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Auf dem Weg zur Weltgewerkschaft

Zur Entstehungsgeschichte des ITF-Maritime Department

Von Werner Sauerborn

Die Entwicklungen im Bereich der internationalen Seeschifffahrt sind ein frühes Lehrstück über die Auswirkungen von Globalisierung auf Flächentarif und Gewerkschaftsorganisation. Von den ökonomischen Strukturveränderungen über verpasste Chancen der Gewerkschaften, den Niedergang einer nationalen Wirtschaftsbranche (besser: einer Branche als nationaler), die Erosion eines nationalen Flächentarifs, über den gewerkschaftlichen Mitglieder- und Bedeutungsverlust in einem Wirtschaftszweig, bis hin zu den Ansatzpunkten einer Gegenstrategie finden sich hier alle Rollen und Bühnenbilder des politischen Stücks wieder, das inzwischen ganz oben auf den meisten Spielplänen steht.

Dass Reeder mittels Ausflaggung versuchen, Tarifstandards zu unterlaufen, war schon 1970 kein neues und kein deutsches Problem. Die Zunahme des Welthandels, neue Schiffskonzepte und Überkapazitäten führen jedoch seit den 70er Jahren zu einem verschärften globalen Wettbewerb. Wenn je von der deutschen Seeschifffahrt als nationalem (Arbeits-)markt gesprochen werden konnte, war dem ab den 70er Jahren der Boden entzogen: Der Wirtschaftsbereich Seeschifffahrt wandelt sich als einer der ersten zu einem Weltmarkt. Die von der ötv abgeschlossenen Heuertarifverträge für Seeleute auf deutschflaggigen Schiffen deckten immer weniger den sich neu entwickelnden Markt ab und verloren im ökonomischen Sinne ihren Status als Flächentarifverträge. Als Ergebnis von Tarifflucht und Ausflaggung sank die Zahl der vom Geltungsbereich des bisherigen Flächentarifs erfassten Seeleute von 55000 im Jahre 1971 auf 19000 im Jahre 1988[1] und heute etwa 3000 überwiegend im Fährbetrieb der Ostsee fahrende Seeleute. Der Verband deutscher Reeder löste sich als Arbeitgeberverband auf, die Tarifpolitik auf Seiten von ÖTV bzw. ver.di für die Reste der deutschen Seeschifffahrt hat eher symbolischen Charakter.

An die Stelle einer sozialstaatlich und weitgehend tarifvertraglich regulierten Branche trat die freie Wildbahn des globalen Wirtschaftsbereichs Seeschifffahrt: fast keine Sicherheits- und Sozialstandards, keine Gewerkschafts- und Arbeitgeberstrukturen. Sozial- und Einkommensbedingungen der Seeleute pendelten sich auf dem Niveau der Marktteilnehmer mit den niedrigsten Standards ein.

Ende der 80er Jahre, als der Umstrukturierungsprozess in vollem Gange war, brach ein heftiger Konflikt zwischen Bundesregierung und ÖTV aus über Ob und Wie eines Eingreifens. Das Konzept der Bundesregierung, das letztlich durchgesetzt wurde, sah unter der Überschrift "Zweites Schifffahrtsregister" eine zweite Tarifebene vor, die es deutschen Reedern ermöglichen sollte, weiterhin unter deutscher Flagge zu fahren, auch wenn sie den Großteil der Schiffsbesatzungen zu den Heuerbedingungen ihrer Herkunftsländer beschäftigten. Selbst die sehr niedrig angesetzten Bedingungen des Zweitregisters waren die meisten Reeder nicht bereit zu erfüllen und wichen weiterhin in die Billigflaggen (FOC – flags of convenience) aus: Von 1500 in deutschem Eigentum befindlichen Schiffen fahren nur 600 unter deutscher Flagge, davon sind 450 im Zweitregister eingetragen, alle übrigen sind FOC’s.

Muss schon dieser milde Versuch eines Eingriffs in die Spielregeln der Globalisierung, der bereits wesentliche Sozialstandards preisgab, als gescheitert angesehen werden, hätte dies vermutlich um so mehr für das gewerkschaftliche Gegenkonzept gegolten, das ein Verbot von Ausflaggung in Verbindung mit Finanzhilfen und Steuerleichterungen zum Ausgleich für die im Vergleich mit Billigflaggen höheren Personalkosten vorsah.[2] Dem Kern des Problems, dem Verlust der gewerkschaftlichen Durchsetzungsfähigkeit in Folge der ausgebliebenen tarifpolitischen und organisatorischen Anpassung an die ökonomische Strukturentwicklung in Richtung Globalisierung, wäre auf diesem Wege nicht beizukommen gewesen.

Nachdem die gewerkschaftliche Niederlage Realität war, wurden die richtigen Konsequenzen gezogen. Rahmen für einen tarif- und organisationsstrategischen Neubeginn konnte nur die globale Ebene sein. Die Herausbildung einer Weltgewerkschaft für Seeleute vollzog sich in der Form eines Funktionswandels der Internationalen Transportarbeiterföderation ITF bzw. ihres Seeschifffahrtsbereichs. Zunächst klassischer Dachverband 533 nationaler Verkehrsgewerkschaften aus den Bereichen Flugverkehr, Bahnverkehr, Touristik, Straßentransport, Häfen, Fischerei und Seeschifffahrt modifizierte die ITF Zug um Zug ihr Maritime department von einem Branchendachverband zu einer Weltbranchengewerkschaft für Seeschifffahrt.

Die neue gewerkschaftliche Organisation entsteht hier also nicht in Form eines aufwendigen und komplexen mergers mit Zielbestimmung, Zeitplan, Widersprüchen und Interessenausgleichen und Gründungskongress, sondern in Form eines pragmatisch geprägten, durch konkrete Erfordernisse der Gewerkschaftsarbeit induzierter Prozesses, dessen Ergebnis jedoch alle Charakteristika einer Gewerkschaft kennzeichnet. Die ITF (maritime department) mit Sitz in London kennt neben 600000 mittelbaren Mitgliedschaften über ITF-Mitgliedsorganisationen zunehmend auch unmittelbare Mitgliedschaften von inzwischen 20000 Seeleuten aus Ländern ohne Mitgliedsgewerkschaft, sie unterhält einen eigenen Apparat mit 120 GewerkschaftssekretärInnen, sogenannten ITF-Inspektoren zur Betreuung der Seeleute in den wichtigsten Häfen von 40 Ländern. Sie verfügt mit ihrem "fair-practise-Ausschuss" über eine Welttarifkommission von Seeleuten und Hafenarbeitern, sie ist dabei, mit dem ITF-Vertrag einen globalen Flächentarifvertrag mit Mitteln des Arbeitskampfs (in Verbindung mit Boykottmaßnahmen von HafenarbeiterInnen) zu erkämpfen.

Als Gegengewicht zu der erstarkenden ITF sahen sich die Reeder gezwungen, einen internationalen Arbeitgeberverband zu gründen, die IMEC, mit der inzwischen der ITF-Vertrag als Welttarifvertrag[3] für Seeleute, allerdings mit dem Erfordernis von Anwendungstarifverträgen (Reeder für Reeder) vereinbart werden konnte. Danach wird die Netto-Heuer für alle Seeleute von derzeit 1200 $ und bis 2004 gestaffelt auf 1400 $ angehoben. Sogar die Einrichtung eines Sozialfonds (welfare fund) konnte die ITF dem Internationalen Reederverband abtrotzen. 1999 unternahmen die ITF-Inspektoren 7200 Inspektionen auf Schiffen in aller Herren Länder und konnten "als Ergebnis ... insgesamt 226 neue ITF-Verträge und Heuernachzahlungen in Höhe von 36 Millionen Dollar vorweisen", so "transport international", die in sieben Sprachen erscheinende Mitgliederzeitung der ITF.[4] Das Internet prägt, u.a. mit einem wöchentlich erscheinenden Info-mail[5], das Alltagsleben der Organisation, wie es wohl in keiner nationalen Organisation der Fall ist.

Durch die Herstellung eines Organisationsrahmens, der die Fläche der betreffenden Branche wieder erfasst, mit ihr wieder in Kongruenz ist, sind die Voraussetzungen für das Wiederwirksamwerden gewerkschaftlichen Handelns geschaffen. Tarifpolitische Erfolge und steigende Mitgliederzahlen in einer Gewerkschaftslandschaft, die ansonsten von dem Gegenteil geprägt ist, belegen die Richtigkeit dieses Ansatzes.

Die Entwicklung der ITF zu einer globalen Gewerkschaft stellt das Paradoxon eines impliziten Präzedenzfalls dar. Das verweist einerseits auf die unterwickelte Diskussion zum Thema Globalisierung und Gewerkschaften, war andererseits unter diesen Bedingungen Erfolgsvoraussetzung dafür, dass sich die ITF, maritime department, sozusagen undercover zu dem entwickeln konnte, was sie heute unerklärtermaßen ist: eine Weltgewerkschaft für Seeleute im Aufbau.

Die Frage ist, ob sie in diesem Widerspruch weiter bestehen und wachsen kann. Irgendwann wird es zum Problem werden, dass die Mitgliedschaften großteils nur mittelbare sind. Die demokratische Legitimationskette verläuft über zu viele Stationen. Innergewerkschaftliche Demokratie ist nicht nur ein unverzichtbarer qualitativer Standard, sondern entscheidet spätestens im Grenzfall über die Wirksamkeit gewerkschaftlicher Aktion. Ob und wann das globale Kind ITF sich von seinen nationalen Eltern emanzipieren kann, hängt davon ab, ob und wann diese die Zeichen der Zeit verstehen.

 

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 9/01

Anmerkungen

1) Wolfgang Däubler: "Das zweite Schiffsregister", Baden-Baden 1988, S. 8

2) Vgl. Renate Bunde: "Ursachen und Konsequenzen der Ausflaggung der Deutschen Handelsflotte", Hamburg 1991, S. 77

3) Vgl. Ulrich Zachert: "Gutachten zur Frage der Tariffähigkeit der ITF", Hamburg 1999

4) Ausgabe 2/2000, S. 14

5) TF news online, zu bestellen über email: mail@itf.org.uk


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