Im Jahr 2000 werden weltweit Hunderttausende von Arbeiterinnen und Arbeitern bei telefonischen Call-Centern angestellt sein. Diese Branche entwickelt eine neue Form von Fließbandarbeit, und die Gewerkschaften müssen auf der Hut sein. Raphael (24), gelernter Dolmetscher, verbringt seinen Arbeitstag am Telefon. Jeden Morgen ab 7 Uhr beantwortet er die Anfragen der Kunden des Express-Kurier-Dienstes, bei dem er seit drei Monaten angestellt ist. Die meisten Anrufer wissen nicht, daß er von Dublin aus telefoniert. Die Kunden in Paris, Brüssel, Bonn oder Amsterdam wählen die "grüne" Nummer und werden automatisch verbunden mit dem Call-Center, das in einer der ärmsten Gegenden der irischen Hauptstadt liegt.
Dank des Computers kann Raphael schnell die Abholung einer Sendung in Genf veranlassen, eine verloren gegangene Ladung in Bangkok wieder aufspüren, den Anrufer informieren, wie teuer eine Ladung von New York ist oder wie lange eine Zustellung nach Bujumbura braucht. Durchschnittlich telefoniert er ein bis zwei Minuten mit den KundInnen. Am Ende seines Arbeitstags wird er mit etwa 200 Anrufern gesprochen haben.
Raphaels Arbeit bedeutet Dauerstress und strenge Überwachung, bis hin zu Kontrollen seiner Telefongespräche und Beschimpfungen von ärgerlichen Kunden. Er gehört zu einer neuen Generation von Arbeitenden, deren Zahl sich vervielfacht "dank" technologischem Fortschritt und der fallenden Kosten für Telekommunikation. Die Arbeitsbedingungen dieser neuen Generation erinnern auffällig an die Fließbandarbeit der frühkapitalistischen Ära. Daher werden die Call-Center auch von manchen als Kommunikationsfabriken bezeichnet.
In den nächsten fünf Jahren soll ihre Anzahl erheblich steigen. Zwar siedeln sich in Irland immer mehr der europäischen Call-Center-Unternehmen an - und werfen auch ein Auge auf den US-amerikanischen Markt - aber bisher hat immer noch Großbritannien mit Abstand die Führungsrolle in dieser Branche inne.
Die International Federation of Commercial, Professional and Technical Employees (FIET) veröffentlichte einen Bericht (Teleworking and Trade Union Strategy, Genf 1997), nach dem sich mehr als die Hälfte aller 6000 europäischen Call-Center in Großbritannien befinden. Damit wird im Geburtsland der industriellen Revolution 38 Prozent des Weltmarkts in dieser Branche abgedeckt.
Paul Cresswell, Generaldirektor von SITEL UK sagt voraus, daß "in fünf Jahren in Großbritannien mehr Menschen für Call-Center arbeiten als in der gesamten Schwerindustrie zusammen - Bergbau, Eisen und Stahl, Autoindustrie". SITEL ist ein US-amerikanisches Unternehmen, das 40 Prozent der britischen Call-Center betreibt; eine Industrie, in der 160.000-200.000 Menschen arbeiten. Bis zum Jahr 2000 soll diese Zahl auf etwa eine Viertelmillion steigen.
Den Weg für die Call-Center hat der Finanzsektor (Banken und Versicherungen) gebahnt, andere Branchen folgten aber schnell diesem Beispiel. Reisen, Bekleidung, Möbel, Haushaltsausstattung, Garantiearbeiten, Hilfen für den Computergebrauch usw. sind Bereiche, wo immer mehr Unternehmen einen Gratis-Telefon-Service für die VerbraucherInnen anbieten; viele sind an 7 Tagen 24 Stunden erreichbar.
Bei den Call-Centern von L'oreal (Kosmetikprodukte) in Frankreich gehen täglich, einschließlich am Sonnabend, über 3500 Anrufe ein. Die 30 teleadvisors, deren Zahl sich demnächst verzehnfachen soll, fungieren als telefonische Long-distance-SchönheitsberaterInnen.
Wenn man bei einem Call-Center anruft, ist es sehr wahrscheinlich, daß eine Frau antwortet. In den meisten Centern arbeiten drei Viertel Frauen, die meisten sind unter 30. Da die Call-Center zumeist in Gegenden mit hoher Arbeitslosigkeit angesiedelt werden, erscheinen sie Tausenden von ArbeiterInnen wie die göttliche Fügung, zurück in den Arbeitsmarkt zu kommen. Der Anreiz für die Unternehmer liegt in den Niedriglöhnen sowie hoher Renditeerwartung bei geringem Kapitaleinsatz.
Die in Dublin ansässigen Call-Center der Express-Kurier-Giganten, wie Federal Express und UPS, bieten von hier Service für Kunden in Deutschland, der Schweiz, der Niederlande und Frankreich. Die "deutsche" Abteilung von UPS in Dublin beschäftigt nicht weniger als 150 TelefonistInnen für wesentlich niedrigere Löhne, als sie am Rhein zahlen müßten. Das erinnert an die USA, wo viele toll free calls in der Karibik bearbeitet werden.
In Großbritannien wurden viele Unternehmen durch die Call-Center in die Lage versetzt, Arbeiten auszulagern, weg von den teuren Gegenden in London und Südostengland. Telefonkunden aus London werden möglicherweise einen schottischen Akzent beim Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung erkennen, da etwa die britische Telecom ihre Call-Center in Glasgow angesiedelt hat. Barclaycall, der Home-Banking-Service der Barclay Bank, hat kürzlich die Eröffnung eines Call-Centers in Nordwestengland angekündigt, wo sie etwa 2000 Neueinstellungen planen.
Die Call-Center haben die Arbeitsbedingungen von Angestellten so stark verändert, daß die hochangesehene Londoner Wirtschaftsschule beschloß, sich die Materie genauer anzusehen. Sie kritisiert, daß diese "Industrialisierung" Bedingungen für die Angestellten schafft, die eher denen von ArbeiterInnen vergleichbar sind: Produktivitätsbonus, Wechselschichten rund um die Uhr, Überstunden usw.
TelefonistInnen bei einem Call-Center von UPS verdienen monatlich netto etwa 1200 Dollar (2050 Mark). Für jede Fremdsprache, die sie außer Englisch bzw. ihrer Muttersprache beherrschen, kann das Gehalt um 100 Dollar steigen. Weitere Zuwendungen können abhängen vom Umsatz oder von der Höflichkeit gegenüber den Kunden. Die Beurteilung, ob die Telefonistin dem Kunden gegenüber höflich genug ist, bleibt den Vorarbeitern überlassen, die täglich mehrmals in die Gespräche hineinhören.
Alles ist darauf angelegt, das Arbeitstempo zu erhöhen: Ankommende Gespräche müssen innerhalb von 15 Sekunden beantwortet, die Konversation soll so kurz wie möglich gehalten werden. Und um den Stress noch zu erhöhen, blinkt vor jeder Telefonistin eine Konsole, die sämtliche wartenden Anrufer anzeigt. "Die Möglichkeiten, Verhalten zu kontrollieren und den Output des Call-Centers zu messen, sind verblüffend einfach. Die Tyrannei der Fließbandarbeit ist nur ein Picknickausflug einer Sonntagsschule, verglichen mit der Kontrolle, die ein Management mittels Computertechnologie ausüben kann", sagt Sue Fernie von der London School of Economics.
Die Kommunikation am Fließband stellt die Gewerkschaften vor große Herausforderungen. In einigen Industriezweigen sind viele Jobs durch die Einführung der Call-Center bedroht, wie die neuseeländische Gewerkschaft der financial workers herausgefunden hat. Auf eine Anfrage der FIET schildern sie die Situation folgendermaßen: "Kunden werden ermutigt, nicht mehr zur Bank zu gehen, sondern statt dessen das Telefon zu nutzen. Ihre Anrufe gehen dann nicht zu ihrer Filiale. Viele Banken haben Filialen geschlossen und Stellen gestrichen."
FIET räumt jedoch ein, daß die zunehmende Nutzung von Call-Centern in anderen Sektoren auch neue Arbeitsplätze schafft. Arbeitsplätze, die Regionen wieder auf die Beine helfen können, die durch Massenarbeitslosigkeit in die Knie gezwungen wurden. Gewerkschaften müssen daher eine Strategie entwickeln, die beide Ziele enthält: bestehende Jobs, die bedroht sind, zu schützen und die ArbeiterInnen in den neuen Call- Centern zu organisieren.
Das ist keine unlösbare Aufgabe. Die Call-Center stellen die moderne Version der Massenproduktion dar, erfahrungsgemäß ein fruchtbarer Boden für Gewerkschaften. Die Center stellen oft Hunderte von VermittlerInnen ein, die in Großraumbüros arbeiten, die an die Fließbänder von früher erinnern.
Außerdem haben viele Unternehmen, die jetzt Call-Center gründen, bereits eine gewerkschaftlich gut organisierte Arbeiterschaft. Deren Tarifverträge könnten auch für die neu eingestellten Telefonvermittler Anwendung finden.
Die manchmal beklagenswerten Arbeitsbedingungen in Call-Centern sollte die Angestellten motivieren, in die Gewerkschaften einzutreten. Die ersten Berufskrankheiten tauchen auf. Die britische Filiale von FIET im Bankbereich, BIFU, lenkte die Aufmerksamkeit auf die durch stupide Arbeitsroutinen hervorgerufene Berufskrankheit RSI, die viele TelefonistInnen wegen ihrer permanenten Computerarbeit bedroht.
Außerdem hat die Gewerkschaft ein weiteres Problem entdeckt: Immer mehr TelefonistInnen in Call-Centern verlieren ihre Stimme. Am schlimmsten davon betroffen sind, laut Gewerkschaft, Teilzeitangestellte, "die bis zu fünf Stunden ohne Unterbrechung arbeiten müssen".
Allerdings werden den Gewerkschaften keine roten Teppiche entrollt. Barclaycall ist in seinem neuen Standort in England strikt gegen die Anwesenheit von Gewerkschaften. Und in Deutschland sind die Telebanking- Ableger von Citycorps und der Commerzbank ausdrücklich von den Tarifverträgen im Bankgewerbe ausgenommen. Einige Unternehmen setzen auf die hohe Fluktuation der Beschäftigten, bedingt durch den Arbeitsstress und die mangelnden Aufstiegsmöglichkeiten, um gewerkschaftliche Organisierung zu verhindern. Die Gewerkschaften haben sich noch nicht entschieden, diese Herausforderung anzunehmen und die seltene Gelegenheit zu nutzen, ArbeiterInnen in diesem neuen Sektor zu organisieren.
Luc Demaret/Pat Quinn/Samuel Grumiau
Quelle: ICFTU OnLine, September 1998; deutsche Erstveröffentlichung in express, Nr.2, 1999.
Kontakt und weitere Informationen: ICFTU Press, Brüssel, Fon (0032) 2- 2240212, www.icftu.org.
aus: SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.08 vom 15.04.1999, Seite 6