Einst kalkulierte General Motors, es käme teurer, seine Autos sicher zu machen, als Schmerzensgeld an Opfer zu zahlen. Nun wurde GM zu 9 Milliarden Mark Strafe verurteilt
Berlin (taz) - Ende der Siebziger war General Motors (GM) zu geizig, um in die Sicherheit seiner Straßenkreuzer neun Dollar pro Auto zu investieren. Dies kommt den weltgrößten Automobilkonzern nun viel teurer zu stehen, als er jemals erwartet hatte: Er muß 4,9 Milliarden Dollar (9,4 Milliarden Mark) an die Familie Anderson und einen Freund zahlen, die vor sechs Jahren in einem 1979er Chevrolet Malibu schwer verunglückten. Dazu verurteilte am Freitag ein Geschworenengericht in Los Angeles den Konzern. Es ist die höchste Summe an Strafe und Schmerzensgeld, zu der je ein Konzern verurteilt wurde.
Am Heiligabend 1993 fuhr Patricia Anderson mit ihren vier Kindern und einem Freund von der Kirche nach Hause. Als sie vor einem Stoppschild bremste, krachte ein anderes Auto mit etwa Tempo 80 von hinten in ihren Chevrolet. Dabei entzündte sich der Tank und der Wagen brannte aus. Drei der vier Kinder trugen an sechzig Prozent der Haut schwere Verbrennungen davon, einem davon verbrannte ein Ohr vollständig und außerdem die Hand so sehr, daß sie abgenommen werden mußte. Das vierte Kind und die beiden Erwachsenen verbrannten sich ebenfalls, wenn auch nicht so schlimm wie die anderen drei.
Zwar war eindeutig der Fahrer des anderen Wagens an dem Unfall schuld, der zudem 2,0 Promille Alkohol im Blut hatte. Doch unter normalen Umständen hätte bei diesem Unfall der Chevrolet nicht in Brand geraten dürfen. Doch aufgrund eines Konstruktionsfehlers war der Tank nur 28 Zentimeter von der Stoßstange entfernt angebracht worden, und zwar so, daß er bei genau solchen Auffahrunfällen in Brand geraten konnte.
Wie das Gericht ermittelte, war den Managern von General Motors der Konstruktionsfehler bekannt, der bei mehreren Modellen aus den Jahren 1979 bis 1983 auftrat. In internen Papieren wurden 38 Zentimeter als minimaler Abstand gefordert und die Behebung des Mangels diskutiert - im Falle des Modells Malibu hätte das 9 Dollar pro Fahrzeug gekostet.
An dieser Stelle begannen die Erbsenzähler bei GM offenbar die Bleistifte zu spitzen und zu kalkulieren, daß mögliche Schadenersatzansprüche den Konzern billiger kämen, als ein Behebung des Fehlers. Als Beleg dafür galt den Geschworenen eine interne Kostenanalyse von Edward Ivey aus dem Jahr 1973. Unter der Annahme, daß "jeder Todesfall einen Preis von 200.000 Dollar hat" und höchstens 500 Tote per Jahr durch Tankfeuer zu erwarten wären, kostete jeder solche tödliche Unfall GM nur 2 Dollar 40 pro Auto.
Zwar hatte Ivey in seinem Papier eingeschränkt, daß man ein Menschenleben nicht wirklich bewerten könne - doch die Geschworenen sahen es als bewiesen an, daß solche Sicherheitsfragen bei General Motors allein eine Frage von Aufwand und Nutzen waren. Tatsächlich hatte Ivey mehrere solcher Analysen gemacht. Und die Geschworenen wollten sichergehen, daß sich GM, der größte Autokonzern der Welt, damit gründlich verrechnet hat.
Bei der Strafhöhe orientierten sich die Geschworenen an der Höhe der Werbeausgaben von GM von vier Milliarden Dollar pro Jahr. Unklar war allerdings, ob die Höhe der Strafe einer möglichen Berufung standhält. "Wenn ein Urteil extravagant ist", sagt der Washingtoner Rechtsexperte Theodore Olson, "und jeder kann sehen, daß dies so eines ist, dann wird es entweder außer Kraft gesetzt oder reduziert." Andere Experten gaben dem Urteil hingegen gute Chancen eine Berufung zu überstehen.
Der Anwalt der Kläger, Brian Panish, feierte das Urteil als ein Zeichen für das Rechtssystem, Verbraucher vor gefährlichen Produkten und der Gier der Unternehmen zu schützen. Ohne den Konstruktionsfehler hätte sich eines der Kinder bloß ein Bein gebrochen, so sind die Kinder für ihr Leben von Brandwunden entstellt - eines wurde bereits 70 Mal operiert. Noch immer sind in den USA 5 Millionen Fahrzeuge der GM-Marken Chevrolet, Oldsmobile und Pontiac mit unsicherem Tank auf der Straße.
Matthias Urbach
taz Nr. 5883 vom 12.7.1999 Seite 7 Wirtschaft und Umwelt