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Updated: 18.12.2012 15:51
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Ausbruch aus der Normale – retour à la normale?

Ein Gespräch über Unsagbares und Unsägliches bei Opel Bochum

Es gibt in der Bundesrepublik kein individuelles Streikrecht, sondern lediglich ein Arbeitskampfrecht, das klare Ablauf-Regeln vorschreibt: Die prinzipiell geltende Friedenspflicht wird erst durch Auslaufen oder einseitige Kündigung von Tarifverträgen beendet, es folgt: Verhandlungsaufnahme, ev. begleitet von Warnstreiks, erst bei Scheitern von Verhandlungen dann nachfolgende Urabstimmung unter den organisierten Mitgliedern etc. All das war bei Opel nicht gegeben.
In öffentlichen Darstellungen haben sich IGM- und Betriebsratsvertreter entsprechend zurückhaltend gezeigt, dem Kind einen Namen zu geben. Die offizielle Sprachregelung lautete, es handele sich um die »Wahrnehmung des Informationsrechts«.
Dahinter stand sicher nicht nur der Gedanke, Belegschaften und Betriebsräte vor möglichen unternehmerischen Sanktionen und Repressionen schützen zu müssen, sondern auch ein insgesamt legalistisches Verständnis von Arbeitskampf bei IGM und BR sowie die politische Kontroverse um die Frage »Verhandlung oder Streik?«, die in Deutschland traditionell zugunsten korporatistischer Überlegungen entschieden wird – wie sich erst im Sommer anlässlich des Abschlusses bei Daimler-Chrysler wieder gezeigt hat.
Umso bemerkenswerter war der sechstägige »Ausstand« der Bochumer Opel-Belegschaft, der nach anfänglichen Sympathien in Presse und Politik zuletzt massiv nicht nur von dieser Seite, sondern auch aus den Reihen des IGM-Vorstands und des Opel-Gesamtsbetriebsrats unter Legitimationsdruck gesetzt wurde.
Wir wollten genauer wissen, welchen Namen denn nun der »Ausstand« verdient, d.h. welche Rolle Belegschaft, IGM und BR in der Vorbereitung und Durchführung jeweils hatten, wie die »Info-Veranstaltungen« organisiert wurden, welche Schwierigkeiten es dabei, aber auch bei der werksübergreifenden, insbesondere internationalen Kooperation gab.
Kirsten Huckenbeck sprach mit Manfred Strobel*, der als Elektriker in der Wartung und Instandhaltung im Achsenbau (Werk II) arbeitet.

Ein Kollege von Dir hat auf die Frage, wie es zu der Arbeitsniederlegung am Donnerstag, den 14. Oktober kam und wer dazu aufgerufen habe, in der Jungle World vom 20. Oktober geäußert, dies sei eine »spontane Aktion der Beschäftigten« nach Bekanntgabe der Pläne des GM-Managements durch BR und Vertrauensleute gewesen, zu der weder BR noch IGM noch Vertrauenskörper-Leitung aufgerufen hätten. Kannst Du das bestätigen? Und wenn ja: Man kann sich vorstellen, dass ein solcher Akt der Spontaneität – zu dem es in anderen GM-Belegschaften gar nicht erst kam – schnell auch wieder einschläft, wenn er seine »Warnschuss-Funktion« erfüllt hat. Doch in Bochum wurde ja nach der ersten Informationsveranstaltung nicht nur die Arbeit der Spätschicht niedergelegt, sondern schnell mit der Blockade der Werkstore begonnen, die dann über mehrere Tage anhielt. Wie kam es zu dieser Radikalisierung? Brauchte es dazu »externe« Anstöße – und wenn ja: woher kamen diese –, oder kam dieser Impuls aus der Belegschaft? Was wurde unter den Beschäftigten diskutiert?

Vorweg zum Verständnis. Das Werk Bochum ist aufgeteilt in drei Werksteile, die in unterschiedlichen Stadtteilen liegen: Werk I mit Rohbau, Fertig- und Endmontage, Lackiererei, Presswerk, Auspuff und anderen Komponenten; Werk II mit Powertrain, d.h. Motor- und Getriebebau (der Motorbau ist schon geschlossen!), Vorder- und Hinterachse sowie Werk III mit dem zentralen Ersatzteillager. Die Werke II und III liegen zusammen, sind aber räumlich ca. zehn km vom Werk I entfernt. Meine Erfahrungen in dieser Auseinandersetzung beziehen sich im Wesentlichen auf die Werksteile II und III, sie sind daher nicht unbedingt auf das ganze Werk Bochum übertragbar.

Nun zur Frage. So ganz spontan hat sich die am Donnerstagnachmittag begonnene Aktion ja nicht entwickelt. Sie hatte einen Vorlauf. Im Frühjahr sollten wir auf Grund der schlechten Lage von GM im europäischen Geschäft Einsparungen in Höhe von ca. zehn Prozent hinnehmen. Im Juni wollte GM dann die »BV 180 – Prämienlohn« zum Oktober kündigen, die uns bisher zumindest ansatzweise die übertariflichen Lohnanteile und Leistungen abgesichert hat. Es gab einen Beschluss der VK-Leitungen Eisenach, Rüsselsheim, Kaiserslautern, Dudenhofen und Bochum für gemeinsame Gegenaktionen. Der Unmut über diese Frechheit der Konzernleitung lenkte die Erinnerung der Bochumer Belegschaft in Richtung 2000 – damals gab es zweieinhalb Tage »Informationsveranstaltung« für die Forderung: »Ein Betrieb – Eine Belegschaft«. Die Bereitschaft der Menschen in Bochum für Aktionen wurde dann allerdings durch die BR-Vorsitzenden per Beschluss, die Kündigungsfrist zu ändern, erstmal zunichte gemacht – die BV soll jetzt erstmalig im Januar 2005 kündbar sein.

Dann, vor den Werksferien, die Auseinandersetzung und Erpressung bei DaimlerChrysler. 500 Millionen Einsparung! Mensch schaute nach Süddeutschland und nach Bremen: Wie wehren sich die Menschen dort? Und Mensch nahm die dann folgende »Schlappe« – den Verzicht für nix – mit in die Ferien: Gewerkschaft versagt, Betriebsrats-Co-Manager versagt. Enttäuschend für mich persönlich war u.a., dass die Autokoordination ihre mögliche Rolle nicht wahrgenommen hat: Gegenwehr bundesweit zu organisieren oder mindestens zu unterstützen – Fehlanzeige!?

Dann die 500 Millionen Einsparung bei Karstadt: Wieder sind die Menschen von der Gewerkschaft und den Betriebsrats-Co-Managern über den Leisten gezogen und verarscht worden.

Dann kam die eigentliche Zuspitzung bei GM in der Woche ab dem 11. Oktober. Anfänglich teilte die Konzernleitung via Presse den Abbau von 12000 Arbeitsplätzen in Europa mit, der sich dann im Verlauf der Woche auf 10000 allein in der BRD belaufen sollte und schließlich auf 4 000 in Rüsselsheim und 4000 in Bochum beziffert wurde. Am 14. Oktober nahm dann die Frühschicht geschlossen an der Vertrauensleute-Infostunde teil, um sich über diese Maßnahmen zu informieren. Der BR konnte eine weitergehende Aktion verhindern und war sogar noch stolz darauf, die am kommenden Wochenende anfallenden Überstunden nur zur Hälfte zu genehmigen. Das war seine Antwort auf die angedrohten Maßnahmen, eben Co-Manager durch und durch. Die Mittagsschicht hatte dann aber schon die nächste verschärfte Information über die Umsetzung durch betriebsbedingte Kündigungen und die Androhung der Standortschließung in Bochum. Damit war die »Bombe« geplatzt. Die »Informationsveranstaltung« hatte begonnen.

Der Begriff »Streik« wurde gewerkschaftsoffiziell während der folgenden Tage vermieden. Dies hatte sicher rechtliche Gründe, da die Voraussetzungen für einen Streik unmittelbar nicht gegeben waren. Doch ein Streik, für den die IGM andere Wege hätte einschlagen müssen, war auch politisch nicht gewollt. Das zeigen die u.a. im Labournet dokumentierten Äußerungen etwa von Jürgen Peters oder Berthold Huber, dem Gesamtbetriebsratsvorsitzenden Klaus Franz oder Eurem Ortsbevollmächtigten Ludger Hinse, die Verhandlungen seien durch die Aktionen der Belegschaft gefährdet, bis hin zur Forderung, die Belegschaft solle die Arbeit wieder aufnehmen. Eine Arbeitsniederlegung ohne gewerkschaftliche Legitimierung, wie es hier der Fall ist, würde die Rede von einem »wilden Streik« rechtfertigen. Einen solchen Streik ohne gewerkschaftliche Rückendeckung zu organisieren, ist mit Sicherheit nicht gegen den Willen einer Belegschaftsmehrheit möglich. Wie wurde die Willensbildung dazu in der Belegschaft organisiert? Wie gelang es, die organisatorischen und logistischen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Produktion ruhte? Ruhte diese vollständig, oder gab es Beschäftigte, die nicht mitstreiken wollten? Wie seid Ihr damit umgegangen?

Was »die Gewerkschaft« an Gegenwehr leistet, ist ja hinlänglich bekannt. Was sie statt dessen macht, ist, sich daran zu beteiligen, die Wettbewerbs- und Konkurrenzfähigkeit der heimischen Wirtschaft voran zu treiben. D.h. die Vereinsmitglieder »friedlich« und »sozialverträglich« in den Verzicht zu befördern – oder noch weiter nach unten. Ihre willigen Helfer dabei sitzen in den Betriebsräten, einmal abgesehen von einer ganzen Latte gesellschaftlicher Erfüllungsgehilfen.

Aber, und das beschreibt eine kleine emanzipatorische Rückeroberung: Hier hat sich die Belegschaft selbst organisiert. Von Donnerstag an stand fest, die Belegschaft handelt und entscheidet gemeinsam jeden Schritt und jede Aktion. Ohne großartige Abstimmungen wurden die Tore besetzt, um zu verhindern, dass LKWs mit Ladung das Werk verließen – leer konnten sie fahren. Im BR-Büro lagen Listen aus, in die sich Mensch mit Vorschlägen eintragen konnte. Versorgungstechnisch bekamen wir schnell das Notwendige hin. In regelmäßigen Inforunden wurde der aktuelle Stand der Dinge bekannt gegeben und diskutiert. Das Mikro war offen für Jede und Jeden – mit einer Einschränkung allerdings: keine parteipolitischen Agitationen. Das und mehr klappte erstaunlicherweise sehr gut und stellte sich nicht als besonders schwierig heraus, mal abgesehen von wenig bis ganz wenig Schlaf, den der ein oder andere in dieser Zeit hatte. Die Belegschaft war sicherlich keine homogene Gemeinschaft, aber eine solidarische; auch mit vielen, vielen unterschiedlichen Meinungen und Vorstellungen. Ich denke, dass viele den Eindruck hatten, dieses Ding kommt von uns und nicht von oben. Das war unsere Stärke und Kraft. Eben Selbstorganisierung – und das trotz IGM und Co-Managern.

Hierzu noch eine Nachfrage: Die IGM-Vorsitzenden Peters und Huber, Klaus Franz als GBR-Vorsitzender oder BR-Vorsitzende aus anderen Werken haben sich nach unseren Informationen nicht in Bochum sehen lassen. Hat die Belegschaft die IGM oder ihre Betriebsräte nicht vermisst – oder gab es Kritik an diesem Verhalten?

Sie haben sich nicht bei uns blicken lassen. Sie haben sich ja lauthals in der Öffentlichkeit gegen diese Form der Auseinandersetzung zu Wort gemeldet. Das macht eben auch die Enttäuschung vieler Menschen hier aus: »Wir werden von den eigenen Leuten verraten«. Wieder einmal keine Solidarität in der Aktion aus den anderen Werken. Schon 2000 mussten wir das alleine machen, und jetzt wieder. Die alte gewerkschaftliche Vorstellung »Gemeinsam sind wir stark« wird von diesen Zeitgenossen zunichte gemacht. Aber was soll Mensch schon von diesen Hubers und Franzens erwarten? Es war ja auch unser Ding!

In der »Welt« wurde die These lanciert, GM plane die Entlassung von »Rädelsführern«. Gab es Angst vor Repressalien in der Belegschaft? Welche Überlegungen gab es, Leute zu schützen? Habt Ihr dafür Rückhalt bei der IGM und im BR erwartet? Oder gab es schlicht die Hoffnung, dass in irgendwann folgenden Verhandlungen dann ein Maßregelungsverzicht vereinbart würde?

Während der »Infotage« spielte das eine untergeordnete Rolle. Wir waren einig und stark. Es gab einige Versuche, Druck zu machen und Einfluss auf Einzelne zu nehmen. Einige Menschen arbeiteten dann auch ganz gehorsam. Wir versuchten zwar, sie von der Notwendigkeit der »Infostunden« zu überzeugen, aber vergeblich. Mensch ließ sie fortan gewähren – »Infostunden-Brecher« galten als Nebensache. Ein genereller Maßregelungsverzicht der Geschäftsleitung war allerdings nicht durchsetzbar. Die Geschäftsleitung ergriff während der »Infotage« aber auch keine Maßnahmen in diese Richtung.

Gab es nicht im Anschluss Fälle von Kündigung?

Das ist richtig. Nach Beendigung bzw. Unterbrechung der »Infotage« wurde zwei Menschen wegen »Nötigung« von »Arbeitswilligen« eine Kündigung ausgesprochen. Die Initiative ging, soweit ich erfahren habe, jedoch nicht von der Geschäftsleitung aus, sondern von den »genötigten« Menschen, die Beschwerde bei der Personalabteilung einreichten – »Der größte Lump im ganzen Land ist und bleibt der Denunziant«.
Einem weiteren Menschen sind dann drei Abmahnungen ausgesprochen worden. Zwei, die auf ein angebliches Fehlverhalten aus der Zeit vor der Auseinandersetzung datieren. Eine aus der Zeit danach.
Derzeit kursiert eine Unterschriftenliste mit der Forderung, diese Maßregelungen zurück zu nehmen. Ob die Verhandlungsführung diese zum Gegenstand der Verhandlungen macht, ist dann wiederum ungewiss. Am Tisch sitzen bekanntlich Co-Manager, denen so etwas eher peinlich ist, als das als Druckmittel einzusetzen.

Eine weitere Frage zum Thema gewerkschaftliche Unterstützung: Die Tatsache, dass es sich nicht um einen gewerkschaftlich legitimierten Streik handelte, hat ja auch dazu geführt, dass es kein Streikgeld gab, Lohnabzüge von GM sich also direkt bei den Leuten bemerkbar gemacht haben. Wie ist die Belegschaft damit umgegangen? Gab es selbstorganisierte Streikkassen?

Den meisten Menschen war schon bewusst, dass es für die Zeit keine »Kohle« gibt. Die anderen haben das dann auch schnell begriffen. Viele aufrechte IGMetaller erhofften sich jedoch die eine oder andere Form der Unterstützung durch die IGM vor Ort. Brötchen, Würstchen, Kaffe, Beschallungsanlage, Flugblätter drucken, Zelte und Heizung etc. Eben das, was Mensch in selbstorganisierten Zeiten so alles an Mitteln braucht und selber nicht aufbringen kann.
Dazu die Lachnummer der örtlichen IGM, eine Spende: Kaffee, verbilligt in einem befreundeten Laden zu kaufen! An dieser Stelle noch mal schönen Dank an Hinse, den Ortsbevollmächtigten in Bochum.

Aber, jetzt die gute Erfahrung: Aus Bochum und überhaupt kamen viele, viele Spenden in geldlicher und dinglicher Form. Für das leibliche Wohl war mehr als gesorgt. Für die finanzielle Unterstützung richteten die Menschen ein Konto ein. Diese Solidarität lässt hoffen, auch eine längere Auseinandersetzung zu bestehen. Keiner konnte ja einschätzen, wie lange das dauern wird. Gemessen an den angedrohten Maßnahmen diskutierten wir über eine lange – bis mehrere Wochen – andauernde Auseinandersetzung.

Im Laufe des Streiks wurde klar, dass die Belegschaften anderer Werke – national und international – sich den Bochumern nicht anschließen würden. Gab es von Bochum aus – abgesehen von dem von der IGM organisierten »Europaweiten Aktionstag« – Versuche, Kontakte zu anderen Belegschaften herzustellen?

Nachdem unsere Aktion ziemlich schnell publik geworden war, gingen am laufenden Band Soli-Erklärungen ein. Aus ganz Europa und teilweise aus anderen Teilen der Welt bekamen wir zumindest moralische Unterstützung. Zum Aktionstag kamen dann auch Kolleginnen und Kollegen von Porsche und Daimler nach Bochum. Allen Erklärungen war eins gemeinsam: »Macht weiter!« Eine Schmierenkomödie lieferte die IGM mit ihrer Vorstellung des Tages ab: Besonnenheit, Ruhe bewaren, an die Arbeit gehen, den Verhandlungsweg nicht über Gebühr stören etc. Besser kann sich diese »Krampforganisation« nicht selber entlarven.

Die GoG, der Du angehörst, steht nicht nur mit ihrem Namen, sondern auch in ihren Publikationen für einen programmatischen Anspruch: internationale Kooperation, Überwindung von betrieblichem und nationalem Standortdenken sind für Euch wesentliche Aspekte auch betrieblicher Arbeit. Inwieweit ist es Euch gelungen, diesem Anspruch während des Streiks gerecht zu werden?

Das Entscheidende in der Auseinandersetzung war ja gerade, dass es keine spezifischen Rollenzuteilungen an Einzelne oder Gruppierungen gab. Die Forderung war eindeutig formuliert: keine betriebsbedingten Kündigungen, keine betriebsbedingten Änderungskündigungen, keine Abspaltung bzw. Zerschlagung der Werke I, II, III und Einhaltung des Europäischen Rahmenvertrages. Der regelt, um es kurz zu machen, bezüglich möglicher Abspaltungen von Unternehmensteilen die Bildung von Joint Ventures nach dem Prinzip »Ein Betrieb – Eine Belegschaft«, d.h. eine Interessenvertretung, also ein BR und ein Vertrauenskörper, gleicher Lohn, gleiche Sozialleistungen und gleiche Betriebsrenten.

Diesen Vertrag hatten die Menschen im Jahr 2000 erkämpft. Fallstricke in diesem wie auch in allen anderen ausgehandelten Verträgen, also der Hinweis, »solange sich die wirtschaftliche Lage nicht ändert« etc., haben allerdings auch zur Schließung des Motorenbaus in Werk II geführt.
Trotzdem – nach dem Motto: »hätten wir nicht gekämpft« – ist dies in unseren Köpfen noch immer als Erfolg verbucht und stellt einen Gegenpol zur Ohnmacht dar.

Da der »Europäische Rahmenvertrag« für alle europäischen Werke gilt, sollte mindestens der Zusammenhang zwischen Kampf und Ergebnis die Menschen in den anderen Werken ermutigen, gleiches zu tun.

Wie und über wen hat die Belegschaft mitbekommen, was in anderen Werken lief?

Im Wesentlichen durch die Medien. Teilweise auch durch den BR-Vorsitzenden und seinen Stellvertreter, die einige Male zwischen Rüsselsheim und Bochum pendelten.

Viele Linke haben nach der Abstimmung am 20. Oktober kritisiert, dass die zur Abstimmung vorgelegte Frage manipulativ formuliert worden sei: Die Weiterführung der Verhandlungen war mit der Wiederaufnahme der Arbeit verkoppelt. Wer das eine wollte, musste das andere automatisch auch unterschreiben. Implizit steckt in der Manipulationsthese die Behauptung, die Belegschaft wäre zu mehr als einem Drittel bereit gewesen, weiter zu streiken. Wie schätzt Du die Streikbereitschaft jenseits dieser Formulierungskünste, die mit Zwei-Drittel-Mehrheit der abgegebenen Stimmen zu einer Beendigung führten, ein?

Die gemeinsame Abstimmung wurde von uns beschlossen.
Mit wenigen Ausnahmen ging am Dienstagabend aus Werk II und III per Delegation das Votum für die Weiterführung der »Informationsveranstaltung« nach Werk I, wo dann ebenfalls diskutiert wurde. Wie das Votum »für oder gegen« dort ausfiel, weiß ich nicht.
Klar war aber am Dienstagabend, dass es eine gemeinschaftliche Abstimmung aller Werke sein würde. Klar war aber auch, dass es nur zwei Redner geben sollte: Ludger Hinse von der IGM-Ortsverwaltung und Dietmar Hahn als Bochumer BR-Vorsitzenden. Bekannt war, dass es kein Saal-Mikro und keine Aussprache geben würde, sondern nur den Stimmzettel und die Wahl. All das wussten wir Dienstagabend schon – nur nicht, wie letztendlich der Stimmzettel aussieht.
Der Mittwoch entwickelte sich dann allerdings zu einer weiteren Schmierenkomödie der IGM, nämlich im Hinblick auf diesen ominösen Wahlzettel. Aber: Auch ohne oder mit einem korrekt formulierten Stimmzettel (»Für die Fortsetzung der »Informationsveranstaltung«: »ja« oder »nein«) sähe das Ergebnis nicht anders aus. Wir hatten diese Möglichkeit am Dienstagabend diskutiert und waren zu dem Schluss gekommen: Wir, die Belegschaft, tragen auch ein »Nein« mit.
Trotzdem ist das bekannte Ergebnis aber keine Niederlage. Die Betriebsräte, die diesen plumpen Versuch der Wahlmanipulation ihren oder Frankfurter (IGM) Zentrale-Hirnen entspringen ließen, haben sich verkalkuliert.

Die Menschen sind eben nicht immer so, wie Mensch sie gerne hätte. Mangelndes Bewusstsein ist keine Niederlage, sondern Anknüpfungspunkt für den weiteren politischen Kampf. Mangelndes Bewusstsein hat seine Ursachen vielleicht auch in den Fehlern der »Linken«, der »linken Co-Manager«. In sieben Tagen kann Mensch die Entpolitisierung durch die politische Klasse, die Kirchen, die Gewerkschaften etc. nicht aufbrechen. Bewusstsein kann Mensch eben nicht verordnen, diktieren oder befehlen. Es entwickelt sich durch Verstehen und Lernen in der Auseinandersetzung, auch unter dem Gesichtspunkt einer möglichen wietergehenden Perspektive. Die Kritik der bürgerlichen Ökonomie ist das eine und wichtig, die Entwicklung einer wenigstens denkbaren postkapitalistischen Vision das Andere und dünn. Und: der Streik in Bochum – mit Ansätzen einer Betriebsbesetzung – war zunächst ein Abwehrkampf, und keiner, der das System angreift.

Im Übrigen ist damit die »Informationsveranstaltung« erst mal nur unterbrochen und der Konflikt ja noch lange nicht zu Ende.

Ohn(e)macht ist der Zustand davor.
Gegenwehr ist das notwendige Mittel gegen die Gegner der Selbstorganisierung. Das Danach ist leider noch entfernte Vision.

* Manfred Strobel ist langjähriges Mitglied der Autokoordination, einem Zusammenschluss kritischer Automobilarbeiter, und der seit 1972 bestehenden GoG (vormals »Gruppe oppositioneller Gewerkschafter«, nach Auseinandersetzungen mit der IGM zwischenzeitlich »Standorte«-Gruppe, jetzt »Gegenwehr ohne Grenzen«), und – wegen Kandidatur auf einer ›gewerkschaftsfeindlichen‹ Liste zur BR-Wahl – seit 1984 aus der IGM ausgeschlossen.


Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 10-11/04


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