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Silicon Valley – das Detroit des Informationszeitalters

Ein Blick auf die Unterseite der New Economy

"Krise der Arbeitsgesellschaft – Ende der Arbeiterbewegung?", so lautete der Titel einer Veranstaltung mit Boy Lüthje*, zu der die Jour Fixe Initiative Frankfurt, der express und die Rosa Luxemburg-Stiftung am 22. November ins Frankfurter Gewerkschaftshaus eingeladen hatten. Unter dem etwas sperrigen Titel verbarg sich der Anspruch, die Debatte um das Ende des "industriellen Paradigmas" und dessen Ablösung durch die "Informations-, Kommunikations- und Dienstleistungsgesellschaft" sowie die damit verbundenen Hoffnungen auf die Job-Maschine "New Economy" oder gar – wie in den Publikationen von Antonio Negri, Maurizio Lazzarato u.a. – auf ein "Immateriell-Werden der Arbeit" und einen völlig neuen Typus des "Wissensarbeiters" zu verbinden. Was ist dran an der These, dass nicht mehr maschinelles Kapital, sondern Wissen zähle, dass der "General Intellect" sich nun tatsächlich verallgemeinert habe? Um welche Arbeitsbedingungen handelt es sich in der so genannten New Economy? Boy Lüthje hat in einer seiner jüngsten Publikationen "Standort Silicon Valley" die "Ökonomie und Politik der vernetzten Massenproduktion" am Beispiel der IT-Branche untersucht und ist dabei auch der Frage nachgegangen, welche Auswirkungen diese auf die Arbeitsbedingungen und die Interessenvertretung der Beschäftigten hat. Dazu und zur Veranstaltung der folgende Bericht:

 

Die IT-Branche scheint eine hervorragende Projektionsfläche für Mythenbildung aller Art – vom Ende der tayloristischen Massenfertigung über die immaterielle Produktion bis hin zur Aufhebung der Wertvergesellschaftung. Schaut man sich aber, wie das Boy Lüthje über ein Jahr lang getan hat, das Silicon Valley genauer an, findet man dort nicht die Verwirklichung dieses Mythos, sondern eine massive soziale Polarisierung, die sich auch in der räumlichen Aufteilung der Produktion ausdrückt: zwischen den Beschäftigten des großen Industriegürtels im Osten des Silicon Valley mit Fertigungsbetrieben der Auto-, Elektro- und Metallbranche und dem westlichen Teil des Silicon Valley, dem "Florenz des Informationszeitalters", in dem Wagniskapital-Banken, Startup-Unternehmen etc. angesiedelt sind. Letztere kann es nur unter der Voraussetzung geben, dass es erstere gibt. Auch nach der soundsovielten technischen Revolution braucht man also noch Wasser zum Kochen. Es ist gerade diese Mischung aus wissenschaftlich-technischem Potential auf der einen Seite und Massenproduktion auf der anderen Seite, die, so Lüthje, das Spezifische des Silicon Valley als Standort der globalisierten Massenfertigung ausmache. Dies zeige aber auch, dass die These vom Ende der materiellen Arbeit im Zusammenhang mit dem IT-Sektor ganz einfach "Quatsch" ist. Wichtig sei jedoch – und dies wollte Lüthje in seinem Vortrag zeigen –, dass das Verhältnis zwischen wissenschaftlich-technischer Seite der Produktivkraftentwicklung und der Produktion neu definiert und in diesem Sinne auch "die Arbeit neu zusammengesetzt" werde. Hierin liege der Kern des "postfordistischen Industriemodells", dessen Differenzen zur traditionellen Massenproduktion es zu analysieren gelte, um auch die Auswirkungen auf die Arbeitsverhältnisse und deren politische und soziale Konsequenzen für die Arbeiter- bzw. Gewerkschaftsbewegung zu verstehen.

 

Von der vertikalen zur horizontalen Integration

Seit den Anfängen in den 50er Jahren bis in die 80er Jahre handelte es sich bei der IT-Branche um eine vertikal integrierte fordistische Massenproduktion. Zu den bekannten Unternehmen gehörten z.B. IBM, Digital Equipment, Siemens oder Fujitsu, die alle wesentlichen Elemente eines Computers – also Chips, Hardware, Betriebssysteme, Software etc. – noch ‚unter einem Dach’ produzierten. Sieht man sich die selbe Branche im Jahre 1995 an, stellt man fest, dass sich entlang der einzelnen Systembestandteile besondere Branchensegmente ausgebildet haben, in denen jeweils nur noch ein Teil des "Systemprodukts" hergestellt wird: Festplattenindustrie, Chipherstellung, Modemindustrie, Monitorindustrie etc. Die ehemals vertikalen Ketten lösten sich auf in horizontale Systeme, die global organisiert sind und in denen sich jeweils einzelne Branchenführer, also quasi monopolistische Verhältnisse herausgebildet haben, wie z.B. Microsoft für die Betriebssysteme oder Intel bei der Chipsherstellung. Dieses US-amerikanische Erfolgsmodell der New Economy wird deshalb von der amerikanischen Sozialwissenschaft als "Wintelism" bezeichnet und als Alternative nicht nur zum "Fordismus", sondern auch zum japanischen Rationalisierungs-Modell des "Toyotismus" betrachtet.

 

Auswirkungen auf die Industriestruktur

Im Silicon Valley drückt sich diese Veränderung hin zum "Wintelism" besonders deutlich aus. Hier bildet die Struktur der Industrie ziemlich genau die Schichtung jener horizontalen Branchensegmente ab, die für die Schlüsselsektoren des Informationssektors von Bedeutung sind. Zu diesen Schlüsselsektoren zählen die Halbleiterindustrie (Intel, AMD etc.) und der Maschinen- und Anlagenbau zur Herstellung von Chips (Applied Materials etc.), der ausgesprochen kapitalintensiv ist. In diesen Bereich fließt der größte Teil der Investitionen innerhalb der IT-Branche. Die Weltmarktführer unter den IT-Unternehmen sitzen entsprechend im Silicon Valley und sind eng verknüpft mit dem Chipherstellungssektor. Dass diese Industrie, die gigantischer Investitionssummen bedurfte, überhaupt entstehen und die Konkurrenz zu Japan überleben konnte, ist darauf zurückzuführen, dass sowohl die Reagan- als auch die Bush-Administration sie mit staatlichen Technologieförderungsprogrammen wie dem Sema-Tec Program massiv unterstützt hatte.

"Computerunternehmen" im alltagssprachlichen Sinne gibt es in Silicon Valley dagegen nur noch relativ wenige. Im Wesentlichen sind das Apple, Hewlett Packard und die Hersteller von spezialisierten leistungsfähigeren Datensystemen, Workstations oder Servern (z.B. Sun, Silicon Grafics, Tandem etc.). Des Weiteren finden sich dort Produktionsstätten zur Festplatten- und Speichersystemherstellung mit weltweit vier bis fünf Marktführern, die alle in Silicon Valley angesiedelt sind. Auf dem Höhepunkt des High-Tech-Booms in den 90er Jahren gab es in dieser Branche weltweit insgesamt ca. 80000 Beschäftigte, von denen zwei Drittel in Südostasien arbeiteten. Deren Arbeit wiederum findet nach wie vor unter den Bedingungen industrieller Massenproduktion statt und gibt wenig her für den Mythos der "Enthierarchisierung" oder "Immaterialisierung" der Produktion.

Anders dagegen die so genannte Networking-Industry – ein weiterer zentraler Sektor der IT-Branche. Der größte Vertreter dieser Branche ist die Entwicklungs- und Design-Firma Cisco. Sie hat zwar keine einzige Fabrik, verfügte aber 1999/2000 über eine höhere Börsenkapitalisierung als General Motors. Es müssen solche Firmen sein, die als Momente herausgegriffen und verabsolutiert werden, um zur Vorstellung vom "Ende der Arbeit" und einem Kapitalismus, der nur noch aus Dienstleistung, Börse und Aktienkapital besteht, zu kommen.

Eine anscheinend weitgehend unbekannte Existenz-Voraussetzung für solche Firmen ist das letzte, aber sehr wichtige Segment: die so genannte Kontraktfertigung ("contract manufacturing"), die eine Erfindung aus dem Silicon Valley ist. Gemeint ist damit die Fertigung von Computern, Networks und anderer Hardware, zum Teil sogar von Festplatten, die im Auftrag jener großen, fabriklosen Entwicklungsfirmen wie Sun oder Cisco erfolgt. Dieser Kontraktfertigungs-Sektor hat sich in den letzten Jahren in einem unglaublichen Tempo entwickelt; er ist inzwischen zu einer global organisierten Industrie geworden, die das Rückgrat der IT-Branche bildet und 25-30 Prozent der gesamten Computerfertigung weltweit abdeckt. Branchenführer unter den Kontrakt-Fertigungsunternehmen ist die Firma Solectron, die alles herstellt, was zur Fertigung von IT-Hardware gehört. In ihren 55 Standorten weltweit hatte Solectron vor der Krise (Ende 1999) bei einem Jahresumsatz von 20 Milliarden US$ ungefähr 80000 Beschäftigte, die sie jetzt, also innerhalb eines Jahres, auf 60000 heruntergefahren haben. Diese neue Form der Fertigungsinfrastruktur ist in den 90er Jahren im Silicon Valley aus dem Trend des extremen Outsorcing entstanden: Die marktbeherrschenden Unternehmen des "Wintelism" wurden explizit als fabriklose Unternehmen von den Wagniskapital-Banken in der Region aufgebaut und als solche an den Start geschickt. Zu den ausdrücklichen Bedingungen der Investoren gehörte es, dass die zu finanzierenden Unternehmen nicht in die Fertigung gehen sollten, da diese als zu kapitalintensiv und deshalb zu risikoreich galt. Das Risiko der aktuellen Krise tragen entsprechend zunächst einmal die Kontraktfertiger.

 

Die Arbeitsverhältnisse im Silicon Valley

Die Analyse des wintelistischen Industriemodells verdeutlicht, so Lüthje, dass sich nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der verschiedenen Schichtungen der horizontalen Branchensegmente eine massive soziale Polarisierung abspielt. Die Situation derjenigen, die als technologisch hoch qualifizierte und gut bezahlte Kräfte in den Spitzenunternehmen der Entwicklungs- und Designfirmen, aber auch der Contract Manufacturer arbeiten, unterscheidet sich deutlich von der Situation derjenigen, die am unteren Ende der Produktionskette stehen und dort typische Tätigkeiten im Rahmen klassischer Industrieproduktion übernehmen: Sie stellen nämlich die Geräte und Systeme her. Dies zeigt sich auch in der Beschäftigungsentwicklung im Silicon Valley, das nach einer rasanten Zunahme der Zeitarbeit in den 90er mittlerweile auch als "Hauptstadt der Zeitarbeit" in den USA bezeichnet wird. Man schätzt, dass dort mindestens 40 Prozent aller Beschäftigten in Zeitarbeitsverhältnissen arbeiten (Durchschnitt in den USA: 30 Prozent), davon wiederum sind rund 30 Prozent Industriearbeiter. Das nimmt z.B. die Form an, dass bei Solectron die Zeitarbeitsfirmen in das Personalmanagement des Unternehmens eingebunden sind. In den Werkshallen gibt es mittlerweile eigene Büros für die Repräsentanten der Zeitarbeitsfirmen, die dann auch für Probleme, Beschwerden und das Management ihrer jeweiligen ArbeiterInnen zuständig sind.

Für diese Arbeit am unteren Ende der Produktionskette sind folgende Momente bestimmend:

Es gibt eine ausgesprochen starke Polarisierung zwischen den Hierarchieebenen, also zwischen den in der Regel weißen, männlichen Angestellten an der Spitze, die sich in relativ fortschrittlichen Arbeitsformen bewegen dürfen, für die Silicon Valley oftmals steht, und den Arbeitskräften in der Produktion. Auch dort ist zwar die Rede von Teamwork, doch außer der "Politik der offenen Tür" (jeder Beschäftigte kann sich jederzeit an seinen Vorgesetzten wenden – die Türen stehen im wörtlichen und übertragenen Sinne offen) existiert diese nur in einer extrem autoritären, US-spezifischen Variante des "Management by stress" – in Bezug auf diese Arbeitsverhältnisse sprach Lüthje von einem "fröhlichen Zurück zum Taylorismus". Dieser Unterschied schlägt sich natürlich auch in den Löhnen nieder. Der normale Einstiegslohn für Tätigkeiten am Band ist der gesetzliche Mindestlohn (5,75 US$ pro Stunde in Kalifornien), der auf acht bis neun US$ für relativ erfahrene – oft weibliche – Arbeitskräfte steigen kann. Die höchsten Löhne im Fertigungsbereich überhaupt liegen in der Größenordnung von 14 bis 18 US$, die für qualifizierte Arbeiten gezahlt werden. Zum Vergleich: ein gewerkschaftlich organisierter Arbeiter in der Autoindustrie im Osten des Silicon Valley verdient 22 US$ plus Sozialleistungen. Das bedeutet, dass die gesamte Produktion auf den niedrigen Löhnen in die-sem Segment beruht – und dies wiederum hängt zusammen mit der extremen geschlechtlichen und ethnischen Segregierung der Arbeit: Die 40000 bis 50000 Produktionsbeschäftigten in Silicon Valley sind fast ausschließlich nicht-weiße Einwanderer oder deren Nachkommen aus Asien und aus Mexiko. Diese Art der Arbeit gilt von vorneherein als Immigranten- und Frauenarbeit. Ein weiteres wesentliches Charakteristikum ist die extreme Flexibilisierung, die vor allem über die Form der Zeitarbeit erfolgt. Und ein letzter Punkt schließlich ist die Unzahl von "ethnisch" begründeten betriebspaternalistischen Beschäftigungsverhältnissen vor allem in Kleinbetrieben bis hin zur familiären Heimarbeit. Aus der Perspektive einer gewerkschaftlichen oder politischen Organisierung erweisen sich diese vielschichtigen Verhältnisse als schwierige Voraussetzung.

 

Perspektiven der Interessenvertretung

Der gesamte Produktionskomplex ist gewerkschaftlich so gut wie überhaupt nicht organisiert. Dies gilt umgekehrt als Beleg dafür, dass die Computerindustrie nicht organisierbar ist, weil sie "gute Jobs schafft", weil sie "saubere Jobs schafft", weil sie "fortschrittliche Arbeitsverhältnisse schafft" – und was es sonst noch für angebliche Argumente gibt. Der historische Grund, warum sich dort keine gewerkschaftliche Organisierung entwickelt hat, liegt nach Lüthje jedoch darin, dass diese Produktion bereits in den 70er Jahren unter dem Vorzeichen der ethnisierten Niedriglohnproduktion entstand und dass die Gewerkschaften sich um diesen Bereich nie gekümmert bzw. es zum großen Teil auch abgelehnt haben, sich darum zu kümmern. Das hat, so Lüthjes Einschätzung, vor allen Dingen etwas zu tun mit dem historischen Rassismus in den US-Gewerk-schaften. Nicht-weiße Mitglieder galten historisch immer wieder als Mitglieder zweiter Klasse, wenn sie überhaupt Mitglied einer Gewerkschaft werden durften. Das trifft in besonderem Maße für die Gewerkschaften in der Elektro- und Elektronikbranche zu. Das Silicon Valley ist ein Teil der Geschichte jener "Run away Shops", die sich im Süden der USA in den so genannten "right-to-work"-Staaten befinden; in jenen Staaten also, in denen das Recht auf Arbeit so ausgelegt wird, dass der Arbeitnehmer nicht Mitglied einer Gewerkschaft werden darf.

Doch bei den US-Gewerkschaften scheint sich in den letzten Jahren langsam etwas zu ändern, wie Lüthje auch aus dem IT-Bereich zu berichten wusste. Mit dem Führungswechsel im Dachverband AFL-CIO verknüpft ist ein deutlicher Richtungswechsel der Gewerkschaften in Bezug auf deren Anstrengungen, neue Mitglieder unter der rasch wachsenden Zahl von NiedriglohnarbeiterInnen in den neuen Dienstleistungs- und Industriesektoren der New Economy zu gewinnen. So gelang es in San Jose, das Southbay Central Labor Council als Gegengewicht zum Unternehmerverband im Silicon Valley zu gewinnen, was zu einer deutlichen Belebung der lokalen politischen Strukturen geführt hat. Aufgabe des Councils ist es unter anderem, elementare Instrumente für politische Interventionen zu schaffen, d.h. Analysen zur sozialen Lage der Arbeiterschaft in der Region zu erstellen, eine eigene Bildungsarbeit zu organisieren, Formen und Grundlagen einer vom einzelnen Unternehmen unabhängigen Qualifizierung im Interesse der Beschäftigten zu entwickeln etc. Gedacht ist also z.B. weniger an den Abschluss von Tarifverträgen mit Zeitarbeitsfirmen, auch wenn selbst dies bei den allermeisten Gewerkschaften noch nicht in deren Horizont liege, sondern an eine Wiederbelebung des "Erfahrungsansatzes".

Kirsten Huckenbeck/Nadja Rakowitz

* Boy Lüthje ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung in Frankfurt a.M. und Autor der beim Campus-Verlag erschienenen Studie: Standort Silicon Valley. Ökonomie und Politik der vernetzten Massenproduktion, Frankfurt – New York 2001

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 11-12/01


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