letzte Änderung am 15. März 2004 | |
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Wer sich über Call Center-Arbeit informieren möchte und dabei auf den immer gleichen Optimismus und Verkaufswillen der Branche verzichten will, dem sei »hotlines« als Lektüre ans Herz gelegt. Auch wer sich Call Center Agents nur als von einem Horrorfilm aus Kontrolle, Prekarität und Stress gebrochene Gestalten vorstellen, aber noch staunen kann, sollte dieses Buch lesen.
Die Gruppe kolinko [1] untersuchte von Sommer 1999 bis Sommer 2002 die Klassenverhältnisse in bzw. am Beispiel von Call Centern, indem sie Material zu und Berichte aus Call Centern sammelte und auswertete, Call Center Agents [2] interviewte und indem Gruppenmitglieder in insgesamt über zehn Call Centern arbeiten gingen – und das jeweils in bzw. aus verschiedenen Staaten. »hotlines – Call Center | Untersuchung | Kommunismus« [3] berichtet über Zielsetzung, Verlauf und Ergebnis dieser Untersuchung.
Kernstücke des Buches sind: a) Ein kurzer Überblick über Entstehung, Bedeutung und Entwicklung von Call Centern von den anfänglichen Boomjahren bis zur Krise, b) ein ausführliches Kapitel zur Arbeit in Call Centern sowie c) ein ebenso ausführliches Kapitel zu Auseinandersetzungen in Call Centern: Konfliktpunkten, Kampfmitteln und Organisationsformen. Diese Ergebnisse sind eingerahmt von der Darstellung der Herangehensweise und Zielsetzung der Untersuchung sowie einem Vorschlag zum weiteren Vorgehen, der sich an den Teil der institutionsfernen ›radikalen Linken‹ wendet, für deren Gesellschaftsanalyse Klassenverhältnisse ein zentraler Bezugspunkt sind und dessen politische Praxis der revolutionären Abschaffung derselben dienen soll. Im Anhang finden sich drei Fragebögen (der bei der Untersuchung angewandte, und zwei weitere zur Diskussi-on/Agitation bzw. zu Kämpfen in Betrieben), eine Call Center-Liste, sowie ein Glossar und Literatur- und Link-Verzeichnis.
In allen Teilen des Buches finden sich ebenso zahlreiche wie ausführliche
Beispiele und belegende Zitate aus Flugblättern, Artikeln und von Webseiten;
zu großen Teilen graue Literatur, die sonst weitgehend unzugänglich
(und unübersetzt) bliebe. Leider sind die Quellenangaben nicht immer sehr
genau, und es fehlt ein umfassender Anhang zitierter Literatur. Neben solchen
Zitaten aus Schriftstücken finden sich ebenso viele als Beispiele dienende
Interviewauszüge, von denen viele auf Selbstinterviews der Gruppenmitglieder
zurückgehen (vgl. S. 16) [4]. Dadurch entsteht zwar
ein lebendiger Eindruck, zugleich ist der Anteil der Zitate aber so hoch, dass
die Ergebnisse der Untersuchung teilweise wenig verallgemeinert, sondern eben
als Auswahl von Interviewausschnitten präsentiert werden. Das könnte
eine Befreiung der LeserInnen von der Bevormundung durch die AutorInnen sein,
dazu müsste aber auch unterscheidbar sein, durch wessen Brille man mit
dem jeweiligen Interviewausschnitt sieht. Da die Interviewten aber nicht charakterisiert
werden [5] und die Selbstinterviews nicht als solche gekennzeichnet
sind, ist es der Leserin unmöglich festzustel-len, welche Interviewaussagen
als ›unabhängige‹ Belege der Darstellung gelten können
bzw. ob in der Auswahl systematische Verzerrungen liegen und wenn ja welche.
Die Aufhebung der Arbeitsteilung zwischen Forschenden und Beforschten bietet
jedoch auch Erkenntnismöglichkeiten, die durch die Stellung der Forschenden
in der betrieblichen Arbeitsteilung gegeben sind: Dadurch, dass die Gruppenmitglieder
teils jahrelang selbst in Call Centern gearbeitet haben, haben sie einen besonderen
Zugang zu Arbeitsbedingungen und Produzentenwissen. Deshalb sind die Teile des
Buchs besonders aussagekräftig, in denen es um den Vollzug der konkret
nützlichen Arbeit durch Call Center Agents und die subjektive Verarbeitung
dieser Situation geht:
»Outbound: Terminvereinbarung Rentenfondverkauf [...]
Ich rufe also den
ersten an: Rainer. Die so heißen, sind meist berufstätig, 35 und
recht nett. [...] Ausländische Namen werden grundsätzlich übersprungen.
Die Gefahr ist zu groß, dass wir uns nicht verstehen, und das kostet nur
Zeit. Alle Adolfs und Alberts und Heinze oder Ottilie werden auch links liegen
gelassen. Daniels und Sarahs sind meistens faule Studenten, und WGs lohne sich
auch nicht. Rainer und Volker, Sabine und Claudia, an die muss man sich halten,
die kümmern sich um ihre Rente. Der erste ist an der Strippe, berufstätig
und vierzig. [...] Jetzt muss ich ihm Angst machen, mit der neuen Gesetzgebung,
[...]. Doch er ist Beamter.« (S. 62, Hervor. i.O.)
Dieser Blick ›von unten‹ ist freilich auch begrenzt: So kommt in ›hotlines‹ das Verhältnis zwischen Agents und (unmittelbaren) Vorgesetzten (den ›TeamleiterInnen‹ [6]) ausschließlich aus der Perspektive der Agents in den Blick. TeamleiterInnen werden so fast durchgängig als KontrolleurIn-nen der Agents beschrieben, die den von oben vorgegebenen Arbeitszwang gegen die Agents durchsetzen. An nur einer Stelle erscheinen sie als für das Ausbeutungsregime funktionale »Puffer« zwischen Agents und Management (S. 76); und nur einmal, in einem Zitat aus einem italienischen Flugblatt, wird erwähnt, dass auch TeamleiterInnen der Vertrag nicht verlängert wurde (S. 115). Sie kommen nie als potentiell Verbündete, als ebenfalls Ausgebeutete, oder gar als FreundIn vor. [7] In diesem Zusammenhang ist auch die Funktion des Managements verkürzt: »So entsteht eine Situation, wo einerseits viele ArbeiterInnen ständig mit ihren Teamleitern über Pausenzeiten, Schichtpläne und unzureichende Informationen streiten, während das Management ›drüber steht‹ und getrost weiter Geld zählen kann.« (S. 76) Hier wird das Management von Call Centern mit Couponschneidern verwechselt. Dabei ist, insbesondere in vielen Call Center-Agenturen [8], die Personaldecke so dünn, dass auch die Verwaltung und das Management unter einem relativ hohen Arbeitsdruck stehen.
So detailliert die Schilderung der konkret nützlichen Arbeit der Agents
auch ist, so einseitig ist ›hotlines‹ als Stellungnahme aus der
Perspektive von Agents. Dass TeamleiterInnen nicht nur als Spitzel und KundInnen
nicht nur als »richtige Säcke, die dich am Telefon vollschlammen
und de-nen du am liebsten eine verpassen würdest« (S. 104), sondern
auch als Teil der zu befreienden Klasse wahrgenommen werden, taucht im Fall
der TeamleiterInnen nur in einem Interviewauszug, im Fall der KundInnen als
moralisches Dilemma immerhin in einem eigenen, anderthalbseitigen Abschnitt
auf. Auf der anderen Seite fehlen auch Unterschiede und Widersprüche zwischen
den Agents selbst. So sind insbesondere die geschlechtliche Arbeitsteilung und
die unterschiedliche Betroffenheit bei sexistischer Anmache nur Randnotizen
des Buches.
Dennoch: Außerhalb der Konkurrenz sozialwissenschaftlicher Praxis schildert
das Buch ohne Wortgeklingel, gründlich und bodenständig die konkret
nützliche Arbeit der Agents und die Konflikte im Vollzug derselben, ohne
dem Neuigkeits- und Originalitätsdruck der Disziplin oder den Interessen
von Auftraggebern zu folgen. Das mag ein Grund dafür sein, dass Ausbeutung,
kapitalistischer Arbeitszwang und der Kampf dagegen im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses
und der Darstellung der Ergebnisse stehen können.
Das Kapitel »Arbeitsalltag« bietet eine Fülle von Beobachtungen über den beruflichen Hintergrund der Agents, die – gemessen an den niedrigen Löhnen, der vorgeblich niedrigen Qualifikation (s.u.) und der hohen Fluktuation in Call Centern – erstaunlich aufwändigen Personalauswahlverfahren und die Funktionsweise flacher Hierarchien... Es schildert einerseits das Scheitern des alltäglichen Kampfes von Agents, vernünftige Arbeit abzuliefern, d.h. trotz Hetze und schlechter Arbeitsorganisation einen Dienst am Kunden zu leisten, und andererseits Arbeits- und Stessvermeidungsstrategien derselben Agents. Das Kapitel enthält darüber hinaus eine Kritik an der Vorstellung, für Call Center-Jobs brauchte es in der Regel keine besondere Qualifikation. Dabei legt ›hotlines‹ den Punkt weniger darauf, dass durch die Auswahlverfahren gezielt Menschen mit ›informellen‹, d.h. unbezahlten Qualifikationen eingestellt werden, und auch nur solche es etwas länger im Call Center aushalten, als viel mehr auf den Umstand, dass die ArbeiterInnen selbst es sind, die sich die für den Job notwendigen Qualifikationen gegenseitig beibringen, weil die Schulungen die telefondienstleistungsspezifschen Punkte in der Regel kaum berühren oder oft einfach nur schlecht sind.
Der umfangreichste Teil des Kapitels ist eine Darstellung der Kooperation der
ArbeiterInnen in, mit und trotz einer technisierten Umgebung, und der angewandten
Maschinerie in Call Centern als schrittweiser Entwicklung der Standardisierung
von Arbeitsabläufen in Büros als ein Ergebnis des Kampfes der Kapitale
und ArbeiterInnen um die Kontrolle des Produktionsprozesses und des Kommandos
über die Arbeit. Dabei geht es in ›hotlines‹ darum zu zeigen,
dass und wie die Koope-ration der ArbeiterInnen auch über den Ausbeutungszusammenhang
hinausweisende Qualitäten hat:
»Wer zusammenarbeitet und dafür miteinander kommunizieren muss, kann
dies auch zur Grundlage für die Organisierung des eigenen Kampfes machen.
Ein Hauptanliegen der Vertreter des Kapitals ist daher, mit verschiedenen Mitteln
(Technologie, Hierarchie...) diese ausgedehnte Zusam-menarbeit auf der einen
Seite zu verschleiern, auf der anderen Seite den flüssigen Arbeitsprozess
nicht zu gefährden. [...] es finden sich auch immer Ideologen, die ihnen
dabei zur Hand gehen, nicht zuletzt eine (gewerkschaftliche) Linke, die stets
auf der Isolation am Arbeitsplatz rumreitet und die Totalität der technologischen
Überwachung betont, anstatt den Scheiß zu hinterfragen und den Zusammenhang
der ›modernen‹ Arbeitsplätze aufzuzeigen.« (S. 64)
Das Kapitel zu Auseinandersetzungen in den Arbeitsverhältnissen benennt unter »Konfliktpunkte« die üblichen ›Verdächtigen‹: (unsichere) Arbeitsverhältnisse, Auslagerungen, Arbeitszeiten, Intensivierung, Lohnhöhe, Überwachung und Kontrolle (Quantität und Qualität), Willkür, schlechte Ausbildung und Kundenverarsche (sic!). Von diesen Punkten stechen vor allem die Intensivierung sowie Überwachung und Kontrolle her-vor, weil die Tätigkeit im Call Center sehr viel genauer erfasst werden kann, als das von ›traditioneller‹ Büroarbeit bekannt ist, und damit auch eine für Büroarbeit ungeahnte Intensivierung einhergehen kann. Umso verdienstvoller, dass ›hotlines‹ mit den Interviewausschnitten kleine Hinweise auf Arbeitsverweigerung und Sabotage im Alltag einbringt.
Die anschließend dargestellten »Kampflinien« sind: Sabotage, Streik und Appelle. Die Streikbeispiele zeigen, dass auch in Call Centern gestreikt werden kann, zugleich aber auch die Grenzen dieser Auseinandersetzungsform: Zum einen ist es technisch ganz einfach, Anrufe vom bestreikten Call Center zu einem ohne Streik umzuleiten. In diesem Punkt ist das moderne high-tech Kapital tatsächlich so flexibel, wie uns das seine Apologeten immer weis machen wollen. Zum anderen fanden fast alle Streiks in Call Centern großer Konzerne statt. Für alle Beispiele stellt ›hotlines‹ fest, dass die beteiligten Gewerkschaften (und der Betriebsrat von Citibank Bochum) die Kämpfe kanalisierten und in erster Linie zur Durchsetzung der Anerkennung als Verhandlungspartner der Unternehmen nutzen. ›hotlines‹ stellt hier die Frage, ob die relativ neue Situation in den Call Centern und »das Fehlen des Rituals der gewerkschaftlich geführten ›Verteidigung der Bedingungen‹ gegen Angriffe des Kapitals Raum geben kann für ›unkontrollierte‹ Formen des Kampfes« (S. 117f.).
Der Abschnitt zu »Appellen« nimmt sich nach den Streikanalysen merkwürdig aus. Der Grund dafür, dieser »Kampfform« einen eigenen Abschnitt zu widmen, liegt darin, dass nur einer der aufgeführten Streiks in Deutschland stattfand (Citibank Bochum 1998), während andere Auseinanderset-zungen, die im Untersuchungszeitraum in der BRD stattfanden, oft die Form von Appellen annahmen. [9]
Der Abschnitt über Organisierungsformen behandelt »Gewerkschaften/Betriebsräte«, »Basisgewerkschaften«, »Unterstützungsinitiativen« und »Selbstorganisierung«. Hier kommt die politische Orientierung von ›hotlines‹ ›naturgemäß‹ am deutlichsten zum tragen: Gewerkschaften/Betriebsräte haben kolinko zufolge keine eigene Macht, sondern nur die der von ihnen vertretenen ArbeiterInnen, wirken aber gleichzeitig der Entwicklung von Macht und Selbstbewusstsein durch die ArbeiterInnen entgegen und können ihre eigene Existenz als Verhandlungspartner der Kapitale nur erhalten, wenn sie die ArbeiterInnen kontrollieren und Verhandlungsergebnisse auch gegen diese durch-setzen können (S. 123). Auf diese Weise erfüllen sie eine konfliktregulierende Funktion, der auch »›linke‹ GewerkschafterInnen, die ›aufrecht‹ für die Sache der ArbeiterInnen einstehen« (S. 123) und Basisgewerkschaften nicht entkommen. Zwar werden die (italienischen) Basisgewerkschaften von kolinko ausführlicher und im Kontext der italienischen Arbeitsbeziehungen verständnisvoller gewürdigt. An dieser Stelle fällt aber auf, dass die Beispiele und Zitate ansonsten nicht in Ausführungen zu den Arbeitsbeziehungen in den jeweiligen Ländern eingebettet sind. Dadurch entsteht der Eindruck, die Situationen (lies: »Klassenverhältnisse«) in Call Centern aller Länder seien im Wesentlichen alle gleich.
Unter der Überschrift »Unterstützungsinitiativen« rekonstruiert
kolinko die Praxis der »Call Center Offensive« anhand eines Verlaufsprotokolls
eines Gesprächs zwischen beiden Gruppen (S. 129-133). [10]
Weil die »Call Center Offensive« Agents in deren Konflikten gegen
Geschäftsführun-gen unterstützte, ohne eigenen Positionen durchzusetzen,
fällt sie nicht unter das Stellvertretungsverdikt. Dafür problematisiert
›hotlines‹ inhaltliche Unschärfen und die in diesem Ansatz,
von au-ßen zu unterstützen, liegende Gefahr der Funktionalisierung
der ArbeiterInnen.
Nach alledem ist der Teil des Kapitels, der der Selbstorganisierung gewidmet
ist, erstaunlich zurückhaltend. Zwar setzt ›hotlines‹ diesen
Begriff hier deutlich gegen alle bislang dargestellten Vertretungs- und Unterstützungsansätze,
kann aber in der Darstellung nur auf ein Beispiel eines Selbstorganisierungsversuchs
verweisen, bei dem sich Agents eines Call Centers »außerhalb«
(in einer Kneipe) trafen, und dieser verlief letztlich im Sande. ›hotlines‹
resümiert, dass auch Selbstorganisierung aufgrund verschiedener Widersprüche
unter den ArbeiterInnen nicht per se zu »subver-siven«, »radikalen«
Ergebnissen führt (vgl. S. 134), sondern auch bei Protest und sozialpartnerschaftlichen
Verbesserungsversuchen stehen bleiben kann. ›hotlines‹ kommt daher
zu dem Schluss, dass es besser sei, wenn die »Entschlossenen« sich
zusammentäten, ohne auf andere Teile der Belegschaft zu warten und stellt
sich u.a. die Frage, »ob nicht eine Eskalation der Konflikte ›auf
Arbeit‹ mehr bringt, als eine organisierte Verlagerung der Diskussion
›nach draußen‹« (S. 136). Die magere empirische Basis
für die Diskussion von Selbstorganisierungen in Call Center-Arbeit versteht
›hotlines‹ als Ergebnis des Mangels an Kampferfahrungen in diesem
›Sektor‹.
»Selbstorganisierung« bekommt in ›hotlines‹ jedoch noch
eine weitere, weniger vertraute Bedeutung, womit wir beim zweiten Teil des Untertitels
wären:
›hotlines‹ steht deutlich in einer operaistischer Tradition, wie
sie in der Bundesrepublik vor allem durch wildcat [11]
bekannt wurde. In diesem Zweig des Operaismus sind die Betriebe (speziell die
Fabriken, aber auch Ämter, Schulen, Zwangsanstalten) die zentralen Orte
der Klassenkämpfe [12], für diese spielt die
›Arbeiteruntersuchung‹ oder auch ›militante Untersuchung‹
eine zentrale Rolle zum Verständnis der Klassenverhältnisse und als
ein Schritt zur Interventionsfähigkeit in diese.
Dieser Ansatz – historisch entstanden Anfang der 60er Jahre in Italien
– hat zwei interessante Aspekte: Erstens ist er emanzipatorisch, als und
insofern die ArbeiterInnen die subalterne Position der von Sozialwissenschaftlern
Beforschten verlassen und selbst (mit-) untersuchen (sollen). Zweitens ist er
insofern ›de/konstruktivistisch‹, als unterstellt wird, dass Erkenntnisse
über Klassenverhältnisse zu gewinnen sind, indem die Reaktionen auf
eine Intervention untersucht werden. Zielgruppe der so produzierten Erkenntnisse
sind neben dem industriesoziologischen Fachpublikum die ArbeiterInnen, neben
der Produktion von Erkenntnissen sollen auch Kontakte unter den ArbeiterInnen
entstehen. In dieser Tradition versteht kolinko ihre Untersuchung nicht nur
als einen Weg zu mehr Wissen, sondern auch als Selbstorganisierung. [13]
Konsequenterweise besteht der »Vorschlag [für] [d]ie nächsten
Schritte« (S. 141) im Schlusskapitel darin, »in und zu den Bereichen,
Betrieben, Schulen... weitere Kerne zu bilden, die Untersuchungen machen und
in Auseinandersetzungen eingreifen« (S. 141).
Zur Vernetzung der Ergebnisse schlägt ›hotlines‹ »regionale
proletarische Runden« und einen weltweiten Austausch vor. Konkretes Ziel
der dafür eingerichteten Website http://www.prolposition.net
soll der »Austausch über die Bedingungen in der Ausbeutung und die
Kampfmöglichkeiten anhand der Liste gemeinsamer Fragen« (S. 147)
sein.
Eigentümlich unklar bleibt in ›hotlines‹ die Bedeutung des
Kommunismus als Teil des Untertitels, ihres Untersuchungsprojektes und des Vorschlags
zur weiteren Untersuchung und Vernetzung. Einerseits findet sich in ›hotlines‹
eine stichwortartige Aufzählung theoretischer Bezugspunkte (hauptsächlich
Positionen antistalinistischer, westeuropäischer kommunistischer Strömungen
(der radikalen Linken); S. 5), die deutlich machen, in welcher politischen Tradition
›hotlines‹ steht. Andererseits taucht der Begriff – abgesehen
von schlagwortartigen Abgrenzungen von anderen politischen Positionen –
nur an einer Stelle völlig unbestimmt als Diskussionsgegenstand auf. [14]
Darüber hinaus gibt es drei Stellen, in denen der Begriff »kommunistische
Tendenzen« auftaucht [15], die an das Feuerbachkapitel
der »Deutschen Ideologie« von Marx und Engels erinnern. [16]
In allen vier Stellen stehen die fraglichen Begriffe im Zusammenhang mit in
Auseinandersetzungen oder Bestimmungen des Begriffs »Untersuchung«.
Beides ist offenbar nicht von einander zu trennen.
›Irgendwie‹ verweist der Begriff Kommunismus auf das Ganze der Gesellschaft
und kann deswegen aus ›hotlines‹ als dem Ergebnis einer Untersuchung
eines kleinen Ausschnitts eines Teils der Lohnarbeit nicht rekonstruiert werden
– auch nicht als Absicht seines AutorInnenkollektivs.
* Max Müller ist Mitglied der Berliner »Call Center Offensive«.
1) Aus der Selbstdarstellung: »wir sind kolinko: Der
Kapitalismus verwandelt unser Leben und das der meisten Menschen in einen Alltag
der Arbeit und des Mangels. Wir suchen die Macht, die den Kapitalismus überwindet
und eine neue Gesellschaft schafft. Diese Macht liegt in der Selbstorganisation
der ArbeiterInnen innerhalb der Ausbeutung. Unsere Aufgabe ist, an den Auseinandersetzungen
teilzunehmen und die kommunistische Bewegung, die darin liegt, zu unterstützen.«
(Hervorh. i.O., www.nadir.org/nadir/initiativ/kolinko/deut/d_kopre.htm).
2) »Call Center Agent« ist die Bezeichnung für
die unmittelbaren Produzenten in Call Centern, d.h. für die am Telefon
Arbeitenden. ›hotlines‹ enthält ein recht ausführliches
Glossar der Call Center-Fachsprache: »Agents: Bezeichnung für Call
Center-ArbeiterInnen. Call Center-Agent wird von den Bossen und Gewerkschaften
eingesetzt, um die Plackerei als Beruf darzustellen und mit formalen Qualifikationen
und Zeugnissen zu belohnen.« (S. 200). Freilich verstehen sich die Beschäftigten
in ihrer Mehrzahl nicht als ArbeiterInnen, sondern als KundenberaterInnen, SachbearbeiterInnen,
Angestellte... Im Englischen unterstellt »Agent« eine Handlungsfreiheit,
die gerade dieser Job nicht bietet. Im Deutschen klingt der Begriff erfreulich
fortschrittlich und nach High-Tech.
3) kolinko (2002): »hotlines – Call Center |
Untersuchung | Kommunismus«; 223 S.; inklusive CD-ROM mit komplettem Text
in Englisch und Deutsch, einer Kopie der »hotlines«-WebSite (www.motkraft.net/hotlines)
und ein paar weiteren Texten von kolinko; Oberhausen: September 2002; das Buch
kostet 9 Euro, hat aber keine ISBN, steht nicht im Verzeichnis lieferbarer Bücher
(VLB) und ist also »graue Literatur«: unter www.nadir.org/nadir/initiativ/kolinko/lebuk/
d_bukla2.htm findet sich eine Liste von Buchläden, die es vorrätig
haben. Alternativ kann man auch 11 Euro überweisen an: Rotes Antiquariat,
Konto-Nr.: 777 844 102, Postbank Berlin, BLZ: 100 100 10 und im Verwendungszweck
»hotlines« und die postalische Lieferadresse angeben. Das Buch steht
auch elektronisch gratis als bereit: www.nadir.org/nadir/
initiativ/ kolinko/ le-buk/d_lebuk.htm
4) Oft zitiert über die zur Untersuchung gehörende
Website: http://hotlines.motkraft.net/hotdeu/gg_hlidx.htm
5) Die Interviewauszüge sind nur mit dem Namen des Call
Centers, dem Ort und einer Jahresangabe, nicht aber mit Angaben zur Person (Alter,
Geschlecht, Position, Funktion, Betriebszugehörig-keit o. dgl.) versehen.
6) TeamleiterInnen (auch SupervisorInnen genannt) sind die
unmittelbaren Vorgesetzten der unmit-telbaren Produzenten in Call Centern. Die
Bezeichnung ist jedoch irreführend: Teams sind in Call Centern meist willkürlich
zusammengesetzte Gruppen von Agents, die keinen funktional abgegrenzten Aufgabenbereich
im Call Center haben (die Arbeit in Call Centern wird oft überwiegend parallel
verrichtet, es gibt wenig funktionale Zusammenhänge in der Arbeit der Agents).
7) Freilich bemerkt ›hotlines‹ modernen Führungsstil,
das Duzen und die legeren Umgangsweisen, die in vielen Call Centern üblich
sind. Auch der Umstand, dass viele TeamleiterInnen als Agents angefangen haben
und deswegen teils enge Beziehungen bestehen, wird bemerkt: nämlich als
Problem der TeamleiterInnen, ihre Autorität durchzusetzen (S. 76).
8) Call Center-Agenturen sind rechtlich und ökonomisch
eigenständige Call Center, die als Dienstleister an einem Markt für
Telekommunikationsdienstleistungen auftreten und für zahlende Auftraggeber
solche abwickeln.
9) So schrieben Agents von »AudioService« (Berlin)
einen Brief mit Forderungen an die »[l]iebe Geschäftsführung«
und wurden daraufhin gekündigt. Müller, Max: »Bei Anruf Kündigung?
Arbeitskampf im Berliner Call Center ›AudioService‹«; in:
express, Nr. 8/2000, S. 9. Müller, Max: »AudioService setzt sich
durch: Bei Anruf Kündigung! Dennoch ein Silberstreif am Horizont«;
in: express, Nr. 1/2001, S. 10
10) Dafür kann sich die »Call Center Offensive«,
deren Mitglied der Autor ist, nur bedanken, weil sie selbst eine Zusammenfassung
ihrer vergangenen Praxis bislang nicht fertig gebracht hat. Für einen unaufgearbeiteten
Eindruck siehe: www.callcenteroffensive.de
11) Wildcat ist ein seit Ende der 1970er Jahre in der BRD
existierender Zusammenhang mit einer Zeitschrift gleichen Namens. Siehe www.wildcat-www.de
12) Tatsächlich grenzt sich ›hotlines‹
explizit von der inzwischen populären, z.B. von Lazzarato und Negri vertretenen
Spielart des Operaismus ab, bei der Produktivität durch die Ausweitung
immaterieller Arbeit vor allem auf Kommunikation rekurriert und damit nicht
an speziellen Orten (Betrieben), sondern in der gesamten Gesellschaft produziert
wird (Fn. 20, S. 207).
13) »So verstehen wir unsere Untersuchung und Intervention
in Call Centern in den letzten drei Jahren: als revolutionäres Projekt,
das in einem bestimmten Bereich versucht, die Gesamtheit des kapitalistischen
Verhältnisses zu verstehen und zu kritisieren. Untersuchung ist einerseits
die Form, wie wir uns selbst organisieren: gemeinsame Diskussion, Arbeitengehen,
Interviews, theoretische Auseinandersetzung... Andererseits ist sie unser Verhältnis
zur Klassenrealität: Erfahrung der täglichen Ausbeutung, Versuche,
ihr zu entgehen, Intervention, gemeinsame Kämpfe...« (S. 10, Hervorh.
von MM)
»..., dass wir Untersuchung weder als gewerkschaftliche Ergänzung
zu den sonstigen politischen Aktivitäten vorschlagen, noch als Betriebsarbeit
..., sondern als eigenständige Methode ..., sich ... gegen die Klassengesellschaft
zu organisieren. Eine Methode, in der sich die Trennungen zwischen politischem
und ökonomischem Kampf und Aktivist und Proletarierin aufheben.«
(S. 24f.)
14) »Die Untersuchung wird da Teil des revolutionären
Prozesses, wo sie die Auseinandersetzungen über Kapitalismus, Klassenkampf
und Kommunismus innerhalb der Ausbeutung voranbringt und selbst Anfang der politischen
Selbstorganisierung wird!« (S. 151, Hervorh. i.O.)
15) »Eine revolutionäre Klassenbewegung kann
sich nur aus den materiellen Bedingungen der Ausgebeuteten, aus ihren Formen
der Kooperation und der Kämpfe selbst herausbilden. Dabei entwickeln diese,
ausgehend von ihren Bedingungen, unterschiedliche Kampfformen. Wir sind Teil
des Prozesses und versuchen, bei der revolutionären Umgestaltung dieser
Welt mitzumischen. Wir wollen eingreifen, wo es gilt, die kommunistischen Tendenzen
in den Kämpfen zu unterstützen, und verhindern, dass diese an den
Fallstricken der kapitalistischen Versprechen und Illusionen hän-gen bleiben.«(S.
5f.)
»Untersuchung bedeutet, den Zusammenhang zwischen der täglichen Kooperation
der ArbeiterInnen und ihren Kampfformen zu verstehen und die Tendenzen einer
neuen (kommunistischen) Gesellschaftlichkeit darin zu finden.« (S. 11)
»Wir sehen momentan keine Dynamik oder Bewegung in den Klassenauseinandersetzungen,
bei der wir ein konkretes und gemeinsames Untersuchungsprojekt vorschlagen könnten.
Aber hier geht es uns um eine Methode, die gegenwärtige Lage zu kapieren,
die kommunistischen Tendenzen zu erkennen und in den Kämpfen mitzumischen.«
(S. 141; Hervor. i.O.)
16) »Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand,
der hergestellt werden soll, ein Ideal, wo-nach die Wirklichkeit sich zu richten
haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen
Zustand aufhebt.« (Marx, Karl; Engels, Friedrich: »Feuerbach. Ge-gensatz
von materialistischer und idealistischer Anschauung«; in: MEW 3, S. 35)
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