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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Uni-Klinikum-Interview: Nach dem Streik Während des langen Streiks in der ersten Hälfte dieses Jahres zeichneten sich die Beschäftigten der Uni-Klinik durch hohe Streikbereitschaft und eine Vielzahl von fantasievollen Streikaktionen aus. Einige Monate nach den gesonderten Tarifabschlüssen von ver.di und Marburger Bund hat die Redaktion des Göttinger Betriebs-Express (GBE) nun einen Krankenpfleger und einen Arzt (beide ver.di-Mitglieder) nach ihren Eindrücken und Einschätzungen befragt. Das Interview fand schriftlich statt, d.h. die beiden Interviewpartner saßen dabei nicht gemeinsam an einem Tisch. GBE: In der Öffentlichkeit wird der ver.di-Abschluss für die Beschäftigten im Göttinger Klinikum teilweise als Erfolg wahrgenommen. Sehen das die Beschäftigten selbst auch so? Krankenpfleger: Als Möllring nach vierzehn Wochen Streik schließlich die weiße Fahne rausholte, haben auch den KollegInnen die Augen geleuchtet, die vorher immer geunkt hatten, so'n Streik bringe doch eh' nix... Alles in allem haben wir mit einer anfangs nur schwach organisierten und vollkommen kampfunerfahrenen Belegschaft in einem Betrieb, der als nicht bestreikbar galt, einen der längsten Arbeitskämpfe in der BRD geführt - und den seit langem schärfsten Angriff der Arbeitgeber abgewehrt. Gemessen an diesem Erfolg ist allerdings der Abschluss enttäuschend: nicht nur, dass ver.di eine Arbeitszeitverlängerung auf durchschnittlich 39,2 Stunden pro Woche vereinbart. Viel schlimmer finde ich, dass im TVL die niedrigste Grundvergütung nur knapp1.300,- brutto beträgt (und somit kaum den von ver.di geforderten Mindestlohn übersteigt), während ver.di gleichzeitig für die Ärzteschaft, die ohnehin nicht mehr von ver.di vertreten sein wollte, wahre Traumgagen festlegt: 3.600,- beträgt das Einstiegsgehalt (Grundvergütung) für Ärzte laut TV-L mittlerweile, ein Plus von etwa 500,-, und wird jährlich um 200,- aufgestockt. Für die eigene Klientel Löhne, die kaum das Existenzminimum sichern, für diejenigen, die mit dem Schlachtruf "Schluss mit der Solidarität" losgezogen waren, dicke Geschenke - 2008 ist noch einiges nachzubessern. Auf welchem Niveau ist ein Krankenhausarzt mit seinem Gehalt eigentlich angesiedelt? Arzt: Nach dem alten Tarifvertrag grundsätzlich BAT II - I (Grundvergütung ab 2.200,- bzw. ab 3.000,-), hinzu kommen die jeweiligen Zusatzzahlungen für Bereitschaftsdienste und Sonderaufgaben. Der Vergleich zwischen den alten und neuen Einstufungen gestaltet sich leider ziemlich kompliziert, da die neuen Verträge die früheren Sonderzahlungen (z.B. Urlaubs- und Weihnachtsgeld) in die monatlichen Zahlungen integrieren. Ein Vergleich mit niedergelassenen ÄrztInnen ist schwierig, da häufig nur deren Umsätze bekannt sind und die wiederum extreme Spannbreiten umfassen. Ist es während des Streiks auch zu weitergehenden Auseinandersetzungen bzgl. künftiger Entwicklungen im Gesundheitswesen gekommen? Auch wenn das Argument der Kostenexplosion von interessierter Seite genutzt wird, um die Forderungen von abhängig Beschäftigten als wirtschaftlichuntragbar abzuqualifizieren, ließe sich doch über Kosteneinsparungen beispielsweise durch einen Übergang zu einer stärker auf Prävention orientierten Medizin nachdenken? Arzt: Meines Wissens nicht. Von ärztlicher Seite gab es in Göttingen bei den MB-Aktionen zwar eine ganze Reihe eigenständiger Fortbildungsveranstaltungen, die sich aber ausschließlich mit fachmedizinischen Themen befassten, nicht mit gesundheitspolitischen. Krankenpfleger: Im Gesundheitswesen tummeln sich viele Gruppen, die meinen, sie hätten eine Lizenz zum Geldmachen: Pharmaindustrie, private Krankenversicherungen, Medizingerätetechnik, die sogenannten "freien" Berufe (niedergelassene Ärzte, Apotheker) - hier gäbe es eine Menge Einsparpotential. Tatsächlich läuft es aber genau andersherum: Dass Medikamente im Rest Europas häufig nur einen Bruchteil des Preises kosten, der uns hier abgeknöpft wird, wird nicht in Frage gestellt. Dass ein schnöder EKG-Monitor mehr kostet als ein Kleinwagen, geht schon in Ordnung. Und wenn die niedergelassenen Ärzte aufschreien, weil sie - subjektiv - zu wenig verdienen, ist das kein unternehmerisches Risiko, sondern dann wird ihnen mit der nächsten "Gesundheitsreform" unter die Arme gegriffen. Gespart wird nicht da, wo es sinnvoll wäre, sondern dort, wo keine Lobby ist, sprich, bei den abhängig Beschäftigten und den Versicherten. Und natürlich sollte man nicht nur auf die Kosten gucken, sondern auch auf die Einnahmen: die Krankenversicherung wird im Wesentlichen aus den Einkünften der Erwerbstätigen finanziert, Mieteinnahmen und Kapitaleinkünfte werden nicht berücksichtigt. Und um die Bezieher hoher Einkommen zu schonen, gibt es die Beitragsbemessungsgrenze... Prävention ist natürlich gut und sinnvoll, aber nicht alles lässt sich vermeiden: es gibt genug Arbeits- und Lebensbedingungen, bei denen die beste Prävention nichts hilft - die Staublunge beim Bergmann, das erhöhte Krebsrisiko bei Arbeitern in der Chemieindustrie, der kaputte Rücken bei vielen Pflegeberufen u.v.a.m. Hier wäre die Anwendung des Verursacherprinzips angezeigt: Betriebe, die unter krankmachenden Bedingungen arbeiten lassen, zahlen einen Zusatzbetrag in die Krankenversicherung ein. Stattdessen fordert die Industrie eine Deckelung des Arbeitgeberbeitrags zur Krankenversicherung, und alle haben Verständnis, weil es ja um den "Standort Deutschland" geht. Da könnten wir auch ganz anders. Der Streik wurde in der Öffentlichkeit zwar mit gewissen Sympathien begleitet, es mangelte aber auch nicht an den üblichen Hinweisen auf eine vermeintliche Kostenexplosion im Gesundheitssektor, angesichts derer die Forderungen der Streikenden unverantwortlich seien und schließlich zu Entlassungen führen würden. Wie wurden diese Behauptungen von den Streikenden beantwortet? Gab es dazu eine einheitliche Position zwischen ver.di und Marburger Bund? Versuchte eine der beiden Gewerkschaften ihre Forderungen ggf. auch zu Lasten der anderen durchzusetzen? Arzt: Meiner Einschätzung nach hat der MB hier "ohne Rücksicht auf Verluste" gehandelt. Grundsätzlich sehe ich nur die Chance, solchen Versuchen des Ausspielens gegeneinander durch gemeinsames Vorgehen zu begegnen, aber die war ja mit dem Ausscheren des MB bereits vertan. Daher vermutlich der Versuch, nachträglich den anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen eine neue gemeinsame Organisierung unter dem Dach des MB vorzuschlagen. Außerdem haben die Gewerkschaften im Verlauf der Verhandlungen anscheinend versucht, durch die Übernahme von Forderungen der jeweils anderen Seite solche Vorwürfe zu entkräften. Dies gilt allerdings mehr für ver.di. Krankenpfleger: Zwar war in der veröffentlichten Meinung des öfteren von den ach so hohen Kosten des Gesundheitswesens die Rede, aber offensichtlich sind die Leute nicht mehr bereit, den Unsinn zu glauben. Im Gegenteil - diejenigen, mit denen wir während des Streiks ins Gespräch kamen, brachten eher Statements wie "Lasst euch von denen da oben nicht unterkriegen" und "Wird auch mal Zeit, dass sich jemand wehrt". Den Streikenden war eigentlich ziemlich schnell klar, dass das keine Auseinandersetzung um die berühmten 18 Minuten war, sondern eine Machtprobe: Möllring hatte über Wochen jegliche Verhandlung verweigert, und auch nach dem Einlenken einer Reihe von Ländern setzte die neoliberale Klitsche um Möllring ihren Konfrontationskurs noch vier Wochen lang fort. Insgesamt haben sich die Länder allein die Streiks an den Unikliniken mehr als 200 Millionen Euro kosten lassen - so handelt kein Arbeitgeber, dem es nur um Kostendämpfung geht. Bereits vor dem Streik hatte ja die Landesregierung entschieden, die Landeskrankenhäuser zu verkaufen. Auch hier: keine Maßnahme aus Kostengründen - die LKHs schrieben schwarze Zahlen -, sondern eine politische Entscheidung. Wie ist der allein auf die Interessen der Ärzteschaft ausgerichtete Streik des Marburger Bundes bei den ver.di-Streikenden aufgenommen worden? Wie war/ist während und nach dem Streik der beiden Gewerkschaften das Verhältnis zu den bei ver.di organisierten Ärzten? Krankenpfleger: Der Marburger Bund hatte sich schon mit dem Ausscheren aus dem Tarifbund mit ver.di keine Freunde gemacht. Man lasse sich das durch den Kopf gehen: eine Organisation, die jahrzehntelang den eigenen Arsch nicht hochgekriegt hat, sondern die auch in ihrem Interesse geführten Arbeitskämpfe immer anderen überlassen hat und erst zur Absegnung der Abschlüsse wieder zur Stelle war, findet plötzlich, sie sei zu kurz gekommen - mancher fühlt sich eben schon benachteiligt, wenn er nicht genügend bevorzugt wird - und kündigt ver.di die Solidarität auf. Als hätte in der Vergangenheit der MB ver.di mit durchgezogen und nicht umgekehrt. Den MB-Streik selbst empfanden viele von uns als 'Arbeitskampf light' mit zunehmendem Gelbton: bestes Einverständnis zwischen streikenden Ärzten und Arbeitgebern, sprich: den vorgesetzten Chefärzten, die nicht selten ihre Untergebenen zur Streikbeteiligung ermutigten. Was allerdings auch nicht verwundert, denn von den ganzen Forderungen des MB vor dem Streik waren nur noch die 30 Prozent mehr Kohle übergeblieben - kein Wort mehr von den unbezahlten Überstunden der Assistenzärzte. Im Gegenteil: der Vorstand des MB dachte sogar laut darüber nach, eine 48-Stunden-Woche abzuschließen; so mancher Chefarzt dürfte sich da die Hände gerieben haben. Kulanterweise ließen die Chefärzte ihre Assistenten nun sogar ihre Überstunden abfeiern: der MB zahlt nämlich kein Streikgeld, und damit das Fußvolk nicht die Lust verliert, wurden die Streikaktionen kurzerhand zu Fortbildungen und Überstundenausgleich erklärt, also Arbeitskampf mit Lohnfortzahlung. Je mehr der MB vom Arbeitgeber gehätschelt wurde, umso mehr richtete sich die Stoßrichtung des MB-Streiks gegen ver.di: An solchen Tagen, an denen nur ver.di streikte, versuchte beispielsweise der MB, die ausgefallenen OPs nachzuholen - ohne Rücksicht darauf, dass das Pflegepersonal im OP nur mit Notbesetzung arbeitete. KollegInnen, die die Operateure darauf hinwiesen, bekamen Bemerkungen zurück, die weit unter der Gürtellinie waren. Als dann ver.di vor dem MB abgeschlossen hatte, wurde die Tonlage des MB noch aggressiver. Aus dieser Zeit stammt Montgomerys Statement über die "Kulissenschieber", die dauernde Selbstversicherung des MB, dass Ärzte die einzigen Leistungsträger im Krankenhaus seien, und die dümmlichsten MB-Transparente des gesamten Streiks: "ver.-di, wir wissen, wo Dein Auto steht". In dieser Zeit ging es nicht mehr um Forderungen gegen die Arbeitgeber, sondern nur noch darum, sich von den restlichen Krankenhausbeschäftigten abzusetzen. Nachdem der MB weitere vier Wochen gestreikt hatte, ohne mit seinen Aktiönchen etwas zu erreichen außer deutlich übersteigerter Pressepräsenz, wurde dann der ach so ärztefeindliche ver.di-Abschluss mit unbedeutenden Modifikationen übernommen und als "historisch" deklariert, und alle sind zufrieden, weil jetzt Marburger Bund unter dem ver.di-Abschluss steht. Und unser Auto haben sie auch nicht gewaschen. Was das Verhältnis zu den ärztlichen Kollegen angeht, so hängt das von deren Verhalten ab. In meinem Bereich gibt es da keine streikbedingten Probleme, mit den MB-Kollegen war das Verhältnis vor, während und nach dem Streik kollegial. In anderen Bereichen dagegen raucht es; das liegt zum Teil am Verhalten einzelner MB-Leute während des Streiks, einige MBler sind durch den Streik wohl in die fünfziger Jahre oder weiter zurückversetzt worden. Insgesamt ist aber das Klima am Klinikum durchaus nicht schlecht. An anderen Kliniken scheint aber ein kalter Bürgerkrieg geführt zu werden, und was ich so über das Verhalten der Ärzte während des ver.di-Streiks an der Berliner Charité höre, lässt mir das Messer in der Hosentasche aufklappen... Die Auswirkungen des Tarifvertrages (den MB-Tarifvertrag sehe ich nicht wirklich als eigenständig an) - naja, es ist verdammt schwer, einer Krankenschwester, die seit zehn Jahren im Beruf ist, mit Drei-Schicht-System und Sechs-Tage-Woche, klarzumachen, dass der frisch ausstudierte Jungarzt, den sie bei einem Notfall lieber vor die Tür schickt, damit Platz zum Arbeiten ist, eine doppelt so hohe Grundvergütung kassiert wie sie. Und wenn sie gleichzeitig mehr "ärztliche Tätigkeiten" aufs Auge gedrückt bekommt, ohne dafür mehr Geld oder mehr Personal zu sehen, dann fördert das nicht gerade die Harmonie im Team. Eine Kollegin brachte es dieser Tage auf den Punkt: "Zwanzig Prozent mehr Geld und dafür zehn Prozent weniger arbeiten, davon träume ich auch manchmal." Wie haben die Ärzte ihre eigenständige gewerkschaftliche Interessenvertretung aufgenommen? Und wie war das Verhältnis zu den ver.di-KollegInnen? Arzt: Die erste Frage beantwortet sich von selbst anhand des Anstiegs der Mitgliederzahlen im MB auf ca. 110.000 (nach eigenen Angaben) von 146.511 KrankenhausärztInnen (nach Angaben der Bundesärztekammer für Ende 2005). Da die Anzahl an ver.di-ÄrztInnen in der Uniklinik extrem gering ist, gab es keine größeren Diskussionen über das gegenseitige Verhältnis. Die Bundesfachkommission der ver.di-ÄrztInnen verabschiedete im März eine Solidaritätserklärung mit einem Aufruf zur gemeinsamen Aktion. Persönlich habe ich mich bemüht, den MB-KollegInnen nicht im Weg zu stehen ... Mit diesem Streik wollte der Marburger Bund seine Entwicklung von einer Lobby-Organisation zu einer effektiven gewerkschaftlichen Interessenvertretung demonstrieren und hat dabei eine im Gesundheitssektor bislang unbekannte Militanz zur Schau gestellt. Ist dies eine positive Entwicklung, die auch ver.di unter Druck setzt, seine sozialpartnerschaftliche Linie zugunsten einer konsequenten Interessenvertretung aufzugeben? Arzt: Mein Eindruck ist bis heute, dass der MB bis kurz vor Abschluss des neuen TVÖD von Bund und Kommunen sich nicht einmal innerhalb ver.dis energisch für ärztespezifische Interesseneingesetzt hat und erst aufgrund massiven Drucks seiner Basis aus der Tarifgemeinschaft ausgestiegen ist. Ich denke daher, dass innerhalb ver.dis möglicherweise mehr drin gewesen wäre. Die Kampfbereitschaft des ärztlichen Personals z.B. am Göttinger Uni-Klinikum hatte sich ja bereits bei den selbstorganisierten Protesten der Vorjahre gegen die Arbeitsbedingungen gezeigt, so dass beide Organisationen (zumindest in Göttingen) durchaus davon wissen mussten. ver.di scheint sich daran allerdings kein Beispiel genommen zu haben, während der ver.-di-Aktionen kam es auch unter nicht-ärztlichem Personal häufiger zu Kritik an der zu defensiven Streikführung. Mein Lieblingssatz stammt ja aus dem "Dr. med. Mabuse - Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe": "Und wieso wollen die anderen Gesundheitsberufe eigentlich nicht auch 30 Prozent mehr Gehalt?" (Editorial in Nr. 158, Nov/Dez 2005). Meines Erachtens war es ein Fehler ver.dis, einen reinen Verteidigungskampf zu führen - und hier hat der MB gepunktet. Die Forderung nach verbesserter Arbeitszeit/Arbeitsbedingungen war ja eigentlich ein ganz wesentlicher Punkt bei den Forderungen der Ärzte - schon lange vor dem Streik und erst recht währenddessen. Der Abschluss scheint uns aber diesbezüglich keine Verbesserungen zu bringen: Stimmt das? Wie wird das bei den Ärzten aufgenommen?Gibt es Kritik am Marburger Bund? Arzt: Bedauerlicherweise sind die Arbeitsbedingungen bei den MB-Aktionen völlig in den Hintergrund getreten, und für mich ähnelt das Ergebnis sehr dem schon immer vorherrschenden Trend der ärztlichen Verhandlungen, zugunsten von Gehaltszahlungen die Arbeits- und Lebensbedingungen dranzugeben - nur dass viele heutzutage nicht mehr damit rechnen können, nach einer zeitlich befristeten Krankenhaus-gebundenen Facharzt- Weiterbildung das gute Leben als Niedergelassene in eigener Praxis führen zu können. Es gibt wohl Kritik innerhalb des MB, aber allzu laut ist die meines Wissens bisher nicht geworden. Aus meiner Sicht gibt es zwei Hauptergebnisse mit Bezug auf die Arbeitsbedingungen, alles weitere ist eine Frage der konkreten Ausgestaltung wegen zahlreicher Sonderregelungsmöglichkeiten: Arbeitszeitverlängerung bis auf 42 Stunden und eine bessere Bezahlung der Bereitschaftsdienste. Gibt es seitens des Pflegepersonals Befürchtungen, dass der gesonderte Abschluss mit dem Marburger Bund künftig als Rechtfertigung für verstärkte Personal-Einsparungen im Pflege-Bereich ausgenutzt wird? Krankenpfleger: Das läuft nicht erst seit dem Abschluss des MB so. Ein Beispiel: nach dem EU-Urteil, dass Bereitschaftsdienste als Arbeitszeit anzurechnen seien, mussten in den letzten zwei Jahren bundesweit mehr als 4.000 neue Arztstellen geschaffen werden; gleichzeitig wurden 16.000 Stellen in der Pflege gestrichen. Bei anderen nichtärztlichen Beschäftigten dürfte es ähnlich aussehen - gerade der Arbeiterbereich ist bevorzugtes Opfer von Stellenabbau, Tarifflucht durch Outsourcing etc. Diesem Vorgehen der Arbeitgeber, einer Berufsgruppe das zu geben, was den anderen vorher abgenommen wurde, ließe sich natürlich begegnen, wenn alle Berufsgruppen an einem Strang zögen; bei dem vom MB derzeit demonstrativ propagierten Standesegoismus sehe ich allerdings tiefschwarz. Der sehr lange ver.di-Streik scheint einen starken Mobilisierungsschub bei den Beschäftigten bewirkt zu haben. Wie hat sich die Stimmung in den ersten Monaten danach entwickelt? Was sollte ver.di deiner Meinung nach tun, um diese KollegInnen dauerhaft zur organisierten Wahrnehmung ihrer Interessen zu motivieren? Krankenpfleger: Der Streik war in der Tat der große Sprung nach vorne, nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Die Streikenden haben endlich einmal ihre "Muskeln" gespürt, haben gemerkt, dass sie als Kollektiv dagegenhalten und gewinnen können. Die Stimmung ist dementsprechend - auch nachdem die ursprüngliche Euphorie vorbei ist - gut bis ausgezeichnet, und eigentlich können wir kaum abwarten, bis der Tarifvertrag wieder kündbar ist. Darüber hinaus haben der Arbeitskampf und das Ergebnis auch bei den noch nicht Organisierten Eindruck gemacht. Wenn ich einen Blick in meine Kristallkugel werfe, sehe ich 2008 noch viel mehr Leute marschieren als 2006. Was sich seit dem Streik im Klinikum vollzieht, ist der Übergang von der Service-Gewerkschaft zur Mitmach-Gewerkschaft. Der Streik war vor allem deswegen so mitreißend, weil sich Viele von selbst eingebracht haben. Beispielhaft seien hier unsere TrommlerInnen erwähnt und die KollegInnen, die das Bett nach Hannover geschoben haben. Es reicht eben nicht, nur die Beiträge zu zahlen und zu warten was passiert, sondern was bei dem Ganzen am Ende herauskommt, hängt wesentlich davon ab, was man hineinsteckt, und manchmal kann man sogar Unmögliches wahr machen - das ist wohl den meisten KollegInnen durch den Streik bewusst geworden. Insofern würde ich die Frage "Was kann ver.di machen..." abändern zu "Was kann der ver.di-Vorstand machen...", und da ist die Antwort einfach: Ende der Bescheidenheit, kämpferische Forderungen statt Nullrunden. Für die Ärzteschaft hat ver.di in der vergangenen Tarifrunde einen fast zwanzigprozentigen Lohnzuwachs erkämpft und gezeigt, dass auch im Gesundheitswesen mehr möglich ist als nur Umverteilung innerhalb der Klasse; in die nächste Tarifrunde sollten wir mit der Forderung nach einem zweistelligen Plus auch für den nichtärztlichen Bereich gehen. Zum anderen wäre in einem Bereich, in dem 38,5 Stunden pro Woche in der Regel immer noch eine Sechs-Tage-Woche bedeuten, eine deutliche Arbeitszeitverkürzung nötig - 35 Stunden sind machbar, weniger auch. Und eine Lehre aus diesem Streik sollte nicht nur ver.di, sondern jede Gewerkschaft beherzigen: Arbeitskampf macht attraktiv! Interview in Göttinger Betriebsexpress Nr. 180 vom 18.10.2006 .Herausgeber:
Göttinger Betriebsexpress e.V.
c/o Buchladen Rote Strasse;
Nikolaikirchhof 7, 37073 Göttingen |