Immer mehr Firmen entdecken, wozu ein Telefon alles taugt, und richten Hotlines für Backrezepte, Reklamationen oder Sex ein. Über Call Center und prekäre Arbeitsplätze berichtet Dennis Stute.
Das Telefon klingelt, und unvermittelt tun sich die Abgründe der Kleinfamilie auf. Was nach außen meist hinter der Fassade der Wohlanständigkeit verborgen bleibt und nur gelegentlich aus der Nachbarwohnung dringt, bekommt Sonja Fröhlich* jeden Tag ungefiltert mit. Zwar nimmt die Studentin lediglich Bestellungen und Beschwerden für einen Kosmetikversand entgegen, aber der Job als Telefonistin bringt wöchentlich nun einmal 300 Liveschaltungen in die Wohnungen der Republik mit sich: Da bestellt eine Kundin Schminke und verprügelt nebenbei ihren Nachwuchs; ein Gatte storniert schnaufend Bestellungen von Lotionen und Make-up, während im Hintergrund das Weinen einer Frau zu hören ist. "Ab 17 Uhr steigt der Anteil der Besoffenen", weiß Sonja Fröhlich mittlerweile.
Ob unverbindlicher Bestellnummernabspuler oder cholerischer Nerventester - vor der Firma sind alle Kunden gleich. Bei allen gilt: Am Telefon lächeln und sämtlichen Wünschen entgegenkommen. "Uns ist im Training gesagt worden, daß niemand länger als drei Minuten schreit. Das stimmt nicht", sagt Fröhlich. "Wir dürfen uns natürlich nicht streiten, sondern müssen uns jedem auf dem Bauch nähern." Ein gut gelaunter Anrufer liegt überdies im Interesse der Mitarbeiter, denn wenn es nicht gelingt, den Gesprächspartnern Zusatzprodukte im Wert von dreißig Prozent des Bestellwerts aufzuschwatzen, sinkt der Stundenlohn von 18 auf 15 Mark. Damit Fröhlich und ihre Kollegen nicht trödeln, gilt dies auch, wenn sie dazu länger als dreieinhalb bis vier Minuten benötigen.
Ein Beruf mit Zukunft. Gegenwärtig gibt es 70 000 unterschiedliche Service- Telefonnummern. Von den etwa 1 500 Call Centern in Deutschland ist die Hälfte in den letzten drei Jahren entstanden; die Aufwendungen für Telefonmarketing sind in zehn Jahren von 1,4 auf 4,4 Milliarden Mark gestiegen. Ein Ende des Booms ist nicht abzusehen: Von den 5 000 umsatzstärksten Unternehmen lockt erst ein Drittel mit freundlichen Telefonstimmen; weitere 20 Prozent haben vor, in der nächsten Zeit eigene Telefonabteilungen einzurichten oder einen externen Dienstleister zu beauftragen. Arbeiten derzeit 150 000 Menschen an der Strippe, sollen es nach Schätzung des Bildungsministeriums in zwei Jahren 262 000 sein. Die Einsatzgebiete sind vielfältig: Hotlines informieren Aktionäre über die Daimler-Chrysler-Fusion, sorgen für Triebabfuhr und geben Rat, wenn der Computer abstürzt oder man beim Videospiel das nächste Level nicht erreicht. Man kann berweisungen tätigen, Flüge buchen, Tips zur Fleckenbeseitigung bekommen, Lebensmittel bestellen oder bei Whiskas fragen, weshalb die Katze so seltsame Geräusche macht und sich umherwälzt.
Zukunftsweisend ist auch die Organisationsform der meisten Betriebe. Tarifverträge sind die Ausnahme. "Häufig wird ein enormer Kontrollaufwand betrieben, anstatt die Mitarbeiter zu motivieren", hat Siegfried Leitretter, Experte für Call Center bei der Hans-Böckler-Stiftung, beobachtet. Aufseher, im Betriebslatein "Supervisoren" genannt, kontrollieren über ihren Monitor und eine Abhöranlage, was der Angestellte gerade macht und sagt. "Bei uns werden regelmäßig Zielstrebigkeit, Freundlichkeit, Verständlichkeit und so weiter bewertet", sagt Sonja Fröhlich. Als sie die neue Vorschrift mißachtete, jedes Gespräch mit der Frage "Sind Sie zufrieden?" abzuschließen, wurde sie ein paar Tage später zurechtgewiesen - die Firma hatte Fragebögen an Kunden verschickt, in denen der Gesprächsverlauf detailliert nachvollzogen wurde. Fast überflüssig zu erwähnen, daß Lohnabzug droht, wenn weniger als 80 Prozent der Kunden ihr Kreuz bei "sehr zufrieden" machen.
Die Arbeitszeiten in der Branche orientieren sich an den Kundenströmen und fordern den Telefonisten ein Höchstmaß an Flexibilität ab. Teilzeitarbeit ist die Regel, da vier, maximal sechs Stunden Dauertelefonieren als Belastungsgrenze gelten. Zwar üben die Agenten meist sehr simple Tätigkeiten aus, doch finden sich in Zweigen wie der Softwarebranche oder dem Telefonbanking auch qualifizierte Arbeiten. Scheinselbständigkeit und andere prekäre Beschäftigungsverhältnisse machen nur etwa 20 Prozent aus, alle übrigen Mitarbeiter sind angestellt - allerdings nicht immer zu Bedingungen, die gängigen Vorstellungen entsprechen. "Wir unterschreiben jeden Tag einen Arbeitsvertrag", erzählt Sonja Fröhlich. Mit der Schicht endet das Beschäftigungsverhältnis.
Erfolgsabhängige Bezahlung ist üblich: Niedrige Stundenlöhne werden durch Prämien ergänzt. Einige Firmen verzichten ganz auf den Grundlohn und entlassen Mitarbeiter, die einen schlechten Tag hatten, ohne jeden Verdienst in den Feierabend. Der Zeitschrift Computer-Fachwissen für Personal- und Betriebsräte zufolge verstärkt diese Art der Entlohnung das Risiko, durch den größeren Druck von den berufstypischen "psychischen Störungen wie Nörgelsucht, Gereiztheit oder Depression" befallen zu werden. Wie der Akkord dient auch das Prämiensystem dazu, die Arbeitsintensität zu erhöhen. Anders als der klassische Stücklohn, der dem Arbeiter die Entscheidung überläßt, wie stark er sich verausgabt, wälzen die Prämien das Marktrisiko auf die Angestellten ab - sind die Geschäfte flau, wird Lohn gespart.
Ein weiterer Vorzug besteht im Disziplinierungspotential. "Als es hieß, daß wir sechzehn Gespräche pro Stunde führen müssen, haben wir gesagt: 'Dann wollen wir eine Umsatzbeteiligung'", erzählt Sonja Fröhlich. Eine Unternehmensvertreterin hörte sich das Anliegen an, und tatsächlich veränderte sich etwas: Die Zahl der Anrufe sank. "Heute war wieder so wenig zu tun, daß keiner auf die 16 Telefonate kam", sagt Fröhlich. Sie vermutet, daß der Kosmetikversand die Anrufe lieber in weniger aufmüpfige Call Center leitet, denn insgesamt arbeiten drei Telefonagenturen für die Firma.
Monika Lüllau, Geschäftsführerin der Agentur Phonepartner Berlin, hält nichts von Prämien. "Die führen leicht dazu, daß Drückermethoden angewandt werden", glaubt Lüllau. Da ihr Kleinbetrieb, dessen Hauptbetätigungsfeld der "Business-to-Business-Bereich" ist, erfolgsabhängig bezahlt wird, nützt es nichts, wenn sich die Angerufenen etwas aufdrängen lassen, von dem sie später nichts mehr wissen wollen. Mit 1 600 Mark brutto erhalten die 20 Festangestellten bei ihr eine vergleichsweise großzügige Bezahlung, und das Ambiente ist freundlicher als in anderen Call Centern. Statt in Großraumbüros arbeiten die Telefonistinnen in kleinen Gruppen. Den Angestellten gefällt es so gut, daß sie bleiben. "Wir haben hier eine Mitarbeiterfluktuation von sechs Prozent. Toi, toi, toi", sagt Lüllau und klopft sicherheitshalber auf den Holztisch, denn Loyalität ist selten in der Branche mit Fluktuationsraten von 20 bis 30 Prozent.
Weil es vergleichsweise einfach ist, einen neuen Telefonjob zu finden, kann ein winziger Anlaß genügen, den Arbeitsplatz zu wechseln. Martina Bräuer beispielsweise schmiß die Arbeit bei einem Meinungsforschungsinstitut, weil eine Supervisorin der Tänzerin einen früheren Dienstschluß verweigerte und bei der Gelegenheit mitteilte, daß sie ohnehin nicht allzu viel von Bräuer halte. Angesichts von zwölf Mark Stundenlohn und der Praxis des Managements, die scheinselbständigen Mitarbeiter beliebig zur Arbeit zu bestellen und wieder nach Hause zu schicken, machte sich Bräuer nicht die Mühe, sachlich zu bleiben: "Ich denke, daß Sie dick sind." Der Ausruf: "Ihre Frisur fand ich immer schon bescheuert!" war das letzte, was sie von ihrer Vorgesetzten hörte. Schließlich ist es nicht schlechter, Leute zu Finanzseminaren einzuladen als Umfragen über Elektrohaushaltsgroßgeräte zu machen. Neuer Job, neues Glück.
Die hohe Fluktuation der Mitarbeiter erschwert die gewerkschaftliche Organisierung, denn wer die Stelle wechseln kann, legt sich nicht wegen einer Betriebsratsgründung mit der Geschäftsführung an. Die Versuche der Gewerkschaften, Einfluß zu nehmen, sind bisher eher zaghaft. So sind die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) und die IG Medien in Brandenburg noch dabei herauszufinden, wo es überhaupt Call Center gibt. Die Ziele sind bescheiden. "Es geht darum, überhaupt eine Tariffähigkeit herzustellen", sagt Jürgen Richter, Berliner Bezirkssekretär der Postgewerkschaft, denn einen Arbeitgeberverband kennt die Branche nicht.
Trotz guten Willens sind die Arbeitnehmervertreter weit von einer Offensive entfernt. Hilflos sehen sie ihrer Verdrängung aus organisierten Betrieben zu. "Tarifvertraglich gebundene Unternehmen mit eigenen Telefonabteilungen beauftragen zum Teil externe Agenturen oder gliedern die Abteilung als Tochterunternehmen aus", faßt Christine Meier von der HBV das Dilemma zusammen. So beschloß der Axel-Springer-Verlag im letzten Jahr, Aboverwaltung und Anzeigenaufnahme seiner größten Zeitungen auszugliedern. Diese Methode, arbeitgeberfreundlichere Bedingungen zu schaffen, hatte schon der Heinrich-Bauer-Verlag vorgemacht. Was bleibt, ist die Hoffnung auf Einsicht. "Mit der Zuspitzung des Wettbewerbs könnte das Interesse an Tarifverträgen zunehmen. Denn daß die Konkurrenz über die Löhne läuft, liegt ja nicht im Interesse der Firmen", glaubt Experte Leitretter von der Hans-Böckler-Stiftung.
Dabei sind die Rahmenbedingungen einigen Servicefabrikanten noch lange nicht flexibel genug. "Die sagen sich, wir wollen keine Vorschriften und keine Betriebsräte, und gehen nach Holland oder Irland", sagt Harald Henn von der Unternehmensberatung Prisma. "In Irland steht ein Call Center in sechs Wochen. Da hat man hier noch nicht einmal alle Anträge zusammen." Der Berlinerin Heike Betten, die in Amsterdam Fotografie studiert und nur bruchstückhaft Holländisch spricht, kam die Existenz einer deutschen Marktforschungsfirma ebenso zupaß wie die räumliche Distanz zu den Leuten, deren Meinung zum Thema Freizeitparks sie erfragt: "Ich habe jetzt ein neues System. Ich gehe da 'rein und denke mir: 'Scheiß auf euch Wichser, ihr seid Hunderte von Kilometern weit weg!'" Auch im Ausland können die Unternehmen Opfer von Vorschriften werden. "Es gibt ein neues Gesetz gegen Scheinselbständigkeit", erzählt Betten. "Wir haben jetzt Arbeitsverträge bekommen und müssen mindestens zwölf Stunden in der Woche arbeiten."
Das Telefonmarketing ist so alt wie das Telefon. Schon um die Jahrhundertwende wurden Börsengeschäfte über Fernsprechapparate abgewickelt, doch blieb der Einsatz lange auf wenige Bereiche beschränkt. Noch in den Siebzigern war in einem Handbuch für Werbeleiter unter dem Stichwort nicht viel mehr zu finden als die Feststellung, es handle sich um eine "sittenwidrige Maßnahme". Die Sitten änderten sich mit der Erkenntnis, daß die Neukundengewinnung mindestens fünfmal teurer ist als Kundenbindung. Seit den Erfolgen von Pionieren wie der Bank 24 entdecken immer mehr Firmen die Bedeutung des Telefons als Instrument, um Servicebereitschaft zu demonstrieren und Kunden jenseits des Massenmarketings individuell anzusprechen.
Die Vorteile liegen auf der Hand. Der Informationsrückfluß senkt das Risiko, Marktentwicklungen zu verschlafen oder Produktfehler zu spät zu erkennen. Den Kunden - 42 Prozent wechseln zur Konkurrenz, wenn sie sich am Telefon schlecht beraten fühlen - wird das nervenzerrende Durchstellen erspart. Weil dadurch außerdem die qualifizierten und teuren Sachbearbeiter nicht bei der Arbeit unterbrochen werden, rechnet sich der Aufwand, zumal die Preise für die erforderliche Hardware beständig sinken. Je mehr der Service zur Waffe im Konkurrenzkampf wird, um so größer werden die Zugeständnisse der Firmen. So bietet ein Kleidungsversand eine lebenslange Garantie - wer glaubt, eine Jeans dürfe nach zehn Jahren nicht durchgescheuert sein, bekommt eine neue. Klagt man bei der Hotline der DeTeMedien über Abstürze der Telefonbuch-CD, liegt zwei Tage später die neueste Version im Briefkasten.
Mittlerweile gilt der Telefonservice vielen als Allheilmittel. Stornoquote hoch? Verkaufszahlen rückläufig? Schlechtes Service-Image? Das Credo "If in doubt, open a call centre" habe mittlerweile die Devise "If in doubt, form a committee" abgelöst, glaubt Tony Deans, Manager der schottischen Firma The Call Centre Service. Branchenkenner begegnen der Entwicklung mit Skepsis. "Es hat ein zwanghaftes Hinterherrennen eingesetzt, bei dem viele Eilentscheidungen getroffen werden", glaubt Harald Henn. Viele Unternehmen dürften in den nächsten Jahren vom Markt gefegt werden. Da eine Telefonanlage erst mit hundert Mitarbeitern ausgelastet ist, arbeiten kleinere Agenturen unwirtschaftlich. Es wird erwartet, daß sich nach der Jahrtausendwende Vorteile erst ab einer Betriebsgröße von 250 Angestellten einstellen. Kleinbetriebe wie die Phonepartner Berlin haben noch ein weiteres Problem. "Wenn ein Unternehmen Radiospots schalten will, kann ich den Auftrag natürlich nicht annehmen. Da kommen leicht 8 000 Anrufe am Tag", sagt Monika Lüllau.
Das Zauberwort "Arbeitsplätze" läßt die Bundesländer um die Gunst der Telefondienstleister buhlen. Der Wirtschaftssenator Wolfgang Branoner warb auf der Kongreßmesse Call Center World '99 unter anderem mit dem Argument für den Standort Berlin, daß dort "über 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr ohne besondere Genehmigung gearbeitet werden darf", und wies auf "Investitionszuschüsse, arbeitsmarktpolitische Programme und Qualifizierungsförderung" hin. Auch die ostdeutschen Länder und Nordrhein- Westfalen ködern die "Hi-Tech-Branche" (Branoner) mit Geldgeschenken. Unternehmer, die sich geschickt anstellen, streichen bis zu 50 000 Mark Steuergelder für jede geschaffene Stelle ein. Damit kann man weit kommen, denn für die Einrichtung einer Telefonagentur genügen etwa 15 000 Mark pro Arbeitsplatz und zwei Millionen Mark an zusätzlichen Startkosten.
Die Sinnlosigkeit der Förderung bestreitet selbst unter den Nutznießern niemand. "Das führt dazu, daß irgendwelche Leute Call Center auf der Grünen Wiese bauen. Die können zunächst die Konkurrenten unterbieten und gehen ein, wenn die Subventionen auslaufen. Denn man kann nicht plötzlich die Preise erhöhen", sagt der Geschäftsführer einer Nürnberger Agentur. "Daß die Konkurrenz zwischen den Ländern volkswirtschaftlich nicht nützlich ist, muß uns als Branchenvertreter ja nicht unbedingt stören", findet dagegen Holger Albers, Geschäftsführer des Deutschen Direktmarketingverbandes (DDV). Der DDV, nach den Worten Albers, Plattform für den Know-How-Transfer und das Lobbying stehe "mit der einen oder anderen Förderungsgesellschaft in Kontakt".
Martina Bräuer hat schließlich eingesehen, daß sie nicht fürs Telefonieren geschaffen ist. Die zweite Station ihrer Karriere als Telefonistin war eine Firma für Vermögensmanagement, bei der sie versuchte, Leute davon zu überzeugen, "daß MLP total wichtig für ihre Finanzen ist". Im nächsten Job pries sie Litfaßsäulen als Werbemittel für Gastronomiebetriebe an. Abwechslung versprach eine Agentur, von der sich einsame Herren zum Minutenpreis von 2,40 Mark betreuen lassen. Zu den angenehmeren Aufgaben gehörte die Sexline. Das Handwerk zu erlernen, ist nicht schwer: Die Daten - Haare: blond, Brüste: groß, Wäsche: schwarz, Alter: 18 - durchgeben, schon wird der Atem flach. Häufig genügt es, die Phantasien am anderen Ende paralinguistisch zu quittieren: "Aaah, oooh, mmmh." Dabei kann man, hat Bräuer festgestellt, "sogar Fleischsalat essen". Sonstige Anforderungen lassen sich ohne größeren schauspielerischen Aufwand erledigen - die Macht der Projektion ist unendlich. "Wenn die keuchen, weiß man schon, daß das Gespräch fast vorbei ist."
Die meiste Zeit führte sie jedoch keine "One-to-One"-Gespräche, sondern arbeitete als Operator der Partyline, einer Konferenzschaltung für Amüsierwillige. "Mir war gar nicht klar, wie viele total vereinsamte und kaputte Leute es gibt." Mit der Zeit lernte sie die Stammkunden besser kennen. Zum Beispiel den Fliesenleger aus Castrop-Rauxel, der ihr zwei Stunden lang erzählte, wie er sich sein Essen zubereitet, seit ihn seine Frau verlassen hat. Oder die Krankenschwester mit der erotischen Stimme. "Die kam aus einer Brutalo-Ehe und zog ihr Selbstvertrauen daraus, sich mit Typen zu treffen, die sie am Telefon kennengelernt hatte." Regelmäßig rief auch eine Frau aus Leipzig an, die nichts mit sich anzufangen wußte, wenn ihr Mann auf Montage war. "Bei vielen reduzierten sich die sozialen Kontakte völlig auf 0190er-Nummern. Die hatten sich aber gar nichts zu sagen, sondern quasselten stundenlang den allerletzten Dünnschiß: Was sie im Fernsehen gesehen haben, welchen Kuchen sie backen. Einige haben sich mit Telefonrechnungen von etlichen tausend Mark ruiniert." Nach drei Monaten war das Maß voll. "Das hat mein Gesellschaftsbild total zerstört. Ich habe dann aufgehört, weil ich es nicht mehr aushalten konnte." Mittlerweile arbeitet sie in einer Backstube. "Das ist besser bezahlt und einfach cooler."
* Die Namen der Telefonistinnen wurden von der Redaktion geändert.
aus: Jungle World Mittwoch, 17. März 1999