aus Express Nr. 10/98 Seite 7

Ein Anfang vom Ende der Auspreßbarkeit?

Zu den Hintergründen der jüngsten Arbeitsniederlegungen nicht nur bei Opel

Von Mag Wompel

 

Am 7. Oktober haben bei Opel Bochum, Werk 1, ca. 1.800 KollegInnen die Arbeit für ca. 40 Minuten niedergelegt. Über Vertrauensleute wurde der Werksleitung ein Ultimatum überbracht, bis zum Freitag, dem 9. Oktober, 11.00 Uhr, 300 Neueinstellungen zuzusagen. Die Äußerung des Opel-Personalchefs, es sei genug Personal an Bord und niemand sei überlastet, wurde mit großem Gelächter quittiert. Gleiche Reaktion rief seine Erklärung hervor, der Vergleich zwischen den Werken (Benchmarking) zwinge "uns in Bochum", die Produktivität noch weiter zu steigern, die Qualität (gemeint ist nur die der Produkte) habe aber nach wie vor oberste Priorität.

Der Grund für die spontane Aktion ist ein seit längerer Zeit wachsender Unmut über die drastische Personalsituation, nicht nur in diesem Teil des Werks Bochum. Selbst mit den aktuell 450 befristeten KollegInnen – die Verträge der meisten von ihnen sind kurz vor den Protesten, allerdings für längstens 12 Monate, verlängert worden – ist die Wahrnehmung von Freischichten und Pausen fast unmöglich. So bekommen die KollegInnen an der Linie (Fließband) selbst für die Pinkelpause kaum eine Ablösung, weil die hierfür vorgesehenen Gruppensprecher voll mitarbeiten müssen. Auch die Staplerfahrer stehen so unter Druck, daß sie permanent gegen die Arbeitsvorschriften verstoßen (z.B. schneller fahren als erlaubt). Dies sind nur die drastischen Beispiele. Geklagt wird auch über den grundsätzlichen Druck durch Vorgesetzte zur Geschwindigkeitsüberschreitung, der bis zur persönlichen Anmache reiche. Die gleichzeitig vom Management geforderte Qualität (angeblich wichtiger als die Stückzahl) sei so ohnehin nicht möglich.

Entfristungen stehen für das Management nicht auf dem Plan. Dies liegt wohl auch daran, daß die KollegInnen mit der Aussicht auf Vertragsverlängerung besser zu "motivieren" sind. So ist kürzlich in Bochum ein befristet eingestellter Kollege erst auf massiven Druck eines Vertrauensmannes und gegen den Meister zum Sanitäter geschickt worden, nachdem er mit 40 Grad Fieber zur Arbeit erschienen war. Er ist kein Einzelfall.

Diese Situation ist keinesfalls neu, auch wenn durch den neuen Astra die Produktion seit Jahresanfang nochmals gesteigert wurde. Der Dauerstreß ist auch das Ergebnis einer seit Jahren kontinuierlich wachsenden Arbeitsverdichtung durch "Standortsicherungsverträge" und Betriebsvereinbarungen: Personalabbau, Pausenkürzungen, Arbeitszeitflexibilisierung, Überstunden sowie Druck auf Kranke. Erzeugt wird dieser Druck, trotz stark gestiegener Belastungen krank zur Arbeit zu erscheinen, durch die kollektive Strafe eines reduzierten Weihnachtsgeldes bei einem durchschnittlichen Fehlstand von über 6 Prozent in Verbindung mit einem verringerten bis aufgehobenen Personalausgleich in den Arbeitsgruppen.

Dieser Druck scheint nach Jahren von Anwesenheitsrekorden (die keinesfalls bedeuten, daß die Belegschaft gesund ist!) langsam ebenso seine Wirkung zu verfehlen wie die drohende Arbeitslosigkeit. In manchen der Bereiche, von denen die Unruhen bei Opel ausgingen, hat die Krankenquote aktuell bis zu 10 Prozent erreicht und den Dauerstreß, unter dem die KollegInnen stehen, zusätzlich erhöht.

Es ist noch schwer zuassen jedoch die Interpretation zu, daß dies erste Anzeichen eines Endes der Auspreßbarkei sagen, ob die Aktion der Belegschaft durch einen langfristigen Erfolg gekrönt wurde. Zunächst wurde jedoch die Bandgeschwindigkeit um 2,5 Prozent (also ca. 2 Sekunden je Auto) abgesenkt. Für die KollegInnen bedeuet es sicherlich eine sofortige Entlastung (und damit einen Erfolg), daß die Geschwindigkeit an den Bändern etwas gesenkt wurde, denn dadurch wird ihnen ein gewisser Puffer zwischen zwei Tätigkeiten gelassen – sofern keine Zwischenfälle und Störungen auftreten.

Allerdings ist diese Maßnahme auf drei Wochen befristet. Innerhalb dieser Frist soll sich eine Arbeitsgruppe aus Mitgliedern des Betriebsrats und Vertretern der Unternehmensleitung auf neue Zeitwerte einigen – ein klassisches Vertagungsmittel in der Hoffnung, daß später "die Luft raus ist".

Darüberhinaus werden 50 – natürlich befristete – Neueinstellungen ab sofort vorgenommen und die Verträge von 35 weiteren Kolleginen und Kollegen, deren Verträge im Oktober ausgelaufen wären, für weitere sechs Monate verlängert. Doch noch hat sich die angespannte Situation nicht verändert, und auch die einzustellende Verstärkung wird erst noch angelernt werden müssen.

Entsprechend abwartend verhält sich die Belegschaft. Dem Vernehmen nach gibt es zudem erste Beschwerden aus der Belegschaft, daß die Zahl der erkämpften Einstellungen zu gering sei und daß die Belegschaft nicht durch den Betriebsrat einbezogen wurde – denn die Entscheidung, das Angebot der Werksleitung zu akzeptieren, ist ohne Rücksprache getroffen worden.

Dennoch kann die Aktion als ein erster Erfolg gewertet werden und dazu womöglich als ein Zeichen, daß die Arbeitsbelastung in den Fabriken nicht mehr weiter ohne Widerstände gesteigert werden kann, zumal es nicht nur in Bochum brodelt.

Auch im Opel-Werk Eisenach, das die europäische Hauptwaffe im Wettbewerb der Belegschaften darstellen soll (Werksboß Tom LaSorda hatte schon am 7.6.94 auf der außerordentlichen Belegschaftsversammlung gesagt: "Fast jedes andere Werk und deren Betriebsräte kämpfen gegen Eisenach..."), wachsen Unzufriedenheit und Unruhe. Gab es bereits 1994 erste Klagen aus der Belegschaft über das Arbeitstempo, kam es in den Nachtschichten am 10. und 11.10.1998 zu den ersten Arbeitsniederlegungen in der Geschichte dieses Werkes.

Den auslösenden berühmten "Tropfen" stellten – in Bochum wie in Eisenach – die zum weiteren Rationalisierungskonzept gehörenden Pläne der Werksleitung, Arbeitsplätze, diesmal in den Logistikabteilungen, auszulagern. Angestrebt ist eine kostenoptimale Fabrikorganisation nach dem Smart-Vorbild in Lothringen, wo von allen mit der Produktion des Fahrzeugs Beschäftigten nur noch ca. ein Drittel der Herstellerfirma angehört und einem entsprechenden Tarif unterliegt. Ob diese Auslagerung in beiden Fällen letztendlich an eigene GmbHs oder an andere "Billiganbieter" erfolgt – für Opel versprechen solche Pläne eine weitere Reduktion der Personalkosten, die ohnehin nur noch maximal ein Fünftel der Kostenstruktur ausmachen, und eine noch größere Flexibilität. Für die Belegschaften ist es dagegen ein weiterer Abbau von Arbeitsplätzen, an denen gerade schwerbehinderte und sogenannte "leistungsgewandelte" Beschäftigte arbeiten können, also eine erneute drastische Verschlechterung der Arbeitsbedingungen.

Diese Situation ist auch nicht auf Opel beschränkt. Ähnliches wird z.B. von Mercedes Bremen berichtet. Im Januar 1998 gab es dort erste Proteste, und die Bereitschaft zu Überstunden ging rapide zurück. Auslöser waren auch hier hohe Anteile und kurzfristige Wechsel von befristeten Arbeitsverhältnissen, während gleichzeitig Bildungsurlaub, Tarifurlaub und Sonderurlaub kurzerhand gestrichen oder verschoben wurden und sich die Überstunden ansammelten, ohne abgefeiert werden zu können. Die Forderung nach mehr Personal war denn auch die wichtigste in spontanen Aktionen am 26. Mai dieses Jahres in Bremen.

Dies sind nur drei Beispiele, und ihnen ist gemeinsam, daß Protestaktionen bereits bekannt geworden sind, weil sie in Arbeitsniederlegungen mündeten. Berichte über eine ähnliche Belastungssituation nicht nur in der Automobilindustrie lt der Belegschaften durch das "Management by Stress" der Lean Production sein könnten. Doch selbst damit hat das Management längst gerechnet. So mußmaßt Dr. Roland Springer, der "Papst" der Arbeitsorganisation bei Mercedes: "Möglich ist, daß die steigenden Leistungsanforderungen in einzelnen Unternehmen, ähnlich wie in den 70er Jahren, zu Arbeitskonflikten führen werden. Es ist daher nicht auszuschließen, daß der Automobilindustrie in einigen Jahren eine neue Humanisierungswelle ins Haus steht."* Es ist zu hoffen, daß sich diese Erwartung erfüllt.

Anmerkung

*Springer, Roland: Arbeitsorganisation in der Fahrzeugmontage, in: Frieling, E./Martin, H./ Tikal, F. (Hg.): Neue Ansätze für innvovative Produktionsprozesse, 1. Kasseler Kolloqium 1997, Kassel und Zürich, S. 427-434, 433.