Ziel: Abbau sozialer Standards

Die Verhältnisse auf so genannten Billigflaggen-Schiffen sind oft menschenunwürdig

Bremen. Hungernde Seeleute auf Rostpötten, die die Bezeichnung "Schiff" kaum noch verdienen; Seeleute, denen keine Heuer gezahlt wird, die ohne ausreichende sanitäre oder gesundheitliche Versorgung malochen müssen, deren Arbeitszeiten jeder Beschreibung spotten, die oft an Bord regelrecht gefangen gehalten werden, weil Landgang schwer geahndet wird - es gibt kaum einen Hafen, in dem solche Pötte in den vergangenen Jahrzehnten nicht schon aufgefallen sind. Die Öffentlichkeit erfährt von solchen Zuständen meist nur, wenn die betroffenen Besatzungen zum quasi letzten Mittel greifen, Transparente mit eindringlichen Hilferufen an die Bordwand hängen und die "Internationale Transportarbeiter-Föderation" (ITF) um Unterstützung bitten.

Die Rede ist von so genannten Billigflaggen-Schiffen - Frachtern, die unter den Flaggen Panamas, Zyperns, Maltas, Liberias oder der Bahamas (um nur einige zu nennen) fahren, obwohl sie Reedern gehören, die in den EU-Staaten, den USA oder anderen Wirtschaftsgroßmächten residieren. Die beschriebenen Zustände mögen krasse Fälle sein, sind aber keine Einzelfälle: Die Ausstellung auf der im Europahafen liegenden "Global Mariner" liefert dazu beeindruckende Beispiele. Auch deutsche Reeder machen nach Angaben der Gewerkschaft ÖTV, hierzulande Mitglied und "Arm" der ITF, vom Ausflaggen zunehmend Gebrauch. Während in den großen Schiffahrtsnationen sowohl für Ausbildung, Bezahlung und Arbeitsbedingungen von Seeleuten als auch für die Sicherheitsstandards der Schiffe immer weiter reichende - und für die Reeder teurere - Bestimmungen entwickelt worden sind, können die Schiffseigner durch Ausflaggen fast alle Vorschriften umgehen und so beträchtliche Kosten einsparen.

Der Trick ist ebenso einfach wie folgenschwer: Das Schiff hisst das Tuch eines der Billigflaggen-Staaten, und der erhebt im Vergleich zu den großen Schifffahrtsnationen nicht nur spottbillige Registrierungsgebühren und Abgaben, sondern verzichtet auch weitgehend auf Tarife und Sicherheitsnormen. In vielen Fällen verkauft der betreffende Staat die Registerrechte sogar an private Unternehmen in anderen Ländern; so wird etwa die Liberia-Flagge von einer US-Registergesellschaft verwaltet.

Mit dem Flaggenwechsel hat der Reeder zum einen die Möglichkeit, Seeleute, oft auch ungelernte Arbeitskräfte, aus beliebigen Ländern zu ebenso beliebigen Löhnen anzuheuern und sie ohne jede Fürsorge und soziale Sicherung beliebig lange arbeiten zu lassen. Technische Kontrollen finden ebenfalls nicht statt, die Schiffe werden zu einem oft menschenunwürdigen Arbeitsplatz und obendrein zu einem Sicherheitsrisiko für Meeresumwelt, Küsten und Häfen. Laut ÖTV liefen 1997 rund 21 Prozent der Welthandelsflotte unter Billigflagge - aber bei Sicherheitskontrollen zeigte sich, dass 59 Prozent der beanstandeten Schiffe Billigflaggen am Heck trugen. Die aktuellsten hierzulande bekannten Beispiele für derart marode Pötte tragen - beziehungsweise trugen - die Namen "Pallas" und "Erika".

Seit es Billigflaggen gibt, versucht die ITF, dem Trend zur Ausflaggung entgegenzuarbeiten. Nicht nur in drastischen Einzelfällen, wenn die Besatzungen selbst aus purer Not oder Überlebensangst aktiv werden, auch in internationalen und teils weltweiten Aktionswochen werden Billigflaggen-Schiffe in den Häfen bestreikt, ebenfalls ITF-organisierte Hafenarbeiter verweigern Laden und Löschen. Die Föderation verhandelt derweil mit den Reedern über Abschluss eines ITF-Tarifvertrages, der - neben angemessenen Arbeitsbedingungen - vor allem eine Mindestheuer von derzeit 1204 US-Dollar garantiert. Für die meisten betroffenen Seeleute auf diesen Schiffen ist dies das Drei- oder Vierfache ihres bisherigen Lohnes, von dem sie oft fünf- und mehrköpfige Familien ernähren müssen. Weltweit arbeiten einzelne Reeder und vor allem dubiose Vermittler schon mit regelrechten "schwarzen Listen", um Seeleute, die bereits Kontakt zur ITF hatten, von Bord zu schaffen oder gar nicht erst anzuheuern.

Für ÖTV und ITF ist das "Konzept Billigflaggen" längst kein Ausnahmesystem mehr, "keine Ausgeburt besonders raffgieriger Reeder". Zum einen droht die Ausflaggerei vor allem in der Großschifffahrt mehr und mehr "salonfähig", ja, fast schon Standard zu werden; auch Reedereikonzerne, die diese Politik lange nicht mitgemacht haben, sind unter dem Druck der internationalen Konkurrenz umgeschwenkt. In Deutschland etwa hatte Hapag-Lloyd seine Schiffe noch bis 1995 fast ausschließlich im deutschen Erstregister fahren lassen, bevor es den Kurs wechselte: Alle bisherigen Versuche Bonns (heute: Berlins), die Ausflaggerei mit Hilfe von Zweitregister oder neuen Besteuerungskonzepten zu stoppen, haben sich laut ÖTV nicht nur als Rohrkrepierer erwiesen, sondern im Gegenteil den Wechsel zu Billigflaggen noch verstärkt.

Zum anderen aber, so die Gewerkschaften, "drängt die Logik des freien Wettbewerbs" förmlich dazu, das "Konzept Billigflaggen" in ähnlicher Weise auf andere Branchen zu übertragen. ÖTV und ITF führen hier vor allem die Hafenwirtschaft als Beispiel an. Dort und in anderen Verkehrsbereichen (man denke nur an die häufig kritisierten Arbeitszeiten und Löhne vieler Lkw-Fahrer) sei die Deregulierung auf dem Vormarsch: "Stets ist der Abbau bereits errungener sozialer Standards das Ziel."

Burkhard Ilschner


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