Chemie stimmt nicht mehr bei Bayer

Goodwill-Bonus weg – Leistung her – Lohn flexibel

Auch sonst eher brave Chemie’ler können kochen – wenn’s an den Übertarif geht und das auch noch hinter ihrem Rücken. Selbst KollegInnen von den "Durchschaubaren", einer Gruppe kritischer Betriebsräte und Beschäftigter bei Bayer Lever-kusen, waren überrascht, dass zu den Aktionstagen rund um den Erhalt des Übertarifs ca. 500 Beschäftigte kamen. Im Brunsbütteler Werk sollen es rund 60 gewesen sein, die Anfang November ihren Protest demonstrierten. Seit Anfang September hatten die "Durchschaubaren" die Gerüchte und Verhandlungen um die Zukunft der übertariflichen Zulage (ÜTZ) immer wieder thematisiert und u.a. rund 1.500 Unterschriften gegen die vermuteten Änderungen gesammelt.

Es ging um einen "Systemwechsel" bei den Berechnungs- und Verteilungsgrundlagen der übertariflichen Leistungen und um deren Kürzungen. Bayer hatte die gültige Betriebsvereinbarung zur übertariflichen Zahlung zum 31.12.1999 gekündigt. Mehr "Gerechtigkeit" hatte die Unternehmensleitung versprochen – und auch die Mehrheit des Betriebsrates glaubte wohl daran und hielt dicht, bis es nicht mehr ging. Gemeint waren damit einerseits die sog. "Leistungsgerechtigkeit", also eine stärkere Abhängigkeit der Bezahlung von der individuellen Leistung nach oben wie nach unten, und anderseits die Berücksichtigung des jeweiligen "operativen" Ergebnisses des Unternehmens, also letztlich "Marktgerechtigkeit" für das Unternehmen. Die bisherige übertarifliche Zulage, in die alle möglichen Bestandteile eingehen und die auch jetzt schon eine Leistungskomponente enthält, ist, wie der Name sagt, streng genommen nicht tarifvertraglich geregelt – im Unterschied zu vielen Metallbereichen, wo immerhin die Leistungszulagen tariflichen Charakter haben. Sie stellt eine mitbestimmungsrechtlich dubiose Mischung aus traditionellen, paternalistischen Belohnungs- und Bestrafungselementen, individuellen Besitzständen, Quasi-Tarifen aus einer nie konsequent durchgeführten Angleichung von Arbeiter- an Angestelltenlöhne u.ä. dar, die teils tariffähig, teils abgekoppelt von den Tarifverhandlungen waren. Diese explosive Mischung umfasst, je nach Entgeltgruppe, bislang bis zu 25 Prozent des Einkommens und über 15 Prozent im Durchschnitt aller Entgeltgruppen. Auf Dauer, d.h. nach Ablauf der Besitzstandsregelungen, sollen 8 Prozent des Tarifs nach dem neuen System als vollkommen flexibilisierter Übertarif vergeben werden. Das sind nach Berechnungen der "Durchschaubaren" bspw. für die Entgeltgruppe 10 rund 500 DM Haben oder Nicht-Haben. Der Systemwechsel soll im Einzelnen durch folgende Schritte herbeigeführt werden:

Am heutigen Volumen der übertariflichen Zahlung werde sich, so die einmütige "Quasi"-Lüge von Betriebsrat und Unternehmensleitung, "nichts" ändern – "außer dem Besitzstand Leistungssockel", der "um einige in der Gesamtheit weniger bedeutende variable Größen bereinigten Jahresprämie", dem "Besitzstand Firmensockel" und natürlich dem Budget für die VEK-T selbst. Wenn das nicht fast "nichts" ist!

Für die Beteiligung an dieser "Systemwende", die einmal mehr die These vom beidseitigen "Flexibilitätsgewinn" Lügen straft, wird den Beschäftigten der Einstieg ins große Geschäft offeriert: Von ihrem "persönlichen" Topf für die VEK-T dürfen sie nämlich 50 Prozent für den Erwerb von Bayer-Vorzugsaktien verwenden – damit dann in der Folge auch jedem klar ist, warum der Topf, aus dem er diese kaufen darf, mal so, mal so ausfällt, aber auf keinen Fall feste Lohnforderungen verkraftet. Das nennt man ein modernes Lohnsystem, in dem "Chancengerechtigkeit" und Gleichheit vor dem Markt herrscht und von dem die IG Chemie, der DGB – und nicht nur sie – behaupten, dass es alle Beschäftigten wollen und die Gewerkschaften sowieso.
Die Forderungen der KollegInnengruppe für eine durchschaubare Betriebsratsarbeit lauten demgegenüber:

Wir berichten weiter.

K.H.

Erschienen in: express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Nr. 11-12/1999