LabourNet Germany Dies ist das LabourNet Archiv!!! Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Home Über uns Suchen Termine

 

Bergarbeiter-Info Nr. 30

Herausgegeben von: Bergarbeitertreffen


Bergbaugegner erzwingen Produktionsstop in Ensdorf

Bürgerproteste gegen den Kohleabbau auch in Recklinghausen und Walsum
Kommen diese DSK und RAG Verantwortlichen gerade recht?

Anfang Mai diesen Jahres wurden wir Bergleute mit einer sehr bedrohlichen Schlagzeile aus dem Saarland konfrontiert. Dort hatte eine Bürgerinitiative bzw. ein Einzelkläger dieser BI erreicht, dass per Gerichtsbeschluss ein sofortiger Förderstopp auf Ensdorf angeordnet wurde. Bevor im Eilverfahren die nächsthöhere Instanz dieses Urteil revidierte, wurden 2 Tage Kurzarbeit mit Förderausfällen von 4 Mio. DM pro Tag erforderlich. Zwar wurde das Urteil revidiert, doch darf der Abbau in den beiden umstrittenen Flözen vorerst nur noch 400 Meter betragen und muss über 7 Stunden während der Nacht die Förderung eingestellt werden. Ein endgültiges Urteil steht noch aus.

Um dies Ereignis richtig bewerten zu können, scheint es wichtig, dieses einzelne Gerichtsurteil in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen.

Schauen wir in die jüngere Vergangenheit zurück, so stellen wir fest, dass wir seit Jahren mit Negativschlagzeilen zum Thema Steinkohlebergbau leben.

In den neunziger Jahren waren vor allem die angeblich zu hohen "Subventionen" für die Steinkohle im Zentrum öffentlicher Kritik.

Es folgten Scheingefechte mit dem unehrlichen Argument der Umweltbelastung durch fossile Energieträger (Bisher wurde noch jede Tonne nicht mehr geförderter inländischer Kohle durch Importkohle ersetzt, also keinerlei Umweltbelastung abgebaut; Atomkraft mit Restmüll, dessen Strahlungswert nach bis zu 30 000 Jahren erst halbiert ist, wurde als umweltfreundliche Alternative gepriesen.)

Zur Zeit sind es die von europäischen Gesetzen ausgehenden "bösen Kräfte", die die deutsche Kohleförderung auf Null fahren wollen. Ihnen ist die BRD Regierung scheinbar schutzlos ausgeliefert! Will man der Darstellung in der Öffentlichkeit glauben, haben deutsche Politiker an deren Entstehung gar keinen Anteil.

Im Moment bekommt die national durch die Möllemann-FDP und Wirtschaftsliberale der CDU, SPD und der Grünen neu aufgewärmtem "Subventionsdebatte" flankierenden Feuerschutz durch Bürgerinitiativen in Steinkohlebergbauregionen. Diese unter größeren und kleineren Folgeschäden durch Bergsenkungen leidenden Bürgerinitiativen versucht man von Seiten der politischen Kohlegegner vor den eigenen Karren zu spannen, um den Steinkohlebergbau möglichst schnell vor die Wand zu fahren.

Dieser neue Debattenschwerpunkt nahm seinen Ausgang von Recklinghausen. Am 3.7.99 hatte sich dort auf dem gerade erneuerten Innenstadtmarktplatz die Erde mit deutlich sichtbaren massiven Folgeschäden bewegt ( bedingt durch einen Flözabbau von Blumenthal unter der Innenstadt.). Es folgte ein oftmals wohl unrühmliches Auftreten von DSK Gutachtern, die die Schäden taxierten. Bald wurde eine Bürgerinitiative gegen den Kohleabbau im Bereich der Recklinghauser Innenstadt gegründet. Darauf holten Recklinghäuser IGBCE Gewerkschafter zum Rundumverteidigungsangriff aus und riefen zum Boykott gegen Geschäfte in der Innenstadt auf. Dadurch eskalierte die Situation und verhärteten sich die Fronten von beiden Seiten, Bergbaubeschäftigten und Kohlegegnern. Ein gutes halbes Jahr schaukelte man sich gegenseitig hoch, ehe die Stimmung sich auch auf Grund der bevorstehenden Schließung von Blumenthal wieder etwas beruhigte. Erreicht war auf diese Weise auf jeden Fall wieder etwas mehr Anti-Bergbau-Stimmung. Vielleicht war ja auch die DSK für diese Hilfestellung zur widerspruchslosen Schließung von Blumenthal dankbar.

Mehrere Gründe führten in Recklinghausen wie auch in anderen betroffenen Gegenden zu dieser verfahrenen Situation. Zum einen zog eine überhastete Neuorientierung der Abbaupläne eine mangelhafte Recherche der übertägigen Folgen nach sich, zum anderen gab es aber auch eine mangelhafte Informationspolitik der betroffenen Bürger über mögliche Folgen des bevorstehenden Kohleabbaus durch die DSK. Erwähnt wurde schon ein teilweise unrühmliches Auftreten von Gutachtern der Bergschadensabteilung. Ob die Anonymisierung von Schadensersatzregelungen durch eine seit März 2001 weit entfernte zentrale, personell und finanziell abgespeckte Regulierungsstelle für Bergschäden Besserung bringen wird, ist zu bezweifeln. Auch wird, je weniger Menschen beruflich direkt und indirekt mit dem Bergbau verknüpft sind, die Akzeptanz für solch übertägigen Abbaufolgen immer geringer. Nicht hilfreich war schließlich der Befreiungsschlag der Bergleute, die zum Boykott der Innenstadtgeschäfte in Recklinghausen aufriefen; denn sie nahmen die auch berechtigten Sorgen und Anfragen der von Schäden Betroffenen nicht ernst genug.

Kaum hatte sich die Situation – unter anderem auch durch den Schließungsbeschluss (Zusammenlegungsbeschluss) von Blumenthal - in Recklinghausen beruhigt, erhitzten sich die Gemüter im Umkreis der Zeche Walsum in Duisburg. Die Vorstellung eines neuen Rahmenbetriebsplans der Zeche für die Jahre 2002-2019 in verschiedenen betroffenen Stadtparlamenten löste eine Welle der Empörung aus. Erwartete Bergsenkungen als Abbaufolgen in betroffenen Gebieten von 2,50 Meter bis max. 5,50 Meter ließen vor allem auch viele Eigenheimbesitzer dort schnell für FDP Argumente mit dem Haupttrompeter Möllemann hellhörig werden. Von dieser Seite wird bekanntlich ein sofortiger "Subventionsstop" für die Steinkohle gefordert. Sogar gestandene SPD Ratsherren wechselten die Fronten. Auch hier kam es zu erbitterten Auseinandersetzungen. Ein ähnlicher Boykottaufruf des Walsumer Betriebsratsvorsitzenden wie in Recklinghausen wurde nach den dortigen schlechten Erfahrungen schnell auf Druck des IGBCE Bezirks zurückgenommen. Auch hier beherrschte dieses Thema wochenlang die Leserbriefspalten in den Lokalzeitungen. Seit Ende des Jahres 2000 versucht nun die DSK, offiziell dieser Stimmung entgegenzusteuern. Informationsveranstaltungen wurden organisiert, eine kostenlose Telefonhotline sowie eine Internetadresse für Informationen wurden eingerichtet. Sogar eine kostenlose vierseitige Info-Zeitung wurde an alle Haushalte im betroffenen Gebiet verteilt. So versucht man gegenwärtig eine Schadensbegrenzung.

Auch auf Niederberg/Friedrich Heinrich, wo ebenso die Genehmigung eines neuen Rahmenbetriebsplans bevorsteht, fährt die DSK eine ähnliche Strategie. Hier ist eine vierteljährliche Erscheinungsweise der DSK- Zeitschrift "Durchblick" mit Verteilung an alle Haushalte angekündigt. Sogar 160 Mitarbeiter wurden laut Angaben der DSK ab Ende April speziell als Ansprechpartner für Homberger Bürger zur Bergschadensregulierung eingesetzt.

Diese Aktivitäten scheinen auch erforderlich, da auch auf den Bergwerken Lohberg/Lippe/AV/ und Ost neue Rahmenbetriebspläne anstehen und man ähnlichen Unruhen vorbeugen will.

Hauptauslöser für diese Emsigkeit der DSK waren aber sicher die sich überstürzenden Ereignisse auf dem Bergwerk Ensdorf im Saarland. Ähnliche Fehler sowohl von der Zechenführung als auch der Bergschadensabteilung wie in Recklinghausen wurden hier gemacht. Überall wurden die Bürgerproteste von den Kohlegegnern dankbar aufgenommen, geschürt und in die eigene Strategie eingebunden.

Da diese Proteste inzwischen gebündelt mit den weiter oben schon beschriebenen Propagandakampagnen der offenen politischen Gegner ( über die verdeckten kann nur spekuliert werden) einer inländischen Kohleförderung eine ungeheure Eigendynamik entwickelten, musste die DSK in die Offensive gehen, wollte sie nicht alle Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen. So werden dann auch wieder leichter die mächtigen öffentlichkeits-wirksamen Anstrengungen am Niederrhein verständlich.

Doch ein zwiespältiges Gefühl bleibt bei all dem: Kann es der DSK/RAG Führung nicht recht sein, den Gegenwind durch solche Proteste, aus Brüssel und von inländischen politischen Kräften zu spüren. So kann sie sich, die eigenen Hände in Unschuld waschend, nach und nach vom deutschen Steinkohlebergbau verabschieden. Stattdessen kann man sich voll auf das Geschäft mit den RAG Töchtern konzentrieren, versprechen diese doch Dividenden in den heute üblichen und erwarteten Höhen von 10-20%, da die Taschen der fast am Hungertuch nagenden besitzenden Kreise in unserer Gesellschaft wohl riesengroße Löcher haben und auf diese "Sozialhilfe" dringend angewiesen sind!

 

Auguste Victoria / Blumenthal

Von dieser Zeche erreichte uns dieser Leserbrief zum Thema Betriebsratswahl und Stellenabbau:

Seit dem 01.07.2001 sind wir nun ein gemeinsames Bergwerk, dem Verbund sei Dank!

Es ging schon mit den Betriebsratswahlen los. Noch vor dem offiziellen Verbund der beiden Schachtanlagen wollten uns zwei Betriebsratskörper zeigen, wie man vorbildlich einen gemeinsamen Betriebsrat bildet. Die Betriebsräte beider Schachtanlagen (AV/BL) traten geschlossen zurück, um eine Neuwahl vorzubereiten. So weit, so gut! In der folgenden Zeit stellten sich nun mehr als 150 Leute zur Wahl. Doch nachdem alle Kandidaten fotografiert, Kandidatenlisten gedruckt wurden und alle sich mit Werbung auf die Wahl vorbereiteten, erschien plötzlich eine zweite Liste. Diese Liste nannte sich Blumenthal / Altes Baufeld, wobei man anmerken muss, dass es sich bei den Kandidaten auf dieser Liste nur um Leute handelte, die kurz nach der Wahl aus Altersgründen oder HWI sowieso abkehren würden. Also stellt sich einem doch nun eine ganze Reihe Fragen: Wollte man damit nur seinen Posten retten (15 Posten AV / 14 BL) ? Hat man damit die Planstellen der Betriebsräte auf Lebenszeit erfunden? Ist so verhindert worden, dass ein Betriebsrat gewählt worden wäre, den die Belegschaft gewollt hätte ? Oder wollte man nur nicht, dass beim Verbund eine der Schachtanlagen mehr Betriebsräte im Betriebsratskörper gehabt hätte, da das Belegschaftsverhältnis AV/BL (Wählerschaft je Standort) nicht zugunsten von BL sprach ?

All diese Fragen werden wohl dann erst beantwortet, wenn kein Hahn mehr danach kräht, denn der Mensch (die Belegschaft) ist ein Gewohnheitstier. Denn selbst auf der letzten Belegschaftsversammlung vor der Wahl hat sich nur einer schon geoutet (ehemaliger BR-Vorsitzender BL), indem er erst nach mehrmaligen Nachfragen und ausweichenden Antworten sagte, er unterstütze Liste 1, da er zu diesem Zeitpunkt seinen späteren Arbeitsplatz schon kannte und dieser weder was mit AV noch mit BL zu tun hat.

Nun aber zu den anderen Themen wie z.B. Stellenabbau !

Der Stellenabbau im vergangenen Jahr lief ganz gut und die Sollzahlen wurden erreicht. Aber nun ein Blick hinter die Kulissen. Bei einer marktführenden Firma im Bereich Spezialkrane wurden einige Bergleute mit Kusshand genommen um kurze Zeit später Konkurs anzumelden (Anmerkung der Redaktion: Das lag sicher nicht an den Bergleuten!). Bei einer anderen Firma in der Kunststoffverarbeitung lief es ähnlich: ca. 20 Leute wurden genommen (sogar nach der HWI per Festanstellung), um ein halbes Jahr später 30 Leute zu entlassen. Da bleibt nur zu hoffen, dass so etwas nicht Schule macht und man sich gar nicht mehr traut, den Arbeitsplatz zu wechseln, denn Arbeitsplatzsorgen hatte jeder im Bergbau in den letzten Jahren mehr als genug.

 

AV/Blumenthal: "Schacht Echo"

Für Werksleiter Sablotny ist der Kumpel für Minderförderung schuld!
Wo bleibt seine eigene Verantwortung?

"Dat neue "Schacht Echo" is raus! Nimm`se mal mit, denke ich so im Rausgehn nache Schicht vor mich hin. Da schreiben ja beide, der Wekschef und auch den Babiel. Dat is nen seriöset Blatt. Als ich aber den Sablotny seine Ergüsse intus hatte, da war meine Einstellung verrutscht: Seriös? Ja, dat Blatt schon, aber nich jeder, der drin schreibt!"

Aber jetzt mal im Ernst! Daß wir erbärmliche Förderergebnisse haben, ist unbeschtritten, auch wenn die Zahlen in der Lichthalle oft nicht nachvollziehbar sind. Aber als Werkschef sich da hinzustellen, als hätte man nichts damit zu tun, und nur der Kumpel wäre das Schuld – den muß er mal so richtig absauen -, das geht doch wohl an der Wirklichkeit vorbei! Eigentlich soll ein Werksleiter ein Werk leiten! Aber vielleicht ist das in Wirklichkeit genau so irrig, als wenn man glaubt, ein Zitronenfalter faltet Zitronen.

Was ist nun eigentlich los auf AV/Blumanthal? Gleichgültigkeit und null Bock in der Belegschaft, wie Sablotny im "Schacht Echo" behauptet? Die Werksleitung hat die Misere geplant und hingestellt!

In Revier 04 wurde ein Hochleistungsstreb hingestellt und monatelang geplant in Teams. Die mahnenden Worte der Praktiker, daß man den Hauptantrieb mit der Konstellation der Schilde nicht rücken kann, wurde in der Planungsphase (!) ignoriert. Jetzt quälen sich die Rücker mit Ferromatikstempeln und beim rücken sieht der Hauptantrieb aus wie ein Igel. – Das motiviert! Die endlosen Bandstraßen wurden eingerichtet, aber Gurt mit zig Nähten mußte es auch tun. Bandrisse sind die Folge! Schuld der Kumpel?

Zwei Reviere, 01 und 05 gehen gleichzeitig ins Netzhemd! Die Herrichtung kommt nicht nach. – "Herrichtung machen wir auf AV nebenbei!" Na bitte, Herr Sablotny.

Der Anlauftermin für Revier 03 war nicht zu halten. Geplante Förderung fällt über Wochen aus. Kennt denn niemand die geologischen Verhältnisse? Abbaukanten alter Betriebe führen zu Konvergenzen. Auch der Kumpel schuld, daß der Streb in der Herrichtungsphase kaum zu halten war? Und die Probleme an den Antrieben des laufenden Betriebs: der vorauseilende Druck zerstört die Strecke, bevor der Streb da ist. Wie soll man da Rückmeter machen?!

All das wird in einer Situation beweint, wo die OE 2 durchgepeitscht wird, weil der Konzern es will. Nicht nur die besondere Situation, daß die Belegschaften von AV und Blumenthal zusammenwachsen müssen, sonder die zusätzliche Belastung, daß alle Mannschaften durch die OE 2 durcheinandergewirbelt und auseinandergerissen werden, ist Tod jeder Motivation und Kontinuität in der Arbeit. Hat in der besonderen Situation des Verbundes der Werksleiter Angst die OE 2 auszusetzen? Die OE 2 und auch die Umstellung auf SAP bindet vielmehr Leute, als daß sie unsere Arbeit vereinfacht. Seht Euch die Steigerstuben und Werkstätten an. Überall zig PC`s. Unter- und übertage.

Das sind nur einige Beispiele für das, womit der Kumpel sich rumschlagen muß, um Leistung zu bringen. Und das sind alles Führungsaufgaben. Wenn unter solchen Voraussetzungen die Kohlen nicht kommen, dann wird Wochenendförderung angesagt. Aber es sind immer die gleichen armen Schweine, die kommen müssen. Mehr Geld ist nicht. Und genau die gleichen armen Schweine müssen sich von Sablotny absauen lassen, daß sie die Kohlen nicht in der Woche rausgekriegt haben. War das Förderziel zu hoch und unerreichbar, wenn man die Planung sorgfältiger ansieht? Aber im "Schacht Echo" steht ja, daß für Herrn Sablotny die Kumpel schuld sind, weil sie zu früh am Schacht sind! Wer auf die gegeneinander arbeitende Bereichsleiterebene und Planungsfehler hinweist, ist nicht teamfähig. Ich glaube, es ist eher umgekehrt: Die Chefetage ist nicht teamfähig. Jeder will seinen Bereich sauber haben. Schuld ist der Andere. Es gibt keine eindeutige Kompetenz und Verantwortung. Und der Werksleiter thront über allem und merkt nichts. – Aber einer muß ja alles Schuld sein.

Also beschimpft er im "Schacht Echo" die Kumpel und lenkt vom Unvermögen der Werksleitung und seiner Verantwortung ab!

 

Arbeitsplatzabbau geht weiter!

RAG sichert sich Sonderprofite bis zum Jahr 2010

Viel Aufregung gab es in den letzten Monaten wiedereinmal um die Zukunft des Bergbaus. Die FDP mit Fallschirmspringer Möllemann an der Spitze wurde nicht müde, den Auslaufbergbau für 2005 zu verlangen, die CDU für 2010. Dann erklärte der Europäische Gerichtshof den Aufkauf der Saarbergwerke und des Bergwerks Ibbenbüren von der Preussag für 2 DM und damit die Fusion mit der RAG als nichtig. EU- Kommissionspräsident Prodi verlangte ebenfalls das Ende der Subventionen für 2005. Außerdem steht das Auslaufen des Montanunionvertrages – der die Subventionierung rechtlich abdeckt – im nächsten Jahr vor der Tür.

So waren denn auch Politiker wie NRW-Landeschef Clement und Bundeswirtschaftsminister Müller sowie IGBCE-Chef Schmodlt bemüht, die Szenarien des Auslaufbergbaus und der immer düsteren Wolken am Himmel mit drastischen Worten in der Öffentlichkeit zu zeichnen.

RAG-Chef Starzacher gab sich da schon gelassener und schob die Verantwortung den Politikern zu "Die Zeit arbeitet gegen uns." – "Wir sind nur Sachwalter, ausfallende Beihilfen können wir nicht substituieren (auffangen).Die Zukunft der deutschen Steinkohle kann nicht von uns bestimmt werden. Darüber befindet allein die Politik."

An den Kumpeln gehen diese Auseinandersetzungen weitgehend vorbei. Die Angst und die Unsicherheit, wie, wo und ob hier überhaupt noch zukünftig gearbeitet werden soll, beherrscht die Grundstimmung. Zu oft sind sie verarscht worden. Viele Erfolge, die sie in der Vergangenheit erkämpft haben, wurden häufig genug gegen sie gewendet. Bleibt letztendlich nur die Hoffnung - und das wird durch die Politiker- und Gewerkschafterreden ja auch immer wieder öffentlich bestärkt -, dass die Subventionen einen "sozialverträglichen Personalabbau ohne betriebsbedingte Kündigungen" weiterhin gewährleisten können. Aber selbst diese Hoffnung wird für viele Kumpel immer brüchiger, weil viele Firmen, zu denen sie gewechselt sind, inzwischen auch schon wieder dichtgemacht haben.

Starzacher dagegen kassiert den Sonderprofit aus Subventionen.

So kam dann auch der Zuwendungsbescheid für die öffentlichen Beihilfen vom Bundeswirtschaftsminister. Er sichert die bundesdeutschen Subventionen von 8,1 Mrd. DM in diesem Jahr bis 5,3 Mrd. DM im Jahre 2005 (von den Kumpeln im Kohlekompromiss 1997 hart erkämpft). EU-Kommissarin Palacio ignoriert den Gerichtsbeschluss und nimmt die Fusion der RAG so hin.

Und dann genehmigt die EU-Kommission Ende Juli Kohlesubventionen bis zum Jahr 2010.

Dieser Schritt muss zwar noch von der EU-Ministerrunde im Dezember abgesegnet werden, bringt aber für die RAG Erleichterung. Gewerkschaftschef Schmoldt erdreistete sich dann auch nicht, sofort zu behaupten, dass sei ein "erster Schritt zur Sicherung der heimischen Steinkohlenförderung." Das kann letztendlich nur ein Schritt mehr zum Gleitflug statt zum Sturzflug sein.

Denn über die Höhe der Subventionen machte die EU-Kommission überhaupt keine Angaben. Die Subventionen sollen ab 2007 nur noch für rentable Zechen (was dafür auch immer der Maßstab sein wird) und auf jeden Fall auf einem niedrigeren Niveau stattfinden. Über den besonders von Clement geforderten Sockel von 15% zu subventionierender heimischer Energie wird erst 2007 verhandelt. Sinn dieses Sockels ist, Steinkohlensubventionen der EU-Wettbewerbskontrolle zu entziehen. 2006 soll dann ein Bericht zur Lage des europäischen Kohlebergbaus erstellt werden, auf dessen Grundlage dann neu entschieden wird. Dabei will man besonders die Mitgliedschaft mittel- und osteuropäischer Staaten wie Polen und Tschechien mit bedeutenden Kohleproduktionen abwarten.

Als Reaktion auf den EU-Beschluss Erklärte RAG-Sprecher Schappei, dass dann im Zeitraum 2005 bis 2007 weitere ein bis zwei Zechen zu schließen wären und dann die Förderkapazität auf 20 bis 22 Mio to heruntergefahren werden müsste. Er sollte sich aber mit seinem Chef, Starzacher, besser abstimmen, weil dieser auf der Bilanzpressekonferenz behauptete, die kritische Linie liege bei 22 Mio to Jahresförderung. Im Jahre 2005 jedenfalls solle die Förderung bei 26 Mio to liegen, eine Reduzierung auf 22 Mio to hätte die weitere Vernichtung von rund 5 000 Arbeitsplätzen zur Folge.

Also weitere Vernichtung geplant – falls es bei der Planung bleibt – denn nur zur häufig haben wir erlebt, dass Zahlen wieder korrigiert wurden.

 

RAG / DSK korrigiert aktuelle Abbauzahlen der Belegschaft nach unten

Durch den rasanten Personalwechsel geht auch je Menge Wissen und Qualifikation der Arbeit und Angestellten flöten. An allen Ecken und Kanten hakt und fehlt es. IGBCE Stellvertreter Südhofer: "Der Verlust von Qualifikation und Erfahrung wird zunehmend spürbar." Und "Die erfahrenen Leute dürfen nicht zu früh von Bord gehen." Aber auch die IGBCE hat schon lange kein Konzept mehr, der Personalentwicklung der RAG / DSK etwas entgegenzusetzen. Diese steht in dem Widerspruch die Leute aus dem Unternehmen zu treiben, um ihre Abbauplanzahlen zu erfüllen und dennoch die Kohleförderung aufrechtzuerhalten. Und dazu benötigt man qualifizierte Leute, die aber auch schneller einen neuen Arbeitsplatz finden. So ließ dann auch der Druck zum Wechseln durch die Vorgesetzten in der letzten Zeit spürbar nach.

Waren im letzten Jahr von den geplanten 12 000 Beschäftigten nur 11 000 wirklich gegangen (worden), so korrigierte die DSK jetzt die Planzahl für dieses Jahr gleich um 2000 nach unten.

Von den geplanten 8 700 Arbeitsplätzen, die in diesem Jahr vernichtet werden sollen, bleiben jetzt noch 6 700. Das liegt sicherlich nicht nur an dem "Qualifikationsverlust" sondern auch daran, dass natürlich der Arbeitsmarkt immer enger wird und auch die Beschäftigten -aufgrund der Erfahrungen mit abgekehrten Kumpel zu anderen Betrieben, die dann dichtmachen – nicht mehr so schnell bereit sind zu gehen.

Entlassungen und Konkurse: die neuen Jobs trügen oft!

Die Sache mit der Umschulung und den Neuen Jobs erweist sich immer öfter als Problem für die Betroffenen. Die DSK wirbt mit Zahlen, dass 80 Prozent der umgeschulten Kumpel Arbeit finden. Aber für viele endet der Weg im Bergfreien auch in der Arbeitslosigkeit.

Schlechte Beispiele verderben vielen Kumpels die Lust, auf dem Pütt aufzuhören, und in eine noch unsicherere Zukunft zu gehen.

So galt am Niederrhein die Umschulung zu Siemens in Kamp-Lintfort lange Zeit als zukunftsträchtig. Siemens baute Handys, und der Boom in den neuen Technologien lockte viele. Aber seit einiger Zeit weiß man, dass dort Leute entlassen werden sollen, dass die Sparte nicht so gut läuft. Selbst Computer-Hersteller und Internet-Firmen haben Probleme. Und die Kollegen, die zu Siemens gewechselt sind, waren mit die ersten, die dran glauben mußten.

In Marl gab es ein herbes Erwachen für über zwanzig ehemalige Kollegen des Bergwerkes Auguste-Voctoria. Sie hatten nach dem Zusammenschluß mit Blumenthal im Jahr 2000 zu dem Kunststoffproduzenten Uponor gewechselt. Dessen Röhrengeschäft ging zurück, der Betrieb in Marl wurde geschlossen, und die ehemaligen Bergleute fanden sich auf dem Arbeitsmarkt wieder, nachdem sie länger als ein halbes Jahr dort waren.

Am Niederrhein machten rund 20 ehemalige Kumpel sogar diese schlechte Erfahrung mit einer RAG-Tochter-Gesellschaft. Es handelte sich um eine Auto-Recycling-Anlage, die aufgrund der vielen zu erwartenden Schrott-Autos vor einigen Jahren für die RAG einen Anreiz bot, in das Recycling-Geschäft einzusteigen. Als sich die Anlage angeblich nicht rentierte, war das für die RAG Grund, sie dicht zu machen, und die Umschulung zum Fachmann Umweltschutz war für die Kumpel für die Katz.

Auch andere Firmen machten pleite – nachdem sie hohe Lohnkostenzuschüsse der RAG mit den übernommenen Bergleuten in den Sand gesetzt haben. Das spricht sich auf der Zeche rum.

So ist es zu verstehen, dass sich die Anpassungsangestellten auf AV als Ersatz-Arbeitsamt betätigen und auch diese ehemaligen Kumpel erneut beraten. Denn solche schlechten Beispiele wirken sich verheerend auf die Meinung der Bergleute aus, die auf Umschulung und Verlassen des Bergbaus angesprochen werden.

Angesichts der bei der SPD ausgebrochenen "Faulheits-Debatte" sollten sich die entlassenen Bergleute warm anziehen, wenn sie entgegen allen früheren Versprechungen doch ins "Bergfreie" gefallen sind!

 

Dramatische Minderförderung! – Vorgezogene Stillegung?

Was steckt hinter dem Zahlenspiel der DSK?
Dramatische Minderförderung! – Auf fast allen DSK-Zechen!

Zusätzlich fällt über Wochen die komplette Förderung von Lohberg/Osterfeld aus. – Die Skipförderung wurde durch ein der Öffentlichkeit nicht erläutertes Unglück so beschädigt, daß sowohl der Schacht, als auch das Fördergerüst über Wochen saniert werden müssen.

Zu allem Unglück kommt, daß der Abbau der Belegschaft nicht t die, immerhin unglaublichen, Planzahlen erfüllt. –12000 sollten im letzten Jahr gehen. Und auch in diesem Jahr sollten es 8000 Kumpel werden.

Das Budget, die jeder Zeche entsprechend ihrer planmäßigen Förderung- und dementsprechend ihrem Kohlenverkauf- zugewiesenen Gelder, ist hoffnungslos überschritten. Denn, so die Lesart der DSK, wenn zuwenig gefördert wird mit zuviel Belegschaft, dann reicht das Geld nicht mehr.

Im vergangenen Monat überschlugen sich die Zahlen: erst 900000t Minderförderung DSK-weit, dann 1 Mio. t, und vor kurzem 1,4 Mio. t- innerhalb eines Monats.

Auf jeder Betriebsversammlung wird die Katastrophe an die Wand gemalt. Und Schuld an allem ist – natürlich der Kumpel!

  1. Er fördert zu wenig.
  2. Er will nicht in andere Berufe, besser den freien Arbeits(losen)markt abkehren und verschling zuviel Lohn.
  3. Er ist unmotiviert, fährt zu früh raus und ihm geht der Pütt am Arsch vorbei.

Soweit die Ursachenforschung der Werksleitungen.

  1. Warum Stimmt die Werksförderung nicht?
  2. Die Strebe werden mit einer Technik hingestellt, die zur Geologie nicht paßt. Natürlich kommen die geplanten Meter nicht und Wochenförderung steht an, um die Kohlen zu holen, die in der Woche nicht abgebaut wurden. Die zusätzlichen Wochenschichten kosten Geld, belasten das planmäßige Budget. Und immer wieder die gleichen Abbau-Mannschaften werden zu Überschichten herangezogen. Deren Freizeitkonten wachsen auf 70, 80 ja über 100 Schichten. Abgefeiert werden kann nie. – Aber Prämien gibt’s auch keine. Und dann muß dieser Kumpel sich auch noch von der Direktion die Unverschämtheit anhören: "Selber Schuld! Warum habt Ihr in der Woche nicht genug gefördert?

    Kein Wort davon, daß Planungsfehler und Fehleinschätzungen der Geologie der Grund für die Quälerei an der Kohle sind. Kein Wort von der OE 2, die alle Kameradschaft durcheinanderwirbelt, und bewährte Mannschaften durch Verlegung auseinandergerissen wurden. Kein Wort davon, daß jeder Bereichsleiter gegen den Anderen sein Gebiet auf Kosten der Abbaumannschaften und Herrichtungsteams "sauberhält"! Soviel zur "Motivation"!

    Und am Ende bleibt ohnehin die Frage: Wie glaubhaft sind die veröffentlichten Zahlen der Minderförderung?!—Können oder konnten wir sie jemals nachvollziehen?

  3. Warum klappt der Belegschaftsabbau nicht "planmäßig"?
  4. Die Nachrichten von Kumpels, die den Schritt zu einer anderen Firma wagten, sind niederschmetternd. Im Gegensatz zu den Erfolgsmeldungen der Werksgazette, wo ständig glückliche Umsteiger abgebildet werden, laufen die Nachrichten von eben jenen Glücklichen wie ein Lauffeuer rum, daß sie inzwischen durch Werksschließungen arbeitslos wurden. Wissen wir, wieviele Kumpel heute mit dem Arbeitsamt zu tun haben und wieviele, oder wie wenige es geschafft haben? Und wenn sie es geschafft haben – für wie lange? So wissen wir heute: Nicht jeder Erwerbslose ist faul! Bei fast 4 Mio. Erwerbslosen hat auch der Kumpel kaum eine Chance.

  5. Warum ist das Budget überzogen?

Neben den "unplanmäßig" hohen Belegschaftszahlen und der durch Planungsfehler verursachten Mehrarbeit –zuviel Kumpel und trotzdem auf allen (!) Bergwerken bis zum Jahresende Wochenförderung- werden die Budgets durch die DSK nach Gutsherrenart so verteilt, daß die Mutter RAG und ihre Töchter nicht zu kurz kommen: Teure und den geologischen Bedingungen unangemessene Strebausrüstung – Zulieferer sind RAG-Töchter! Und die nehmen mangels Konkurrenz Gutsherrenpreise. Das Budget für den EDV-Bereich wurde in der DSK im letzten Jahr verdoppelt! – Gewinner: RAG-Informatik! Und auch, wenn bei RAG-Informatik von der Subvensions-Transfusion bei völlig überhöhten Preisen und der konzerninternen Aussetzung des Marktes Arbeitsplätze abhängen – der Kohlenförderung und unseren Arbeitsplätzen fehlen die Gelder. Ein Hohn, wenn RAG-Boss Starzacher die so von uns "erwirtschafteten" Profite um ganze 200 Mio. DM geschmälert sieht, die er laut der Vereinbarung 1997 wieder in die Kohle stecken muß!

Was also soll die Panikmache mit den Zahlen?

Der Druck auf die Belegschaft soll wieder erhöht werden! Die Bereitschaft, die Zeche zu verlassen, obwohl die Chancen auf dem Arbeitsmarkt niederschmetternd sind, soll erhöht werden. Droht doch laut DSK-Zahlen eine weitere vorgezogene Stillegung.

Und nicht zu guterletzt soll die Erwartungshaltung der Kumpel bei den Tarifen ausgebremst und gedämpft werden. Lohnzuwachs? – Freizeit für Weihnachtsgeld? – Nichts ist mit solcher Begründung unmöglich! Sie werden es uns schon verkaufen!
--Wenn wir ihnen alles glauben!--

 

Die freie Wirtschaft

Kurt Tucholsky

Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen.
Ihr sollt auf euren Direktor vertrauen.
Ihr sollt die Schlichtungsausschüsse verlassen.
Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein,
wir wollen freie Wirtschaftler sein!

Fort die Gruppen – sei unser Panier!
Na, ihr nicht.
Aber wir.

Ihr braucht keine Heime für eure Lungen,
keine Renten und keine Versicherungen.
Ihr sollt euch allesamt was schämen,
von dem armen Staat noch Geld zu nehmen!
Ihr sollt nicht mehr zusammenstehen –
Wollt ihr wohl auseinandergehen!

Keine Kartelle in unserem Revier!
Ihr nicht.
Aber wir.

Wir bilden bis in die weiteste Ferne
Trusts, Kartelle, Verbände, Konzerne.
Wir stehen neben den Hochofenflammen
In Interessengemeinschaften fest zusammen.
Wir diktieren die Preise und die Verträge –
Kein Schutzgesetz sei uns im Wege.

Gut organisiert sitzen wir hier...
Ihr nicht.
Aber wir.

Was ihr macht, ist Marxismus.
Nieder damit!
Wir erobern die Macht, Schritt für Schritt.
Niemand stört uns. In guter Ruh
Sehn Regierungssozialisten zu.

Wir wollen euch einzeln. An die Gewehre!
Das ist die neuste Wirtschaftslehre.
Die Forderung ist noch nicht verkündet,
die ein deutscher Professor uns nicht begründet.

In Betrieben wirken für unsere Idee
Die Offiziere der alten Armee,
Stahlhelmleute, Hitlergarden..

Ihr in Kellern und in Mansarden,
merkt ihr nicht, was mit euch gespielt wird?
Mit wessen Schweiß der Gewinn erzielt wird?

Komme, was kommen mag.
Es kommt der Tag,
da ruft der Arbeitspionier:
"Ihr nicht.
Aber Wir. Wir. Wir."

Aus: Kurt Tucholsky Gesammelte Werke Rowohlt 1995

 

Die Faulenzerdebatte oder Arbeitspflicht für Sozialhilfe-, Arbeitslosenhilfe- und Arbeitslosengeldempfänger

Nicht erst der unternehmerfreundliche Bundeskanzler Gerhard Schröder hat mit seinem Unwort diese Debatte angestoßen; vielmehr wird diese schon über Jahre systematisch durch diejenigen, die unsere Gesellschaft in Richtung der neuen globalen Weltwirtschaftsordnung mit nur noch minimaler sozialer und ökologischer Verantwortung des Kapitals verändern wollen, betrieben. Als Vorbilder dienen immer wieder die USA, Großbritannien, die Niederlande und Dänemark. Gradmesser für deren Vorbildfunktion ist die dort laut Statistiken vorherrschende niedrige Arbeitslosenrate.

Schauen wir uns die gegenwärtige Politik in der Bundesrepublik an, so ist erst einmal festzustellen, dass die traditionelle "Partei der kleinen Leute und der sozialen Gerechtigkeit" gemeinsam mit der zu früheren Zeiten gesellschaftspolitisch links angesiedelten Partei der Grünen artig die Vorgaben aus Industrie und Wirtschaft erfüllt: Steuererleichterungen für vor allem die Mitbürger in oberen Einkommensdimensionen und Sozialleistungskürzungen für die in unteren Schichten. Ganz zu schweigen davon, dass sie keinerlei Streichungen der damals zu recht angegriffenen schwarz/gelben Koalition zurücknimmt ( 1997: 38 Milliarden Arbeitslosenunterstützung und 60 Milliarden bei der Rente).

Wie die Kinder an den Klapperstorch sollen wir weiter an die Argumentation aus 16 Jahren schwarz/gelber Regierung glauben: Niedrige Unternehmenssteuern - mehr Gewinne – mehr Investitionen – mehr Arbeitsplätze! Erst wurden mit der Riester-Rente die jetzt Erwerbstätigen und künftigen Rentner zur Kasse gebeten. Da wurde schon mal kräftig für die Unternehmerseite zugebuttert (Teile des Arbeitgeberbeitrags zu Lasten von Eigenbeiträgen von uns Versicherten gestrichen; neue Verdienstmöglichkeiten für den Kapitalmarkt über die neu zu gründenden Rentenversicherungen). Für die nahe Zukunft hat man sich nun die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger vorgenommen. Wir wissen, wie schnell wir gegenwärtig als Bergleute auch zu dieser Gruppe gehören können bzw. wie viele von früheren Kollegen schon jetzt dazu gehören.

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht über Missbrauch von Arbeitslosengeld/hilfe oder Sozialhilfe berichtet wird oder ein sogenannter Wirtschaftssachverständiger die Notwendigkeit betont, in diesem Bereich zu sparen. Still und leise hat der Bundesfinanzminister schon in vorrauseilendem Gehorsam für das nächste Jahr die Bundeszuschüsse für die Bundesanstalt für Arbeit gestrichen. Nun wird immer wieder für einen notwendigen Zwang zur Arbeit für die angeblichen Drückeberger plädiert, als hätten wir einen Überfluss an offenen Stellen, denen nur die Arbeitswilligen fehlten. Der geschätzten Zahl von 10 %, die diese Leistungen unberechtigt in Anspruch nehmen, steht eine größere Zahl derjenigen gegenüber, die trotz Anspruch keinen Gebrauch davon machen. Es wird nicht gesprochen von denen aus dem oberen Drittel unserer Einkommens- und Vermögens-pyramide, die durch Steuerbetrug und andere Betrügereien im Wirtschaftsleben Unsummen einstreichen, die dem Steuerzahler und Gemeinwesen wiederum fehlen. Nicht näher erläutert sei die ganz legale Steuergeldumverteilung an diejenigen, die Gläubiger des Staates sind (zur Zeit an die 100 Milliarden DM!) oder die schon beschlossenen Steuererleichterungen für Unternehmen (2001: 8 Milliarden DM) oder die Steuergewinne der oberen Einkommensgruppen durch die Einkommenssteuerreform (Einkommensmillionär jährlich fast 39.000 DM). All diese Wahrheiten werden bewusst in der Faulenzer Debatte verschwiegen!

Wenn man Fernsehen und Zeitungen betrachtet, hat man das Gefühl, da sei eine ungeheure Propaganda-Maschine in Gang gesetzt. Es beginnt damit, dass Wörter mit positivem Inhalt einen neuen Inhalt verpasst bekommen und das Gegenteil der früheren Bedeutung vermitteln sollen ( Reform: Vor 20 Jahren ein durchaus positiver, für die Mehrheit hoffnungsvolle Neuerungen verheißender, Begriff; heute aber beinhaltet er die nächste Hiobsbotschaft an Verschlechterungen. Modernisierung: Verbanden wir früher damit Lebens-erleichterungen, so denken wir heute sofort an neue Methoden noch mehr aus uns herauszupressen. Verantwortung: Wurde in anderen Zeiten an die Verantwortung des Unternehmers und Kapitals appelliert ist nun nur noch von Verantwortung der unteren Schichten gegenüber dem Gemeinwesen die Rede.). Es geht weiter damit, dass in fast jeder Nachrichtensendung, in fast jedem politischen Magazin oder Kommentar ein sogenannter Fachmann zu Worte kommt, der mehr oder weniger verschlüsselt die These vom Sozialschmarotzer und der Notwendigkeit des Zwangs zur Arbeit zu erhärten sucht. All diese "Information" wird natürlich dann in schwarz/weiß Malerei, Wiederholen des immer Gleichen, Benennung von Sündenböcken, in einer Darstellung, als gäbe es keine Alternative, und mittels Aufeinanderhetzen der verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen vermittelt (Junge gegen Alte / Familien gegen kinderlose Personen / Arbeitslose gegen Erwerbstätige / willkommene gegen unwillkommene Ausländer ). Bei all dieser Propaganda können wir in feinem Zusammenspiel beobachten, dass Politiker, Medien, Professoren und die Wirtschaft an einem Strang ziehen und uns dieselben Themen immer neu in immer anderen Variationen "verabreichen". Als erster Erfolg dieser Propaganda ist schon zu verzeichnen, dass laut Allensbachumfrage 70% unserer Bevölkerung den Zwang zur Arbeit positiv bewerten.

Was aber steckt hinter diesem Zwang? Erst einmal muss gesagt werden, dass schon jetzt rund 400.000 Sozialhilfeempfänger zu Jobs mit 1 - 4 DM Zuzahlung verpflichtet werden. Wenn man davon ausgeht, dass 60% Sozialhilfebezieher Alleinerziehende, Kinder und Kranke sind, so sind in dieser Zahl schon 1 Million Sozialhilfebezieher erfasst. Also, man wirbt für etwas, was schon längst durchgeführt wird. Allerdings auch mit einem zweifelhaften Erfolg; denn auf diese Weise werden natürlich auch andere mögliche Jobs wegrationalisiert und zu einem Billigsttarif entlohnt. Des weiteren werden die, die solche Tätigkeiten nicht übernehmen (aus verschiedensten Gründen: Krankheit, Unfähigkeit, Labilität, Unzuverlässigkeit...) aus der Sozialhilfe gestrichen und tauchen oftmals in der Illegalität unter, liegen Angehörigen, Freunden auf der Tasche, spezialisieren sich auf Schwarzarbeit oder werden teilweise kriminell. Das heißt, die Gesellschaft wurde nicht von den Kosten für deren Lebensunterhalt entlastet, sondern die Kosten wurden nur verlagert oder eine Verelendung dieser Menschen wurde erreicht. Auch das Argument, die Sozialhilfe sei zu hoch, da in bestimmten Fällen ein erwerbstätiger Familienvater mit mehreren Kindern weniger Geld zur Verfügung habe als ein Sozialhilfeempfänger in gleicher Situation, ist schnell zu entkräften; denn es lässt eher den Umkehrschluss zu, dass sowohl die finanzielle Benachteiligung von Familien in unserer Gesellschaft immer gravierender wird als auch das Verdienst des in unteren Lohnbereichen tätigen Erwerbstätigen inzwischen weit nach unten "korrigiert" wurde. So reicht es für diesen Personenkreis nur noch zum Lebensminimum. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass in einer Gesellschaft wie der unseren, mit dauernd die Menschen bombardierenden Konsumanreizen, eine andere materielle Lebensgrundlage vonnöten ist als in einem der armen Länder dieser Welt. Nicht zuletzt sollten die, die in diesen Fragen am lautesten brüllen, umgekehrt gefragt werden, warum sie nicht selbst den Weg in ein angeblich so einfaches Leben mit Sozialhilfe wählen!

Wenn wir nun auf das Arbeitslosengeld und die Arbeitslosenhilfe schauen, so stehen dort demnächst die einschneidensten Maßnahmen bevor. Schon 1997 hat man faktisch den Berufsschutz abgeschafft. Nach drei Monaten Arbeitslosengeld ist man verpflichtet, 80%, nach 4 Monaten 70% und nach 6 Monaten 60% des vormaligen Nettolohns in einer neuen Stelle zu akzeptieren. So kann schon nach einem halben Jahr die Verpflichtung bestehen, statt als Bürokaufmann/frau als Bürohilfe arbeiten zu müssen. Geplant ist nun, die gesamte Arbeitslosenhilfe zu streichen. Arbeitslosengeld soll nur noch ein Jahr lang ausgezahlt werden und dann der Abstieg in die Sozialhilfe erfolgen. In der Sozialhilfe kann dann " die finanzielle Verantwortung der Verwandten für ihr Familienmitglied" eingefordert werden. Außerdem hat man dort die Möglichkeit, noch stärker die Privatsphäre des Klienten zu kontrollieren und kann ihm/ihr auch leichter eine Sklavenarbeit ( Bezeichnung von Erwerbsloseninitiativen in Dänemark für dort schon massenhaft geschaffene Arbeiten nach diesem Verfahren) verordnen. Zusätzlich werden auf diese Weise auch die Arbeitgeber aus ihrer Verantwortung für die Arbeitslosen insgesamt entlassen, da sie kaum noch in die Arbeitslosenkassen einzahlen. Das dänische Modell, bei dem seit 1992 kein Arbeitgeberanteil mehr für die Arbeitslosenkassen anfällt, lässt grüßen. Die Mittelstreichung für die Bundesanstalt für Arbeit ( BfA ) aus dem Bundeshalt für das nächste Jahr bedeutet, das ABM-Maßnahmen und Qualifizierungsmaßnahmen stark reduziert werden sollen. Stattdessen sollen, wie im Bundesbahnmodell oder bei Höchst u.a. schon praktiziert, verstärkt Qualifizierungs-gesellschaften bei größerem Arbeitsplatzabbau geschaffen werden. Mit diesem Modell sparen die Unternehmen, die keine Abfindung mehr zahlen und stattdessen Gelder aus diesem Fond in diese Maßnahme leiten, und die BfA, die nicht mehr den vollen Betrag für die Qualifizierung übernimmt. Außerdem werden "Beschäftigungsgesellschaften" gegründet, mit denen leichter Leiharbeit oder Zeitarbeit vermittelt werden kann.

Um all diese Maßnahmen ohne viel Widerspruch durchführen zu können, wird zur Zeit dieser beschriebene Propaganda Feldzug gegen "die, die nicht arbeiten wollen, die Sozialschmrotzer, die Faulenzer..." geführt. Da sicher durch solche Maßnahmen nicht plötzlich neue Stellen geschaffen werden können, ist ein anderes Ziel dahinter zu suchen. So hält Meinhard Miegel, Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft es zukünftig für notwendig "die Verminderung des Lebensstandards für breite Bevölkerungsschichten" zu betreiben. Der Arbeitgebervertreter Stihl sagt in Bezug auf Kombilöhne ( Ein von Arbeitgeberseite zu zahlender Lohn 20-30% unter dem Niedriglohn, der über 2 bis 4 Jahre von der öffentlichen Hand aufgestockt wird auf Niedriglohnniveau, nach dieser Zeit dann aber auf dem unteren Level bleibt) " Wir wollen echte Niedriglöhne." Dies offenbart die wahre Stoßrichtung, weswegen die Einschnitte im Bereich von Arbeitslosengeld/hilfe und Sozialhilfe erfolgen müssen. Erst muss dort nach unten "reformiert und modernisiert" werden, dann kann man auch unproblematischer an die Lohnkorrektur nach unten!

Da es den Rahmen von diesem Artikel sprengen würde, kann hier zum Schluß nur noch kurz auf ein Beispiel der eingangs genannten "Länder mit Vorbildfunktion" eingegeangen werden. Ohne Kommentar soll hier aus einem Flugblatt einer Besetzergruppe des inzwischen multinationalen niederländischen "Randstad" Zeitarbeitsbüros, zitiert werden. Dieses Unternehmen ist ein Hauptnutznießer des niederländischen Wirtschaftsmodells, genannt Poldermodell.

Das Poldermodell ist eine Mischung aus Lohneinbussen, weitgehender Flexibilisierung und Arbeitszeitverkürzung ohne Mehreinstellungen. Das alles im Einklang mit den Gewerkschaften, nach dem Motto "Profit heißt Arbeit". Das mit dem Profit ist schon gelungen, aber die neue Arbeit besteht zur Hälfte aus unterbezahlten Teilzeitjobs, die meist von Jugendlichen, Frauen und MigrantInnen gemacht werden müssen.

 

Kohle und Arbeit

Kohle sichert Arbeitsplätze – ein im Revier bekannter Ruf seit den Jahren, seit es die Bergbaukrise gibt. Je mehr Arbeitsplätze abgebaut wurden, um so "sicherer" wurden die restlichen Arbeitsplätze – nach den Worten der Politiker, Zechenleitungen und Mitbestimmungsfunktionäre.

Während früher die Angestellten danach ausgesucht wurden, ob sie die Kumpel genügend angetrieben haben um Kohle zu machen, muß heute ein Angestellter sich hauptsächlich damit bewähren, wie er Kumpel zur Abkehr überreden kann.

"Kohle und Arbeit" ist leider zur leeren Worthülse geworden.

 

Internationales:

Profitwirtschaft wurde für 36 ukrainische Kumpel zum Verhängnis

Nach einer schweren Gasexplosion wurden in Dombasz in der Ukraine 36 Kumpel getötet, 40 schwer verletzt und für 10 verschüttete Kumpel gibt es kaum noch Hoffnung. Immer wieder beschweren sich die Kumpel in den halbprivatisierten Betrieben über Korruption und Misswirtschaft. Investitionen bleiben aus und nur dem Profit zur Folge werden notwendige Sicherheitseinrichtungen außer Betrieb gesetzt. Allein im letzten Jahr sind in der Ukraine im Bergbau über 320 Kumpel ums Leben gekommen, in den beiden Jahren zuvor über 650.

Hier im Bergbau sollen in diesem Jahr noch 18 Zechen – nachdem bereits seit 1996 84 Zechen stillgelegt wurden – schließen. Von den rund 200 Zechen arbeiten rund ein Drittel unwirtschaftlich 7und können nur mit hohen staatlichen Subventionen überleben. Nur in 8 Zechen ist überhaupt investiert worden.

 

10 000 Kumpel legten Eisenbahnlinie in China lahm

Rund 10 000 Bergleute mit ihren Familien besetzten im Nordosten Chinas einen Bahnhof und besetzten die Schienen. Auf dieser wichtigen Bahnlinie mussten Zugverbindungen gestrichen werden. 500 eingesetzte Polizisten griffen nicht ein. Die Kumpel protestierten gegen die staatlichen Minengesellschaft Shulan, die einigen beschäftigten seit 30 Monaten keinen Lohn ausgezahlt hatten. Als Folge der Wirtschaftsreform in China hat die Arbeitslosigkeit drastisch zugenommen. Viele Chinesen sind bei Staatsfirmen beschäftigt, die die Produktion praktisch eingestellt haben und nur noch einen Bruchteil der Löhne auszahlen. Deshalb ist es in den letzten Monaten öfters zu Zusammenstößen mit der Polizei gekommen.

 

Kunst gehört auch uns

FRANS MASEREEL
"Ich habe mich immer als Bruder der Menschen empfunden..."

Frans Masereel wurde 1889 an der belgischen Küste geboren. Sein Elternhaus war gut bürgerlich und vermag seine engagierte sozialkritische Kunst kaum erklären. Erste Berührungen mit der sozialen Frage, erste und wichtige Eindrücke vom Leben und der elenden Lage der Menschen macht er auf ausgedehnten Reisen. Seine akademische Laufbahn brach er ab. Er suchte fortan nicht "das Schöne"; er lernte jetzt auf den Straßen und in den Städten Europas. Und die Erfahrungen des 1. Weltkrieges drängen ihn endgültig in die Reihen der radikalen Kriegsgegner und kritischen Intelligenz. Seine Kunst beschreibt nicht mehr nur, sondern sie agitiert, überzeugt und ermuntert zum Widerstand.

Die Wahl seiner künstlerischen Mittel ist bemerkenswert. Frans Masereel hatte seinen künstlerischen Ausdruck weniger in der Malerei als in der Graphik gesucht- und entdeckte für sich den Holzschnitt. Denn der Holzschnitt verfuhr in klaren Schwarz- Weiß und verstärkte in der Wahrnehmung die klaffenden Gegensätze, wie Masereel sie in den Städten, auf den Straßen, aber auch sinnbildlich in der Natur beobachtete. Und: Holzschnitt ist eine Verfielfältigungstechnik, die schon während der Bauernkriege eine herausragende Rolle gewann und solche Rolle auch immer wieder in aufständigen Zeiten behielt. So wurden in Bilderfolgen wie dem "Narrenschiff" die herrschenden Stände des Adels und der Kirche verächtlich gemacht und dem Spott der Massen preisgegeben. Und gerade diese Bilderfolgen, wie sie Masereel auch für seine Kunst entdeckte, waren lebendige Aufwiegelung, Aufklärung,- waren ein Mittel des Erzählens und der Verschwörung. Die Sprache des einfachen Holzschnittes bedurfte keiner Worte, keiner Legenden. Sie wurden von jedermann und überall verstanden. Und so war Masereels Vereinfachung auch immer eine Verdichtung und Zuspitzung im Sinne einer Aufklärung oder Herausforderung. Diese klare Darstellung seiner Ideen stand für Masereel im Vordergrund. Alles Verspielte, in seine eigene Schönheit Verliebte, trat zurück.

Die Themen seiner Bildfolgen rücken, wie könnte es anders sein, dem gedemütigten, betrogenen Menschen, sein trotziges Lieben und Erleiden in den Mittelpunkt. Er zeigt, wie sie leiden und träumen,- jung und trotzig hoffend, alternd und zerbrechend-. Er erzählt über ihre Unterwerfung und Erniedrigung, die ja oft auf seelischen Schauplätzen stattfinden; und die Bildfolgen zeigen, daß die Menschen gleichwohl lieben und selbst in schmutzigen Winkeln glücklich sein können. Denn das Sich- zur- Wehr- setzen, das Sich- erheben folgt nicht allein der blinden Wut des Beleidigten, sondern ist viel wesentlicher dem Zorn des Liebenden geschuldet. Masereel zeigt also den Menschen den Menschen: und durch rationale Einfachheit seiner Bildsprache erweckt er im Betrachter den Zorn, aber auch die Liebe, die ihn selbst beim Schaffen getragen haben. Die Titel seiner Bildfolgen sind hierfür bezeichnend: "Bilder der Großstadt", "Geschichte ohne Worte", "Die Passion (Leidensweg) eines Menschen", oder "Die Idee, ihre Geburt, ihr Leben, ihr Sterben". In dieser letztgenannten Bildfolge zeigt er, wie die "Idee" dem Hirn des Künstlers als Mädchen entspringt, der sie in einem Brief in die Welt entläßt. Dort wird sie verehrt von den Einen, gedemütigt von den Anderen; vervielfältigt- wie Masereels Bildfolgen selbst- entweicht sie schließlich aus der Druckerei, flieht über Drähte und Telefone, schwebt in den Lüften; bringt alles in Erregung, bringt alles durcheinander; streut Saat von Unruhe, von Leben, von Liebe, von Empörung, und findet am Ende zu ihrem Schöpfer zurück. Aber er schafft auch symbolische Einzelblätter, die um die Welt der um ihre Menschenwürde Kämpfenden ging. "Die neue Armee" hat riesige Sonnenblumen statt der Gewehre geschultert. Gleichnishaft steht dem Zug dieser jungen Menschen die gesichtslose Front der Militärs gegenüber, mit Kanonenrohren statt Köpfen. Der "Wert" des Menschlichen Lebens, angesichts der "Aktiengesellschaft", symbolisiert durch ein riesiges, maskiertes Ungeheuer, zur Debatte. Durch solche Vielgesichtigkeit des Menschenbildes schafft Masereel ein Gleichnis für die unmenschliche Wirklichkeit des Kapitalismus.

Im Verlauf seines Lebens, er starb 1972, engagierte sich Masereel auf Vielfältigste Art. Er illustrierte zahlreiche Bücher der Weltliteratur, die auf ihre Art listig und verstehend den Menschen aufrührig machten, wie "Ulenspiegel" von de Coster. Er arbeitete mit humanistischen Schriftstellern zusammen, nahm an Ausstellungen in der Sowjetunion teil und am Weltkongreß gegen Krieg und Faschismus in Amsterdam. Er nimmt Kontakt zur französischen Resistance auf und erfährt nach der Niederlage des Faschismus zahlreiche Ehrungen und Anerkennung für sein künstlerisches Werk in West und Ost. Unter anderem erhält er 1964 gemeinsam mit dem Philosophen Ernst Bloch den Kulturpreis des DGB. Seine Bildbände wurden zu wahren Volksbüchern, die besonders in Arbeiterfamilien von Hand zu Hand gingen. Fritz Barth, ein Arbeiterdichter, erinnert sich: "Masereel war mit uns, er spiegelte unsere Kämpfe, er lehrte uns trotz Armut und Not lieben und das Buch, den Geist, zur Waffe zu erheben."

"Der Platz des Künstlers", schreibt Masereel, "ist in den ersten Reihen der Kämpfer um die Schaffung eines neuen Systems, das die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und die Kriege ausschließt".

Die Bildwelt Masereels steht für unsere Hoffnungen und gesellschaftlichen Träume. Wir müssen sie uns erschließen.- Denn er, Masereel, ist einer von uns.

 

+ +

Nachruf

Wir haben die traurige Pflicht, allen Mitarbeitern und Freunden der DSK mitteilen zu müssen, dass unser in einem fast einjährigen Koma liegender Patient, das

Besucher-Bergwerk Hugo

im März des Jahres 2001 verstarb und nun unwiederbringlich seine Seilscheiben nicht mehr drehen wird.

Unser reicher Verwandter aus Kanada konnte leider die erforderlichen hohen Summen, die Blasenprobleme von Hugo zu lösen, nicht aufbringen. Wir sind in tiefer Trauer mit den über 30.000 Menschen, die in tiefem Glauben, dass ihre Petition an unseren guten Onkel sein Herz hätte erweichen können, eine Unterschrift leisteten.

Wir versichern an dieser Stelle noch einmal, dass wir zusammen mit unserem guten Onkel manche schlaflose Nacht verbrachten in der Hoffnung, doch noch einen weiteren Lebensweg unseres geliebten Hugo, wenn auch nur im Krankenbett, geschenkt zu bekommen.

In tiefer Trauer

Der Vorstand der DSK (Eltern)

und der RAG (Großeltern)

+ +

 

Rentenwarnung

Riester-Rente: Noch nichts abschliessen!

Nachdem die Regierung Schröder die Rentenreform beschlossen hatte, liessen die Versicherungskonzerne die Champagnerkorken knallen. Ein Milliardengeschäft aus den zu erwartenden Beiträgen der Beschäftigten kommt auf sie zu.

Die Privatisierung der Rentenversorgung kann dazu führen, dass unkontrollierte Manager das Vermögen ihrer Beitragszahler an der Börse verjuxen. Der Börsencrash der letzten Zeit sollte alle warnen!

Der ehemalige Gewerkschaftsführer Riester setzte durch, was sich vorher keiner wagte: ein Bruch mit der überkommenen paritätischen Finanzierung der Rentenbeiträge durch Unternehmen und Beschäftigte. Der Beitrag der Unternehmer wird auf 11 Prozent begrenzt, die Beschäftigten müssen 15 Prozent bezahlen. Alle Bestandsrenten und zukünftige Renten werden schrittweise gekürzt. Der staatliche Zuschuss kann nicht darüber hinweg täuschen, dass damit der politischen Willkür bei den Renten eine Tür geöffnet wird.

Dazu kommt, dass die Versicherungen und Fonds-Unternehmen schon jetzt Abschlüsse tätigen wollen. Sie werben für Beitragszahler. Sie wollen jetzt schon Provisionen kassieren, obwohl noch gar keine Versorgungsverträge zugelassen sind. Hier kann man nur betonen:

nichts abschliessen vor 2002 und dann erst nach genauer Prüfung!

Wer auf Gehaltsumwandlung setzt, muss allerdings wissen, dass er damit ebenfalls zum Abbau der gesetzlichen Rente beiträgt. Für den Teil des Gehaltes, der in die Privatrente fliesst, werden keine Beiträge zur Knappschaft gezahlt. Folge: die Knappschaftsrente sinkt noch mehr! Da nützt auch nichts, wenn die Tarifparteien vereinbaren, in den "Bochumer Verband" einzuzahlen – bezahlen müssen wir – aus dem Weihnachts- oder Urlaubsgeld, nicht die Arbeitgeber!

Und was dann als Zusatzrente herauskommt, steht in den Sternen.

 

Rentenwarnung Nummer 2:

Viele Bergleute verlassen jetzt die Schachtanlagen und die DSK, um sich mit einem anderen Job zu versuchen.

Sie müssen wissen, dass zwar die Knappschaft weiterhin für ihre Rentenversicherung zuständig bleibt, aber:
die Einzahlungen zählen nur so wie bei der LVA und BfA auch, das heißt, die Rentenansprüche aus diesen Tätigkeiten sind (bei gleichem Lohn) rund ein Viertel niedriger als bei Beschäftigung im Bergbau !

Wer eine andere Arbeit außerhalb des Bergbaus annimmt, kann nicht mehr in die Anpassung und nicht mehr in die KAL (Knappschaftsausgleichsleistung) gehen!

Wer zwar mindestens 25 Jahre (300 volle Rentenmonate) unter Tage zurückgelegt hat, aber noch nicht das Alter für die Anpassung in einigen Jahren erreichen wird, muss sich bei einem Arbeitsplatzwechsel auf ein erheblich längeres Arbeitsleben einstellen: er kann nach jetzigem Recht zwar mit 60 Jahren die Rente wegen langjähriger Untertagetätigkeit (Altersruhegeld für Bergleute) bekommen, jedoch keine KAL mit 55 – er scheidet ja nicht mehr aus einem knappschaftlichen Betrieb aus.

Wer noch nicht 25 Jahre unter Tage war, kann auch mit 60 noch nicht in den Ruhestand gehen, es sei denn, er nimmt die hohen Abschläge von 18 Prozent in Kauf, sonst muss er bis 65 arbeiten.

Das bedeutet, dass sich alle Kollegen, die mit dem Gedanken an einen Wechsel spielen, vorher genau informieren sollten, auch den Knappschaftsältesten befragen, oder sich mal einen Rentenverlauf von der Knappschaft ausdrucken lassen, wie hoch ihre Ansprüche zur Zeit eigentlich sind!

 

Stillegung mal anders

Die Zeche "GeneralBlumenthal/Haard" in Recklinghausen und Oer-Erkenschwick wurde am 30. Juni diesen Jahres stillgelegt. Aber es war – nach Aussagen des ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden Wolfgang Grewe – ja gar keine Stillegung: es war eine zukunftsweisende Zusammenlegung, bei der einige Teile des Untertagebetriebes entfallen müssen, um den Rest zu sichern.

Folgerichtig wurde es eine Stillegung der neuen Art: ohne Fahnen, Tusch, Chor und Kundgebungen, ohne Gedenkreden und Enthüllung des letzten Förderwagens und diese Dinge, die bei der Stillegung von "Hugo" und "Ewald" in Gelsenkirchen und Herten noch Tausende von Menschen auf die Beine, auf den Zechenplatz und auf die Straße brachten. Natürlich wurde es dort auch nicht gerade den Bergleuten recht gemacht: gelogen wurde schon allein mit dem "letzten" Fördergefäß, das hochgezogen wurde. Jeder Ewalder wußte, dass abends um 18 Uhr die nächste Kohlenschicht einfuhr, um noch "Reste" zu hobeln... Wohlfeile Worte und hohler Dank an die Generationen von Kumpels konnte man nicht als ausreichend ansehen.

Aber in Recklinghausen wurde alles vermieden, was nach einer "Versammlung" oder "Veranstaltung" aussehen konnte: es wurde einfach in der Zeitung behauptet, das sei nicht nötig, da ja schon auf der Belegschaftsversammlung im Winter "Abschied" gefeiert worden sei. Diese Art der klammheimlichen Beendigung von fast 130 Jahren Bergarbeitergeschichte in Recklinghausen und Oer-Erkenschwick ist ein weiteres unrühmliches Beispiel für die Behandlung von Kumpels und Menschen in dieser Region.

Und dann fühlten sich viele Kumpel durch die Stadtspitze auch noch auf den Arm genommen: einige Tage vor Beendigung der Förderung fuhr eine Delegation des Recklinghäuser Rates mit dem Bürgermeister an der Spitze ein und brachte eine Erinnerungsplakette untertage an. Der Bürgermeister sagte, sie sei dazu da, wenn in fünfhundert Jahren nachgebohrt würde, dass dann der Beweis, dass es Bergbau in Recklinghausen gegeben habe, wenigstens auf der Plakette zu finden sei. Die Bergleute, die jetzt das Ausrauben durchführen, und die den Zustand der Grube kennen, wird es freuen angesichts dieser zukünftigen "Ehre"...

Nicht, dass die Bergleute irgendeine dumme Phrase wie bei den früheren Stillegungen vermissen sollten. Auch war wohl jeder froh, dass der Stillegungsdirektor Beermann rechtzeitig vorher in den eigenen Ruhrstand getreten war. So konnte er wenigstens nicht erneut das große Wort von der Notwendigkeit der Arbeitsplatzvernichtung schwingen.

Aber dass die Öffentlichkeit, die Stadt und die Bergleute, vor allem die Gewerkschaft, sich nicht einen Deut um eine vernünftige Beendigungsveranstaltung gekümmert haben, ja, dass man angesichts der Lage zu feige war, vor die Kumpel zu treten: das ist eine Lehre für diejenigen, die sich dem Bergbau nach wie vor verbunden fühlen und in den letzten Jahren viel getan haben, um die Arbeitsplätze zu verteidigen und zu retten.

Der "Verbund" Auguste Victoria/Blumenthal existiert auf dem Papier weiter. AV fördert, vielleicht kommen in einigen Monaten noch mal einige Kohlen aus dem Haltern-Feld des ehemaligen Blumenthal-Haard-Verbundes - die Verbindungsstrecke ist noch nicht fertig, so eilig war die Stillegung... Was mit den Anlagen in Recklinghausen und Erkenschwick passiert, ist noch nicht in jedem Fall klar. Hauptsache: Vermarktung der Zechenplätze. Soll außer einigen ausgemusterten Förderwagen in den Wohngebieten nichts mehr an die Zeche und ihre Kumpels erinnern?

Was vom Bergbau in Recklinghausen übrig bleiben wird, hängt unter anderem davon ab, ob sich in den Reihen der Bergleute und ihrer Gewerkschaft, aber auch in der Öffentlichkeit so etwas wie Geschichtsbewußtsein festmacht, dass es mit dem sang- und klanglosen Untergang nicht sein Bewenden haben darf.

 

Versteckte Ausländerfeindlichkeit ?

Auf den Zechen werden immer mehr Verlegungen und Umschulungen erzwungen. Und dabei kommen die vielen türkischen Kollegen zu kurz. Denn sie sind im Arbeitsmarkt, der sich für ausgebildete Elektriker und Schlosser schon als eng erweist, noch schwieriger "unterzubringen". Die vielen Initiativen, für die sich die RAG und DSK rühmen, finden bei ausländischen Kollegen kaum Anklang. Der Grund ist klar: sie finden kaum Ersatzarbeitsplätze.

Oft sind sie in der dritten Generation in türkisch-sprachiger Umgebung aufgewachsen. Sie haben den Zugang zum Bergbau über Väter und manchmal Großväter erreicht. Sie sind die Unterprivilegierten der Ruhrgebietsvorstädte. Meistens herrscht in diesen Vororten noch höhere Arbeitslosigkeit als im übrigen Revier. Einige wenige türkische Unternehmen, Kleinhandel, Autowerkstätten, Reisebüros, Kulturhäuser, Teestuben bieten nicht viele Arbeitsplätze an. Industrielle Ersatzarbeitsplätze gibt es weit und breit nicht.

Und doch wird es den türkischen Kollegen in vielen Äußerungen zum Vorwurf gemacht, dass sie nicht so wie andere Kumpel bereit wären, der Zeche den Rücken zu kehren. Das ist eine unfaire Art, an die Realtitäten heranzugehen, und wenn Funktionäre oder leitende Abkehrförderungs-Angestellte dies gezielt in die Zeitungen und Öffentlichkeit oder in gewerkschaftliche und betriebliche Diskussionen bringen, ist es eine Förderung von Ausländerfeindlichkeit und Wasser auf die Mühlen der Rechten.

Leider mindert das zusätzlich auch die Chancen einer gemeinsamen Gegenwehr.

 

Tarif-Verhandlung im Bergbau

Bis zur Drucklegung dieser Zeitung dauern die Tarifverhandlungen noch an. Indes wird es langsam deutlich, daß die Tarifkommission, was die Lohnsteigerung betrifft, eine 2 vor dem Komma anvisiert hat. Denn weniger Geld würde uns von der Einkommensentwicklung der anderen Branchen abkoppeln.

Und eine spürbare Einkommensanhebung ist diesesmal ein Muß!!!

Aber auch die anderen Verhandlungspunkte sind von großer Bedeutung. Soll der Bergbau nicht von seiner personellen Seite unmöglich werden, dann brauchen wir die Übernahme unserer Auszubildenden in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis – auch wenn der Belegschaftsabbau weitergeht!

Und auch die Abschläge bis zu 18%, die unsere Kolleginnen und Kollegen übertage mit 60 Jahren hinnehmen müssen, können im Tarifgeschehen nicht unberücksichtigt bleiben. Schließlich gibt die DSK niemandem die Möglichkeit, durch längere Arbeitszeit die Abschläge zu vermeiden.

Wir erwarten also an allen drei Punkten vorzeigbare Ergebnisse!

 

Zwangsarbeiter starben auch in Walsum

Zur Zeit herrscht in den öffentlichen Medien Funkstille über die Entschädigung der Zwangsarbeiter. Die Unternehmer wollen nicht mehr an ihrer Verantwortung an den Greueltaten des Faschismus erinnert werden und nun wieder in Ruhe ihre Profite machen. Nach den Urteilen in den USA beginnt nun die Auszahlung der Entschädigung. Häufig nur ein Almosen für die Zwangsarbeit und die erlittenen Qualen.

Aber immer wieder erinnern sich Menschen an die Zeit und an die Situation der Zwangsarbeiter. So auch in Duisburg der Historiker und frühere Lehrer Manfred Tietz und der Bezirksvertreter der Grünen, Franz Tews. Sie forschen, organisieren Veranstaltungen, Gesprächskreise und Ausstellungen.

Sie stellten fest, dass viele Zwangsarbeiter bei den Aschaffenburger Zellstoffwerken (jetzt Fa. Haindl), bei der Rheinwerft, bei der Hamborner Thyssenhütte, in der Landwirtschaft und auch auf dem Bergwerk Walsum eingesetzt wurden.

Auf dieser Zeche gab es doppelt soviel Zwangsarbeiter wie in anderen Betrieben. 102 von ihnen haben die Schinderei nicht überlebt und wurden in einem versteckten Winkel des Walsumer Friedhofs verscharrt.

Eine besondere Rolle dabei spielt wohl auch der damalige Zechenboss Dr. Wilhelm Roelen. Sein Enkel Hans-Wilhelm Barking nimmt seinen Großvater nach öffentlichen Angriffen in Schutz: "Eer war vielmehr als bekennender und tiefgläubiger katholischer Christ von großen Gottvertrauen beseelt und vom absehbaren Ende des ‚tausendjährigen Reichs’ fest überzeugt." In den Naziakten finden sich tatsächlich zunächst Aufzeichnungen, nachdem Roelen kein treuer Vasall war. Das änderte sich aber 1942. "Er hat sich in den letzten Jahren den Bestrebungen des nationalsozialistischen Staates in jeder Hinsicht angepasst. Wir können seine Ernennung zum Wehrwirtschaftsführer heute befürworten." So nachzulesen in den Unterlagen der NSDAP im April 1942. Die Grünen haben als eine Art der Anerkennung des Leids der Zwangsarbeiter die Entfernung des Namens Roelen von den Straßenschildern gefordert.

 

WDR5, Sendung vom 14.09.2001 10:40 Uhr
Gabriele Gillen, Ein Essay für WDR 5 - Neugier genügt
Redaktion: Rainer Marquardt

Der Preis der Lüge - oder: Die Schatten der Geschichte

Beginnen wir mit einem einfachen Gedanken:

Ein Verbrechen gegen ein menschliches Wesen steht einem anderen Verbrechen gegen ein menschliches Wesen in nichts nach. Ein Mensch ist so viel wert wie ein anderer. Denn:

"Alle Menschen sind gleich geschaffen", so steht es auch in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die Vereinten Nationen beginnen ihre "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte", die nun schon älter als 50 Jahre ist, mit der feierlichen Formulierung von der "Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte" - eine Anerkennung, die die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden bilde.

Schauen wir uns um auf der Welt:

Nein, die Menschen sind nicht gleich. Gleich geboren, aber nicht gleich ernährt; gleichermaßen würdig, aber nicht gleichermaßen beschützt; gleichberechtigt, aber nicht gleich behandelt.... Wer hungert, wird eben nicht satt. Wer zwischen Folterkellern lebt, lebt in der täglichen Angst um seine Haut. Wer verfolgt wird, kann sich kein Wohnzimmer einrichten. Wer keine Macht hat, ist ohnmächtig. Und wer sich verachtet fühlt, lernt den Hass.

Alle Menschen sind gleich.

Aber erleben wir ein Massaker an Afrikanern oder Arabern als die gleiche Katastrophe wie ein Massaker an Europäern oder US-Amerikanern? Ist es nicht so, dass wir dort in Afrika oder im Nahen Osten den rohen Umgang miteinander beinah für normal halten? Doch würden wir es verstehen, wenn ein Afrikaner oder ein Palästinenser ein Blutbad in Europa oder in den USA schlicht für das selbstverständliche Produkt einer Zivilisation hielte, die Auschwitz oder Hiroshima hervorgebracht hat?

Der Umfang und die Heftigkeit der Anschläge gegen die USA mögen überraschend gewesen sein, doch überrascht es auch, dass die USA in diesen Zeiten das Opfer von gewalttätigen Attacken wird? Muss es uns wundern, dass in den durch Kriege und Armut und Umweltzerstörung verwüsteten Teilen der Erde nach einfachen Lösungen gerufen wird, nach Rache? Wollen wir nicht begreifen, dass der Terror nicht nur eine bösartige, sondern auch eine verzweifelte Antwort auf die Aufteilung der Welt in Arm und Reich, in Sklaven und Herrscher ist?

Alle Menschen sind gleich.

Doch die Geschichte der Eroberung Amerikas ist bis heute eine lange blutige Geschichte über die Missachtung von Menschenrechten und den Missbrauch von Macht: Die Ausrottung der Indianer, die Unterdrückung der Schwarzen, Hiroshima und Vietnam, Chile und der Nahe Osten, die Verweigerung von Schuldenerlassen oder Umweltauflagen. Überall auf der Welt leben Menschen in einer Situation der permanenten Demütigung und des ökonomischen Desasters.

Und überall mischen die USA mit - selbstlegitimiert durch die vermeintliche Verteidigung der Freiheit, aber in Wahrheit immer auf der Seite des Geldes und besessen von der Durchsetzung des eigenen Werte- und Wirtschaftssystems.

Die Verbrechen der Macht stehen in nichts den Verbrechen der Ohnmacht nach.

Worum weinen wir in diesen Tagen? Für wen oder was legen wir Gedenkminuten ein, feiern wir Trauergottesdienste, sagen wir Gartenpartys, Sportveranstaltungen und Haushaltsdebatten ab? Warum unterbrechen wir Wahlkämpfe und warum legen wir gedämpfte Musik auf die Plattenteller der Rundfunkanstalten? Trauern wir tatsächlich um die Toten in den USA? Doch wann haben wir je in dieser Form auf die Bombardierungen von kurdischen Dörfern, auf das Massensterben im hungernden Afrika, auf die Erschießung von palästinensischen Kindern reagiert? Auf das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, auf das Gemetzel der Taliban in Afghanistan, auf die durch Selbstmordattentäter zerfetzten Menschen in Jerusalem? Oder auf den Völkermord in Ruanda 1994, bei dem eine Million Frauen, Männer und Kinder ermordet wurden. Die gerade jetzt so viel beschworene Menschenverachtung erleben wir schließlich Tag für Tag. Was erschüttert uns also so in diesen Tagen?

Die Ahnung, dass die Spirale aus Gewalt und Gegengewalt immer seltener vor den Türen der "Ersten Welt" halt machen wird? Das plötzliche Wissen um die Zerbrechlichkeit unserer mit Beton und Konsum und Seifenopern von Elend und realer Verzweiflung abgeschirmten Welt?

Oder erschüttert uns vielleicht auch die Erkenntnis, dass unsere sogenannte Zivilisation auf einer Lüge aufgebaut ist; dass wir unsere Hände nicht länger in Unschuld waschen können; dass das World Trade Center und das Pentagon nicht nur für Tausende von unschuldigen Opfern, sondern auch für Tausende von Tätern stehen, die Kriege inszenieren, Waffen verkaufen und Hungersnöte in Kauf nehmen, wenn es den Börsenkursen dient?

Die terroristischen Anschläge in den USA ein Menetekel, eine Unheil kündende Prophezeiung? Doch wem oder was sagt die mit Flammen und Rauchzeichen in den Himmel geschriebene Geisterschrift dieses Mal ihren Untergang voraus? Der letzten Großmacht USA oder der zügellosen Gewalt des Geldes? Was können wir erkennen im globalen Nebel zu Beginn des 3. Jahrtausends?

Trotz der pausenlosen Wiederholung dieser Floskel in den vergangenen Tagen - es stimmt nicht, dass sich die Welt durch den Zusammenbruch des World Trade Centers verändert hat.

Verändert hat sich die Silhouette von New York. Ansonsten ist die Welt die gleiche geblieben. Überall Probleme, für die niemand eine Lösung hat oder auch nur zu haben vorgibt. Die selben Kriege, der selbe Hunger, die selbe Hoffnungslosigkeit...

Die dramatischen Anschläge in den USA verändern nichts, sie zeigen nur, dass immer aufgefeiltere Waffensysteme im Besitz der Nato oder anderer Staaten immer ausgefeiltere Terroraktionen bedingen. Die Kriegserklärung gegen die USA hat eine Vorgeschichte. Denn Terroraktionen dieser Art entstehen auf einem politischen, sozialen und ideologischen Nährboden, in einem Klima aus Hass und Intoleranz und Rassismus. Wenn Bundeskanzler Schröder nun von einer "Kriegserklärung an die gesamte zivilisierte Welt" spricht, schreibt er die Spaltung der Welt schon wieder fort. Wer nicht zu uns gehört, ist also unzivilisiert.

Nein, die Welt hat sich nicht verändert. Sie ist leider genau so wie zuvor.

Meistens jedoch sterben die Menschen stiller und nicht so spektakulär.

Ich stehe, trotz aller Beschwörungen der Anständigen, nicht auf der Seite von Amerika und ich empfinde die grausamen Terroranschläge auch nicht als einen Anschlag auf mein moralisches Wertesystem. Ich halte die USA nicht für eine Demokratie und ihre Regierung nicht für eine Hüterin der Menschenrechte, nicht für moralisch legitimiert, moralische Urteile zu fällen.

Aber ich trauere um die Toten in New York und Washington - so wie um die zivilen Opfer im Kosovo-Krieg oder die verbrannten Flüchtlinge in deutschen Asylbewerberheimen...

Wenn wir aber in Deutschland die Musterschüler im symbolischen Trauern mimen wollen, dann bin ich dafür, alle Sportveranstaltungen und Oktoberfeste und Messe-Galas abzusagen bis zu jenem Tag, an dem es Gerechtigkeit gibt auf der Welt. Und bis zur Einlösung der UNO-Erklärung zu den Menschenrechten plädiere ich auch für die dauerhafte Unterbrechung von inhaltsleeren Wahlkämpfen und für tägliche Gedenkminuten.

Ohne Gerechtigkeit keine Sicherheit. Nicht noch mehr Waffen, nicht noch mehr Sicherheits-Kontrollen, nicht noch mehr Mauern gegen die Armut und das Fremde machen die Welt und unser Leben sicherer, sondern sozialer und ökonomischer Ausgleich, der entschiedene und demokratische Kampf gegen die Verwüstungen des Kapitals, Toleranz und Kultur...

Auch wir hier in den Medien sind gefordert. Wir müssen die Täter und die Zusammenhänge beim Namen nennen: Wer profitiert von Massenentlassungen oder Hungersnöten, wer verweigert des Profites wegen welche Medikamente für Afrika, wer hat die Albaner in Mazedonien eigentlich bewaffnet - und wer die Gefolgsleute des Terroristen Bin Laden? Waren das nicht die Deutschen und die USA? Wir müssen uns der Propaganda und der freiwilligen Gedankengleichschaltung entziehen. Und schon jetzt unsere Stimmen gegen einen drohenden Krieg erheben. Und dagegen, dass die USA gemeinsam mit ihren Verbündeten hinter der Pose der Betroffenheit und auf der Suche nach Schuldigen gegen jeden vorgehen, der berechtigt gegen die politische Dominanz der USA kämpft.

Wie könnten wir besser der vielen Toten gedenken, der zahllosen Opfer von sinnloser Gewalt und gezieltem Terror, als mit dem gemeinsamen Bemühen darum, dass sich die Welt tatsächlich ändert?!

© 2001 Westdeutscher Rundfunk


Home
LabourNet Germany: http://www.labournet.de/
LabourNet Germany: Treffpunkt für Ungehorsame, mit und ohne Job, basisnah, gesellschaftskritisch
The virtual meeting place of the left in the unions and in the workplace
Datei:
Datum: