Dialog aus Solidarität - Solidarität durch Dialog

 

Im November 1999 gab es eine europaweite Protestaktion der Schiffbauarbeiter gegen die "schmutzige Konkurrenz" aus Südkorea. Plötzlich sahen wir die Arbeiter zusammen mit den Managern in einer Reihe "gegen die ausländische Konkurrenz" demonstrieren. Die koreanischen Gewerkschafter reagierten verärgert über dieses ihrer Meinung nach "unsolidarische" Verhalten.

Diese Vorkommnisse sind Anlass für die folgenden Überlegungen und den anschließenden Vorschlag für einen "Kieler Dialog".

 

Notwendigkeit und Schwierigkeit von Solidarität

Marx und Engels hatten allen Grund für ihren Aufruf: "Proletarier aller Länder vereinigt Euch!". Tatsache war und ist noch mehr als 150 Jahre später, dass sich zwar das Wort "internationale Solidarität" fast als Selbstverständlichkeit durchgesetzt hat, aber eben nur das Wort.

Tatsächlich verläuft eine tiefe Spaltung und ein gnadenloser Konkurrenzkampf zwischen den Arbeitern einzelner Nationen und Staaten, insbesondere wenn sie verschiedenen Abteilungen der Weltarbeitsteilung angehören.

Diese Tatsache scheint "internationale Solidarität" auf den ersten Blick nicht auszuschließen, beispielsweise wenn es um Kämpfe in anderen Ländern für höhere Löhne, Verkürzung der Arbeitszeit, Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Beschränkung der Kinderarbeit oder überhaupt die Einführung gewisser Sozialstandards geht. Diese Fälle sind allerdings auch mit der vom Kapital vorgegebenen Standortlogik voll vereinbar.

Obgleich oft in erbittertem Kampf mit den "eigenen Arbeitgebern", beobachten die Gewerkschaften dagegen argwöhnisch mögliche "Bevorzugungen" ihrer Kollegen in anderen Ländern durch direkte oder indirekte Subventionen, die den dortigen "Standort" konkurrenzfähiger machen könnten. Was als Abhängigkeit von den "Arbeitsplätzen" erscheint, ist Ausdruck der Abhängigkeit vom Kapital. Genau diese Abhängigkeit ist es, die die Arbeiterorganisationen dann veranlasst, sich mit Forderungen nach Gegenmaßnahmen an die "eigenen" Regierungen, an die "eigenen" Unternehmer zu wenden.

Die internationale Spaltung ist nur die oberste Ebene der tausendfachen Spaltungen innerhalb jeder kapitalistischen Gesellschaft: Männer von Frauen, "Fleißige" von "Faulen", Gesunde von Behinderten, Junge von Alten, Produktive von Unproduktiven, Inländer von Ausländern, Weißen von Schwarzen und die noch Arbeitenden von den schon Arbeitslosen. All diese Spaltungen sind funktional für das Kapital. Sie nähren unsere Angst, die das Grundmerkmal von Herrschaft ist, machen uns noch mehr abhängig und führen damit zu vertiefter Spaltung.

Aber ist diese allgemeine Konkurrenz nicht ein Sachzwang, eine objektive Struktur? Es gibt keine gesellschaftliche Objektivität, die nicht durch subjektives Handeln konstituiert wird. Konkurrenz impliziert auch immer Ideologie. Wenn wir Konkurrenz bloß als etwas Objektives erkennen, ist das Ausdruck einer getrübten Wahrnehmung, eines verkehrten Bewusstseins. Wir schaffen damit nur die Begründung dafür, die Konkurrenz selbst auszuleben, statt sich mit ihr praktisch-kritisch auseinander zu setzen.

Da das Kapital längst nicht mehr eine uns bloß äußerliche Macht ist, da wir in mehr oder weniger langen historischen und persönlichen Prozessen die Prinzipien verinnerlicht haben, die das System funktionieren lassen, hilft kein noch so entschlossener Kampf gegen irgend etwas Äußeres. Es ist nicht das System als solches, das die Spaltung hervorbringt, sondern das systemadäquate Handeln aller Beteiligten.

Es ist möglich, dass die Menschen in vielen Ländern an den Folgen der neo-liberalen Offensive zerbrechen werden. Es ist möglich, dass wir uns unmittelbar vor der endgültigen Katastrofe doch noch besinnen. Das ist nicht sicher, aber es ist immerhin möglich. Nur: Sind wir tatsächlich durch die "objektiven" Verhältnisse dazu verdammt weiter zu machen, bis dieser Zusammenbruch unmittelbar bevorsteht?

Wir wollen versuchen zu zeigen, dass es möglich ist, vorher inne zu halten. Das kann aber keine isolierte individuelle Entscheidung sein. Es setzt Kommunikation voraus. Ist Konkurrenz durch reden aufzuheben? - Nein, aber nicht miteinander reden ist ein entscheidendes Merkmal der Konkurrenz und schafft erst die Grundlage, auf der sich die Konkurrenz und das Handeln in der Konkurrenz entfalten können. In einem intensiven Austausch von Gedanken und Gefühlen dagegen öffne ich mich, mache mich angreifbar; das kann ich mir in der harten Konkurrenz nicht leisten. Daher findet Kommunikation in der Konkurrenz nicht als Dialog, sondern bestenfalls als offener und meist als verdeckter, unterschwelliger "Schlagabtausch" statt.

Eine solche unterschwellige Aggression steckt auch hinter den Sonntagsreden über "Internationalismus". Wir brauchen also eine dialogische Kommunikation, nicht eine, die in Wirklichkeit nur ein Schlagabtausch ist. Das große "Internationalismus"-Gerede ist selbst Ausdruck der Besinnungslosigkeit, die Nachdenken, auch Nachfühlen darüber, was wir eigentlich tun, verhindert.

Wir versuchen, einen Dialog in Gang zu bringen, um die Besinnungslosigkeit zu durchbrechen, um inne zu halten, um eine Distanz zur bisherigen scheinbar objektiven Realität zu gewinnen und damit überhaupt erst wieder handlungsfähig zu werden.

Wer sich am Dialog beteiligt, kann nach und nach ein anderes, ein neues, ein distanziertes Verhältnis zur Realität der Konkurrenz gewinnen. Damit wird aber die Realität schon nicht mehr die selbe sein. Ja, schon der Versuch zum Dialog ist der erste Schritt in eine neue Realität. Wir übernehmen damit die eigene Verantwortung für die Mitwirkung an diesem System der Spaltung.

Der Sinn und die spürbare Folge von Solidarität ist, dass sich Angst und Stress real begründet verringern, die Angst nämlich vor der Niederlage im Konkurrenzkampf. Die sozialen Kämpfe können dadurch eine neue "moralische" Stärke bekommen. Damit würden wir auch jegliche Opfermentalität überwinden.

Solidarität ist das Einzige, das wir der Kapitallogik entgegensetzen können.

Wenn wir das erkannt haben, geht es um die praktische Frage, wie ein solcher solidarischer Dialog aussehen kann. Das müssen wir ausprobieren. Das fertige Rezept gibt es noch nicht.

 

Vorschlag für einen solidarischen Dialog

Um aus der Kapitallogik der Spaltung und der Konkurrenz heraustreten zu können, müssen wir und noch einmal klar werden über die Realität, in der wir leben:
Wir selbst sind Teil dieser aggressiven Konkurrenzgesellschaft, auch dann wenn wir diese grundlegend verändern wollen. Deshalb sind wir nicht "besser" als der Rest der Gesellschaft. Wenn wir für unser Mitwirken an dieser Gesellschaft nicht die Verantwortung übernehmen, reproduzieren wir genau das Unsolidarische, die Konkurrenz.

Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse können wir einen solidarischen Dialog aufnehmen mit denjenigen, die auch Solidarität als Mittel und Ziel anstreben. Voraussetzung für den Dialog ist dann nicht unsere Beurteilung und gegebenenfalls Verurteilung der anderen, sondern der folgenden Grundsatz:
Es gibt nicht eine Wahrheit, die wir erkannt haben und daher den anderen aufzudrängen das Recht oder gar die Pflicht haben. Wahrheit beruht auf Erfahrung und Erfahrung ist subjektiv. Jeder am Dialog Beteiligte hat also zunächst mal seine eigene Wahrheit.

 

Aber was können wir konkret tun?

Immer wieder werden wir in Situationen gebracht, in denen wir als Einzelne, als Gruppe, meist aber als ganze Betriebsbelegschaft oder gar als ganze "Nation" scheinbar objektiv zu Konkurrenten anderer Belegschaften oder Nationen werden. Als Einzelne können wir versuchen, die Sprachlosigkeit und Isolation zu überwinden, indem wir in einen direkten Dialog treten. Falls eine ganze Belegschaft betroffen ist, scheint das schwieriger zu sein. Wenn wir unseren "Konkurrenten" nicht direkt begegnen können, vielleicht, weil sie auf der anderen Seite des Erdballs leben und arbeiten, warum schreiben wir ihnen nicht kollektiv einen offenen Brief?

 

Unser Versuch, einen "Kieler Dialog" zu führen

Wir haben in Kiel die Chance, im direkten Gespräch zwischen koreanischen und deutschen Kollegen der Werftindustrie die Vorkommnisse der letzten Monate solidarisch zu klären. Darüber hinaus haben Werftarbeiter aus den Südstaaten der USA ihre Teilnahme an einem solchen Gespräch zugesagt.

Wir schlagen vor, auf der Grundlage der oben angestellten allgemeinen Überlegungen das Gespräch nach folgenden formalen Regeln für einen solidarischen Dialog zu führen

Jeder spricht über das, was ihn bewegt, d.h. wie er sich, den anderen und die Beziehung zwischen beiden erlebt. Er bleibt also bei sich. Der Dialog hat zunächst nur dieses Thema. Er ist offen. Reden und Zuhören sollen möglichst gleich verteilt sein. Es darf auch geschwiegen werden.

Keiner stellt inquisitorische Fragen, keiner interpretiert den anderen, keiner unterstellt dem anderen irgendetwas, keiner drängt den anderen zu Stellungnahmen oder Schlussfolgerungen, keiner erhebt Vorwürfe.

Wer das Wort hat, darf ausreden, sogar schweigen. Wir gestehen jedem Beteiligten Zeit zur Selbstbesinnung zu.

Dieses Arrangement ist ungewohnt. Dass es einen ernsten Versuch darstellt, Solidarität zu ermöglichen, wird uns klar, wenn wir verstehen, dass Gründe für Vorwürfe, Übergriffe, Unterbrechungen, Wahrheitsbehauptungen, Rechthabenwollen usw. entweder Schuldgefühle oder Opfergefühle sind, beides letztlich Angstreaktionen auf reale soziale Prozesse. Sie provozieren dann wieder Abwehrreaktionen. Das sind genau die Mechanismen, die uns im kapitalistischen System gefangen halten.

 

SOLIKOR, Berlin 29.02.2000

 

( Ein sehr gutes Beispiel für so etwas ist der offene Brief, den organisierte Arbeiter aus südkoreanischen Unternehmen in Indonesien Anfang der neunziger Jahre an ihre südkoreanischen Kollegen in den damals neu gegründeten demokratischen Gewerkschaftern richteten.

(( Die Erfahrungen stammen aus der Selbsthilfebewegung, einige der Formulierungen im Folgenden sind teilweise angelehnt an:. Moeller, Michael Lukas (1994): Die Wahrheit beginnt zu zweit. Reinbek (Rowohlt).

 


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