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Updated: 18.12.2012 15:51
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"Die haben die Fabrik übernommen"

Der Streik bei AEG in Nürnberg entfaltet eine ungeahnte Dynamik

Das Management des schwedischen AEG-Mutterkonzerns Electrolux versteht die Welt nicht mehr. Schließlich ist das Nürnberger AEG-Werk mit seinen 1.750 Arbeitsplätzen nicht der erste Betrieb, der geschlossen werden soll. Doch die Kampfbereitschaft der Belegschaft, die sich seit Mitte Dezember im Ausstand befindet, übertrifft selbst die kühnsten Erwartungen. Welches materielle Ergebnis der Streik für die Beschäftigten letztendlich auch hervorbringt, der Kampf um das Nürnberger Traditionswerk könnte der Startschuss für zukünftige Betriebsauseinandersetzungen sein.

Es war die kürzeste Betriebsversammlung, die es bei AEG in Nürnberg je gegeben hatte. Am 12. Dezember des vergangenen Jahres blieben dem Europachef des schwedischen Electrolux-Konzerns, Horst Winkler, nur wenige Minuten, der Belegschaft den Schließungsbeschluss des Nürnberger Haushaltsgerätewerks bis Ende 2007 zu verkünden. Unzählige Sitzkissen flogen Richtung Rednerpult, unter gellenden Pfiffen und der Wut der Belegschaft blieb der Vorstandsriege des Großkonzerns nichts anderes übrig, als fluchtartig das Betriebsgelände zu verlassen. Seither ist bei AEG in Nürnberg nichts, wie es vorher war.

Um die Schließung des Nürnberger Werks zu verhindern und damit die Arbeitsplätze zu erhalten, hatten IG Metall und Betriebsrat der Konzernleitung bereits im Oktober 2005 millionenschwere Zugeständnisse unterbreitet. Das Sparpaket zu Lasten der ArbeiterInnen und Angestellten umfasste Einsparungen in Höhe von 15 Millionen Euro. Als Gegenleistung sollte eine Standortsicherung bis 2010, keine betriebsbedingten Kündigungen, eine Stückzahlgarantie und weitere Investitionen erreicht werden. Unterstützung erhielten die ArbeitnehmervertreterInnen auch vom INFO-Institut Saarbrücken. Das hatte in einem Gutachten festgestellt, dass es keine betriebswirtschaftliche Notwendigkeit für eine Schließung gebe, denn das Werk in Nürnberg erwirtschaftet seit Jahren schwarze Zahlen.

Doch Electrolux lehnte alle Angebote ab. Die Gewerkschaft drohte mit Streik und Käuferboykott, zog sich aber auch den Unmut großer Teile der Belegschaft zu: In einer Betriebsvereinbarung mit der Konzernleitung hatte sie im November 2005 der Entlassung von über 470 ArbeiterInnen zum 1. Juli 2006 sowie einer Lohnsenkung von 17% zugestimmt. "Sie betrügen euch" ist seither als Graffiti am Werkstor zu lesen. Keine vier Wochen später verkündete Electrolux die Schließung des Werks bis Ende 2007 und die Verlagerung der Produktion nach Polen. Dort steht derzeit ein hochmodernes Werk für Waschmaschinen und Geschirrspüler kurz vor der Fertigstellung.

Mit dem Schließungsbeschluss überschlugen sich bei AEG die Ereignisse, und auch die IG Metall wurde z.T. von der Entschlossenheit der Belegschaft überrollt. Dass die Geschäftsführung alle einseitigen Einsparungsangebote der Beschäftigten zum Erhalt der Arbeitsplätze abgelehnt hat und dass in Nürnberg darüber hinaus absolut Gewinn bringend produziert wird, sorgte in der Belegschaft für eine Trotzreaktion, mit der niemand so richtig gerechnet hatte. Neben gewerkschaftlich organisierten Aktionstagen verweigerten viele AEGlerInnen individuell die Arbeit. Fast täglich versammelte sich die Belegschaft zu Informationsveranstaltungen beim Betriebsrat, anschließend kehrte niemand mehr an seinen Arbeitsplatz zurück. Der Krankenstand schnellte auf über 20 Prozent hoch, immer wieder wurde die Produktion an den Bändern unterbrochen. Es kam zu Strom- und Maschinenausfällen.

Unternehmen und Gewerkschaft: Kontrollverlust

"Die Belegschaft hat die Fabrik übernommen. Wir können für nichts mehr garantieren, uns ist die Sache aus den Händen gelaufen." So schilderte Nürnbergs AEG-Betriebsratschef Harald Dix die explosive Stimmung unter den Beschäftigten. Um die Wut nicht noch weiter anzuheizen, hatten sich Betriebsrat und die Werksleitung darauf geeinigt, die Arbeitsniederlegungen als Freischichten und Überstundenabbau zu werten, um arbeitsrechtliche Maßnahmen gegen die Beschäftigten zu vermeiden. Eine Tarifkommission arbeitete unterdessen die Forderungen eines Sozialtarifvertrags aus, um regulär in den Streik treten zu können. Die Geschäftsleitung forderte ihrerseits das Ende aller Streiks und Ausstände, nur so würde es weitere Verhandlungen geben können.

Keine Frage, der Umfang des aufgestellten Sozialtarifvertrages hat es in sich: Die Gewerkschaft fordert von der Konzernleitung die Bereitstellung von Ersatzarbeitsplätzen an anderen Electrolux-Standorten, die Einrichtung einer Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaft bis Ende 2010 bei voller Lohnfortzahlung, Abfindungen in Höhe von drei Monatsgehältern pro Beschäftigungsjahr und eine großzügige tarifierte Vorruhestandsregelung. Damit solle Electrolux überzeugt werden, "dass es möglicherweise teurer ist, das Werk zu schließen, als es zu erhalten", wie Dix erklärte. Electrolux, weltweiter Marktführer im Bereich Haushaltsgeräte, beziffert die Schließungskosten auf 230 Millionen Euro. Die Gesamtkosten für den geforderten Sozialtarifvertrag werden auf 600 Millionen Euro geschätzt.

Mit 96,4 Prozent stimmten die aufgerufenen Gewerkschaftsmitglieder im Januar dieses Jahres in einer Urabstimmung für einen unbefristeten Streik. Das ist die größte Zustimmung für einen Arbeitskampf in der Geschichte der IG Metall. Seit dem 20. Januar wird im Nürnberger Werk nicht mehr gearbeitet. Man hat den Eindruck, dass weder die Kälte noch die Dauer des Streiks die Stimmung der Beschäftigten trübt. Im Gegenteil, Electrolux schürt durch sein Vorgehen auch weiterhin das Feuer in den Streiktonnen vor dem Werkstor. Das Angebot des Konzerns - wahlweise Abfindung in Höhe von 0,7 Prozent eines Monatsgehalts pro Dienstjahr oder eine auf zwölf Monate befristeten Beschäftigungsgesellschaft - wird von den Streikenden nur als Hohn empfunden. Die Forderung der IG Metall ist etwa vier mal so hoch.

Unterdessen haben sich die Beschäftigten der ausgelagerten AEG-Sparten Logistik und Distriparts (Ersatzteilsparte) dem Streik angeschlossen. Bei ihnen geht es nicht um Schließungen, sondern um einen Anerkennungstarifvertrag. Mehr als zwei Wochen nach Streikbeginn meldete Electrolux erstmals Lieferschwierigkeiten und Probleme in der Kundenbetreuung.

Um den Druck auf die Firma auch außerhalb des Werks zu erhöhen, rief das Sozialforum Nürnberg parallel zur Urabstimmung die BürgerInnen der Stadt zu einem Boykott von Electrolux-Erzeugnissen auf. Damit erhält die deutliche Konsumzurückhaltung gegenüber Electrolux-Waren seit dem Schließungsbeschluss auch einen politischen Ausdruck. Ursprünglich war der Boykott bereits vor Monaten vom 2. Vorsitzenden der IG Metall, Berthold Huber, ins Gespräch gebracht worden, die konkrete Umsetzung wurde ihm dann aber scheinbar zu heiß.

Kampf mit allen Mitteln: Streik, Boykott, Solidarität

Hinter Electrolux verbergen sich über 30 Markennamen, so neben AEG und Electrolux auch Frigidaire, Zanussi, Husquarna oder Eureka. Nach Angaben aus Gewerkschaftskreisen will das Unternehmen von mehr als 20 Standorten in Westeuropa insgesamt 13 Werke schließen. Während der Boykott in der Region bereits großen Anklang findet, soll auch überregional der Druck auf Electrolux erhöht werden. Unter www.jobkiller-electrolux.de wurde dazu im Internet eine Kampagnenseite eingerichtet. Die IG Metall schätzt, dass durch den anhaltenden KäuferInnen-Boykott der Umsatz von Electrolux in Deutschland um 40 Prozent zurückgegangen ist. Für das Nürnberger Sozialforum war es wichtig, mit dem Boykott-Aufruf eine Möglichkeit zu finden, auch als soziale Bewegung in konkrete Arbeitskämpfe einwirken zu können.

Beeindruckend ist die riesige Solidarität mit den Streikenden aus anderen Betrieben und der Nürnberger Bevölkerung. Neben Speis' und Trank, die tagtäglich am Streikzelt vor dem Werkstor abgegeben werden, organisieren die Belegschaften anderer Betriebe ganze LKW-Ladungen an Brennholz, Kleidung, usw. Selbst ein bekannter Sportartikelhersteller aus Herzogenaurach spendierte warme Streikkleidung für die AEG, und die Fankurve des "Clubbs" (1. FC Nürnberg) solidarisierte sich mit Sprechchören und Transparenten. Alleine an einem Wochenende sammelte das Sozialforum in der Nürnberger Innenstadt über 2.000 Boykott-Unterschriften gegen die Schließung des AEG-Werks. Während es solidarische Kontakte zu zahlreichen Electrolux-Belegschaften aus anderen Ländern gibt, ist der Kontakt zu gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten in polnischen Werken schwierig, es gibt sie ganz einfach kaum. Dafür reichen sich vor dem Werkstor alle möglichen Parteivorsitzenden die Hand. Auf der Zuspruchsrangliste dürfte neben Nürnbergs Oberbürgermeister Maly wohl Oskar Lafontaine ganz oben stehen, während führende Vertreter der CSU bisher kaum Sympathien in der Belegschaft erzielen konnten, Edmund Stoiber wurde sogar offiziell ausgeladen.

Management hat sich verspekuliert

So wie es scheint, hat sich das Management von Electrolux deutlich verspekuliert. Nachdem das Unternehmen hierzulande bereits zwei Werke schließen ließ, stößt es nun in Nürnberg auf eine wütende Belegschaft, der es aus dem Bauch heraus darum zu gehen scheint, dem Großkonzern die Schließung so teuer wie möglich zu machen. Mit dem Streik erfahren viele wohl zum ersten Mal die Stärke einer geschlossen handelnden Belegschaft, die allen Zuspruch aus der Stadt hinter sich weiß. Ob es reicht, die Werksschließung zu verhindern, glauben wohl nur die wenigsten. Die meisten aber haben im Streik nichts zu verlieren, da in Nürnberg mit der AEG eines der letzten traditionellen Industriewerke geschlossen werden würde. Mit hinter einem nur noch die Wand und Hartz IV lässt es sich u.U. durchaus leichter streiken.

Das Ergebnis des Ausstands hängt aber nicht nur von der Streikbereitschaft der Belegschaft ab, sondern auch von den Funktionären der IG Metall und dem, was die Gewerkschaft bereit ist durchzukämpfen. Sollte am Ende des Streiks ein akzeptables Ergebnis stehen, könnte er durchaus eine lernende und lehrende Wirkung auf die zukünftigen Kämpfe haben. Massenentlassungen sind zur Genüge angekündigt.

Artikel von "unbekannt"

Informationen zum AEG-Streik im Internet: www.netzwerkit.de externer Link

Erschienen in ak - zeitung für linke debatte und praxis / Nr. 503 / 17.2.2006


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