Bergarbeiter-Info Nr. 27 vom Dezember 1999

Kunst gehört auch uns !

Heinrich Zille, der anklagend spottende Zeichner der Berliner Hinterhöfe

Heinrich Zille wurde

  1. in Radeburg, Sachsen, geboren
  1. siedelte die Familie über nach Berlin, um dem Zugriff der Gläubiger zu entgehen. Der Vater, ein vielseitiger Handwerker, war vorher aus längerer Schuldhaft entlassen worden. In Berlin lernt er die ärmlichen Wohnverhältnisse kennen. Wie viele Zuwanderer lebten die Zilles in ärmlichen Verhältnissen. Ein unmöblierter Keller am Schlesischen Bahnhof war zunächst ihre Wohnung. Der junge Heinrich muß für den Lebensunterhalt der Familie Arbeiten aller Art übernehmen. Hier erlebt er auch früh die Welt, die er später so liebevoll spöttisch und anklagend darstellen sollte.

1872 beginnt Zille eine Lithographie-Lehre und arbeitet ab

  1. freischaffend. Sein sozialer Aufstieg vom lohnabhängigen Lithographen bis hin zum Professor und Mitglied der Akademie der Künste prägt seine Haltung. Nicht mehr dem Proletariat zugehörig, bleibt er auch in den "ehrwürdigen" Kreisen fremd. Diese Zwischenposition schärft seinen Blick in Zeichnung und Photographie für die sozial niederschmetternde Lage des proletarischen Berlin.

Obwohl später selbst Mitglied der Akademie, legt er sich mit der akademischen Kunstauffassung an, überwirft sich mit ihren Vertretern. Seine Kunst soll nicht dem Schönen dienen, oder erbauen, schon gar nicht für die Reichen da sein. In zahlreichen Blättern veröffentlicht, sollte seine Kunst gesellschaftlich wirken, Bewußtsein schaffen über die Klassengesellschaft.

Wie in Frankreich, so rückte auch in Deutschland zum Ende des 19. Jahrhunderts die ungeschminkte Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse und damit die soziale Not des Proletariats in den Blickpunkt von Kunst und Literatur.

Heinrich Zille schloß sich dieser Auffassung an, kannte er doch aus eigener Erfahrung sein elendes "Milljöh". Den Armen, den Unterernährten, in unmöglichen Verhältnissen Hausenden gehört sein Herz und seine Kunst.

Mit Humor, ja oft Galgenhumor rückt er die Not ins Bewußtsein. Warmherzigkeit, Ironie und verspottende Sozialkritik steckt in seinen Zeichnungen, die er nicht in der Werkstatt, sondern an den Schauplätzen selbst skizzierte.

Zeichnend und skizzierend war er altbekannter und gut gelittener Gast in Spelunken und Wirtschaften, und ihn ärgerte, wenn die Wohlhabenden sich anerkennend und bewundernd äußerten.

Heinrich Zilles Galgenhumor, so drastisch und trocken er auch auf den ersten Blick erscheinen mag, ist nicht ohne Tragik und Dämonie. Hinter seinen Zeichnungen ahnen wir oft den Abgrund. Wenn in einem stinkenden Hinterhof ein Junge, um seiner kleinen kranken Schwester zu helfen, ruft:

"Mutta, jieb doch die zwee Blumentöppe raus, Lieschen sitzt so jerne ins Jrüne!", wenn es unter dem Bilde einer in ein neues Quartier zuckelnden Trockenwohnerfamilie heißt: "Wir bleiben immer bloß solange wohnen, bis was Neues, Nasses frei ist", oder wenn Zille ein Kind, das nie einen Garten oder eine Landschaft mit Bäumen und Blüten sah, im Berliner Jargon fragen läßt: "Vata? Haben Brombeer'n Beene?" – dann folgt der Fröhlichkeit das Erschrecken auf dem Fuße. Eine schwindsüchtige todkranke Kleine, die sich der Mutter gegenüber rühmt: "Wenn ick will, kann ick Blut in den Schnee spucken..." – wer fühlte nicht die Bitterkeit und den Schmerz hinter dem lächelnd verzogenen Mund?

Mit Käthe Kollwitz und Hans Beluschek teilte Zille die Auffassung, sich der Elenden liebend und kämpferisch anzunehmen. Alle Anerkennung seiner Kunst brachte ihn davon nicht ab. Ihm war sein Ruhm unangenehm und suspekt, kam diese zweifelhafte Ehre doch von den Wohlhabenden. Die dargestellten Elenden jedoch liebten ihn. Galt doch sein künstlerisches Wirken mit Stift und Photoapparat den Entrechteten und Unterdrückten.

So wäre ihm sicher recht, daß wir unser Bergarbeiter-Info mit seinen Arbeiten illustrieren und ihn als einen der Unsrigen vorstellen.