eventuellen Intervention möglichst schnell vorgewarnt sein wollen. Dennoch macht sich die Gewerkschaft laut Boivin angesichts der massiven Unterstützung innerhalb der Mitgliedschaft und bei den Gemeinden in der ganzen Region keine Sorgen: »Wenn die Polizei eingreifen würde, wäre das eine Provokation. Das wollen wir nicht. Wie kann man uns vorwerfen, etwas Illegales zu tun, wenn wir unter so konsequenter Beachtung der Erfordernisse von Sicherheit und Disziplin weiterarbeiten?« Er ist immer noch wütend über die Pläne von Alcan: »Diese Schließung wird den Arbeitern wehtun, ihren Familien, aber auch der ge-samten Region.« Viele Gewerkschafter haben Jahrzehnte lang für Alcan gearbeitet, wie schon ihre Eltern vor ihnen. Die Söderberg-Schmelze produziert seit über 60 Jahren.

Die Region wird momentan geschüttelt von Jobverlusten, unter anderen schlossen im Mai eine bankrotte forstwirtschaftliche Kooperative und im Dezember eine Papiermühle, wobei 650 bzw. 600 Jobs verloren gingen.

Boivin kommentiert das Verhalten von Alcan: »Es war unmoralisch, wie sie die Schließung ange-kündigt haben. Unter ihrem Management hatten wir Streiks und grauenhafte Unfälle. Und jetzt halten sie uns immer noch in Unsicherheit. Dabei stehen sie bei der ganzen Region in der Schuld: Sie bedienen sich bei unseren natürlichen Ressourcen, und deshalb hat die Region ein Recht darauf, auch etwas davon zu haben.«

Die Stimmungslage bei den Menschen vor Ort wurde einige Tage nach Beginn der Besetzung am 31. Januar deutlich: Über 5000 Leute bekundeten mit einem Demonstrationszug durch die Straßen von Arvida ihre Solidarität mit den Beschäftigten.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 3/04

Übersetzung: Anne Scheidhauer
Quelle: www.labornotes.org, März 2004

1) Pierre Dubuc: »Alcan: les travailleurs mettent la nationalisation à l’ordre du jour.« In: L’aut’journal sur le web vom 11. Februar 2004


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