Der folgende Stimmungsbericht stammt aus der großen linksliberalen (und dem Olivetti-Konzern gehörende) italienischen Tageszeitung "la Repubblica" vom 14.3.2000. Einer der beiden Autoren, nämlich Paolo Griseri, schreibt ansonsten für die linke (nominell sogar "kommunistische") Tageszeitung "il manifesto". Er wurde hier offenbar wegen seiner guten Kontakte innerhalb der turiner Arbeiterbewegung engagiert.
Turin "Just in time. Genau zur rechten Zeit." Bonaventura Alfano lächelt, nimmt die Zigarre aus dem Mund und hebt das Glas, um uns zuzuprosten. Es ist nichts außergewöhnliches zu bemerken im Büro der 5.FIOM-Liga (1), dem Arbeiter-Hauptquartier vor der großen Villa in Turin-Mirafiori. Aber Bonaventura, 35 Jahre bei FIAT mit Kämpfen und Politik trinkt Spumente: "Ich bin in die Fabrik eingetreten als es noch Valletta gab. Ich verlasse sie jetzt, wo die Amerikaner kommen. Just in time oder nicht ?" Viele sind aus den Produktionslinien ausgeschieden, um die Frühverrentung in Anspruch zu nehmen. Es ist ein sonderbarer Tag. Sonderbar, gewiß. Ein alter kämpferischer Arbeiter geht in Rente und verdient sich in denselben Stunden eine Plakette ("Immer zusammen in den Kämpfen für die Freiheit, die Genossen der Mechanik und der 5.FIOM-Liga"), in der das unterstreichen die Gewerkschafter "FIAT den padrone (2) wechselt".
An den Werkstoren von Mirafiori kreuzen sich beim Schichtwechsel gegensätzliche Gefühle. Die erste Reaktion: "Was wollt Ihr, daß sich ändert ? Für uns wird es immer schlechter werden." Eine Fabrik voller Älterer neigt dazu zu relativieren. Am Tor 2 der Karosserien kein Flugblatt. Es ist nur das Plakat eines fliegenden Händlers vorhanden, der sich, um sich Gehör zu verschaffen, mit Farbe bekleckert hat: "Ein Knoblauch-Test 5 000 Dollar !" Wenig davon entfernt hat der globale Markt das schwarze Gesicht zweier Senegalesen: "FIAT und GM ? Bei uns verkaufen sie nur Mitsubishis und Renaults." Eine andere Welt. Wie jene der heroischen Zeiten als Giuseppe, der Verkäufer am Zeitungskiosk, der seit 30 Jahren seinen Verkaufsstand vor die Werkstore bringt, "lUnità" (3) wie Brot verkaufte: "Heute nur ein einziges Exemplar."
Die Arbeiter und Arbeiterinnen kommen. Zweite Schicht. Alle in Eile, wie immer. Einer sagt: "Ich bin erst seit wenigen Jahren hier (erst seit 11). Ich hoffe, daß sich sowenig wie möglich ändert." Die Alten, am Rande der Rente Stehenden machen den Zyniker: "Ich habe 30 Jahre Arbeit zusammen. Was sich ändern wird, interessiert mich nicht. Das ist ein Problem der Jungen" Der Arbeiter Rocco Mandrone dagegen ist ein Arbeiter aus der New Economy: "Heute morgen haben wir zwischen den Produktionslinien über die Börse diskutiert. Welche Titel steigen, welche es sich lohnt zu verkaufen." Aber Lichtjahre trennen Mirafiori von dem angeblichen Enthusiamus der Ciputti-Aktionäre von Melfi (4), die in den vergangenen Monaten 100 200 000 Lire <gut 100 200 DM /d.Ü.> vom Lohn in FIAT-Aktien investiert haben. Es genügt zur Mechanik (Tor 20) umzuziehen, wo 750 Arbeiter zu Überschüssigen erklärt worden sind. Es wehen einige rote Fahnen, man improvisiert eine Kundgebung. In der ersten Schicht hat man eine Stunde lang gegen den "ungenierten Gebrauch der cassa integrazione" (5) gestreikt.
Francesco DAlessandro, der fast 32 Jahre damit verbracht hat Motoren zu produzieren, kommt zur Sache: "Es ist klar, daß wenn man beschließen würde den Opel-Motor des Astra durch unseren Torque zu ersetzen, wir garantierte Arbeit hätten." Und wenn das Gegenteil geschehen würde ? "Das ist unsere Angst", fährt DAlessandro fort. "Die Amerikaner schauen, wenn sie Arbeitsplätze streichen, niemandem ins Gesicht." Claudio Stacchini, Nummer 1 der FIOM in Mirafiori, ist vorsichtig: "Für einen Gewerkschafter wie mich, der seit Jahren eine Allianz gefordert hat, könnte es eine gute Nachricht sein. Jetzt ist es jedoch an der Mitte-Links-Regierung darüber zu wachen, daß der nationale Charakter einer strategischen Industrie verteidigt wird."
1) Die Untergliederungen der Metallarbeitergewerkschaften in den einzelnen Stadtbezirken heißen Liga.
3) "Die Einheit", Anfang der 20er Jahre von Antonio Gramsci gegründet bis zur Selbstauflösung der italienischen KP im Februar 1990 die Tageszeitung des PCI mit einer Auflage von bis zu 300 000 Exemplaren und heute (mit nur noch 50 000 verkauften Exemplaren) das inhaltlich stromlinienförmige und akut von Einstellung bedrohte Blatt Linksdemokraten (DS), die aus dem rechten Mehrheitsflügel des PCI entstanden und heute die größte Regierungspartei der Mitte-"Links"-Koalition sind.
4) In Melfi, nahe Neapel, liegt das Ende der 80er Jahre auf der grünen Wiese errichtete und modernste FIAT-Werk in Italien, dessen Arbeiter(innen) kaum über gewerkschaftliche bzw. politische Erfahrung bzw. Tradition verfügen und nicht nur für weniger Lohn, sondern auch unter noch miserableren Bedingungen arbeiten müssen als ihre Kolleg(inn)en in Norditalien.
5) Maximal 3 Jahre dauernde Kurzarbeit Null, die mit der Hoffnung auf Wiedereinstellung verbunden wird, jedoch nach Ablauf der Zeit fast immer auch die formale Entlassung zur Folge hat. Allerdings ist die Cassa integrazione auch die einzige Form von (de facto) Arbeitslosigkeit mit finanzieller Arbeitslosenunterstützung.
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