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Updated: 18.12.2012 15:51
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GM zieht die Zeitschraube an

Artikel von Wolfgang Schaumberg* über einen neuen Ansatz zur Leistungsbemessung in der Autoindustrie. Vorabdruck aus dem "express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit" Oktober 2008 . Wir danken dem Verlag und dem Autor

Die Frauen und Männer an den Fließbändern und Akkordarbeitsplätzen überall in der Welt wissen das: Es ist zwar ein Unterschied, ob ich in einer Taktzeit von 58 Sekunden oder »nur« alle 1,5 Minuten die gleichen Arbeitsbewegungen wiederholen muss, und wichtig ist auch die Art dieser auszuführenden Bewegungen. Noch wichtiger allerdings ist die Frage, wie viele Arbeitsbewegungen ich innerhalb der Taktzeit schaffen muss. Die Zeit für die einzelnen Arbeitsbewegungen ist vorbestimmt, und zwar auf der Basis von Time Measurement Units (TMU). Ein TMU sind 21 Hunderttausendstel Stunden, eine Sekunde entspricht also umgerechnet 27,8 TMU, eine Minute 1667 TMU. Für »Hinlangen zum Kippschalter« gibt es z.B. 21 TMU, für »Greifen einfach« 3 TMU, für »Loslassen« 2 TMU. So sind auch für »Bücken«, für »1 Schritt Gehen«, für »In den Blick nehmen« usw. die TMU-Sekundenbruchteile genau festgelegt.[1] Dieses anfangs rätselhaft klingende System vorbestimmter Zeiten nennt sich MTM (Methods-Time Measurement) bzw. Methoden-Zeit-Messung und wird im Folgenden ausführlicher erhellt. Doch zunächst zum aktuellen Anlass, sich mit den wenig diskutierten Grundlagen heutiger Arbeitszeitplanung und damit auch Personalbemessung zu befassen.

General Motors hat seit 1993 den Belegschaften einen Verzichtsvertrag nach dem andern abgepresst. Reduktion der Lohnzuwächse durch Anrechnung auf übertarifliche Lohnbestandteile, Kürzung der Gruppengesprächszeiten, massiver Job-Abbau durch Auslagerungen und Fremdvergabe, Einsatz von Leiharbeitern usw. - alles zwecks Sicherung und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit im globalen Konkurrenzkrieg, sprich: des Profits.

Aktuell versucht GM einen neuartigen Angriff: In den europäischen Autowerken soll die Arbeitshetze durch Kürzung der MTM-Vorgabezeiten um knapp 20 Prozent mit Hilfe einer neuen, »VPM« genannten Methode, massiv erhöht werden.

Von Opel-Eisenach liegt den Betriebsräten ein Dokument mit dem Titel »GM-Eisenach: VPM-Workshop, 06.05.2008« vor. Hier heißt es am Schluss: »Vergleich VPM-Analysetool vs. MTM-Analysetool: VPM: 1 Minute = 2000 TMU. MTM: 1 Minute = 1667 TMU. Fazit: VPM Analysetool ist ein neuer Benchmark bzw. eine neue Messgröße für Handlungsaktivitäten im Vergleich zu MTM.«

Das bedeutet also: Können die Opel-Manager den Arbeiterinnen und Arbeitern auf der Basis von MTM bisher pro Minute Arbeitsbewegungen zumessen, die zusammen 1667 TMU ergeben, so behaupten sie nach der neuen Methode, in Zukunft pro Minute noch mehr Arbeitsbewegungen abfordern zu können, die dann zusammen 2000 TMU ergeben. Das entspricht knapp 20 Prozent mehr Arbeitsleistung! Gelingt GM die Durchsetzung dieses »neuen Benchmarks«, wird das weltweit Folgen für die Beschäftigten nicht nur bei GM und in der Autoindustrie haben.

Das belegt ein Blick auf die aktuelle Homepage der Deutschen MTM-Vereinigung e.V.:[2]

»MTM Weltweiter Standard für Effizienz

Mit MTM lassen sich Arbeitssysteme umfassend optimieren. Das macht MTM weltweit zum Standard für Effizienz.

In mehr als 20 Ländern setzen Unternehmen aus fast allen Wirtschaftsbereichen Methods-Time Measurement (MTM) zur Analyse, Gestaltung und Optimierung ihrer Geschäftsprozesse ein. Damit ist MTM das erfolgreichste Zeitmanagement- und Arbeitsgestaltungssystem der Welt. Es sichert den Unternehmen an allen Produktionsstandorten eine einheitliche Prozesssprache für gleichbleibend hohe Standards in der Konstruktion, Herstellung und Montage - von der Massenproduktion bis zur komplexen Einzel- und Kleinserienfertigung.

Die zur Verrichtung einer Arbeit benötigte Zeit hängt von der gewählten Methode ab. Dies zum ersten Mal systematisch dargestellt zu haben, ist das Verdienst der MTM-Begründer: Bei der Analyse menschlicher Bewegungsabläufe entschlüsselten sie das gesamte Inventar an Bewegungselementen, aus denen manuelle Tätigkeiten zusammengesetzt sind. Für jedes dieser Bewegungselemente wurde ein wissenschaftlich gesicherter und genormter Zeitwert ermittelt. Durch kontinuierliche fortgeführte Untersuchungen und eine Vielzahl von Anwendungen verfügt MTM heute über den weltgrößten Bestand an entsprechenden Prozessdaten. Mit Hilfe dieses Materials lassen sich alle manuellen Arbeitsvorgänge objektiv beschreiben und hinsichtlich ihrer Zeit- und Produktivitätseffizienz optimieren.

Mit MTM lassen sich Gestaltungspotenziale entlang der gesamten Wertschöpfungskette erkennen und realisieren. Deshalb wird MTM in Industrie- und Logistikunternehmen ebenso angewendet wie in Reparaturbetrieben und administrativen Bereichen. MTM ist das erfolgreichste Zeitmanagement- und Arbeitsgestaltungssystem der Welt.«

Ein »großer Wurf«, aber weder »wissenschaftlich« noch »objektiv«

Die Kritik solcher Systeme vorbestimmter Zeiten ist aus dem kapitalismuskritischen Diskurs weitgehend verschwunden. Dass sich die MTM-Anwendung weiterhin ausbreitet, wird kaum wahrgenommen.[3] Zum genaueren Verständnis von MTM, erst recht für den Versuch, diese Zeiten noch zu kürzen, ist ein Blick in die Entstehungsgeschichte unabdingbar.

MTM-Zeitwerte sind weder »wissenschaftlich gesichert«, noch »sind alle manuellen Arbeitsvorgänge objektiv zu beschreiben«. Ein erster Hinweis wird von den Arbeitswissenschaftlern der MTM-Vereinigung selber gegeben. Im von ihr herausgegebenen und von Rainer Bokranz und Kurt Landau verfassten »MTM-Handbuch« heißt es:

»Seit Menschen in der Arbeitswelt mit Zeitstandards konfrontiert wurden, stellte sich die Frage nach der Angemessenheit der damit verbundenen Leistungsanforderungen. Diese Frage lässt sich mit Hilfe wissenschaftlich begründeter Methoden nicht beantworten. Um das Problem der >Leistungsniveausetzung< zu lösen, bedarf es sozialer Konsense, d.h. Übereinkünfte, wie man das >Leistungsanforderungsniveau< von Prozessbausteinen, Vorgabezeiten oder Zeitstandards, die so genannte Bezugsleistung, festlegen will.«[4]

Dazu heißt es genauer in der »Anmerkung 10: Menschliche Leistung ist weder exakt zu beschreiben, noch zu messen. Alle Diskussionen um die menschliche Leistung erfassen deshalb nur als relevant erachtete Teilaspekte dieses Phänomens. Auch Teilaspekte, wie in Mengeneinheiten pro Zeiteinheit (z.B. Anzahl montierter Gutstücke pro Stunde) ausgedrückte Arbeitsergebnisse, sind arbeitswissenschaftlich nicht zu begründen.«[5]

Trotzdem >Wissenschaftlichkeit< und >Objektivität< der Vorgabezeiten zu behaupten, stellt sich bei genauerem Hinblick als Bestandteil der fortwährenden Verschleierung des eigentlichen Zwecks solcher Systeme heraus: maximale Mehrwertauspressung. Das wird sehr gut sichtbar beim Blick auf die Entstehungsgeschichte von MTM, verständlich dargestellt im »MTM-Handbuch« [6]

»Ein Auslöser für die Entwicklung des elementaren MTM-Bausteinsystems MTM-1 (früher: MTM-Grundverfahren) waren durch den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg verursachte besondere Umstände.« Besonders in der Rüstungsindustrie sahen sich die Unternehmen demnach unter Druck, Konflikte mit den Beschäftigten auszuschalten, die immer wieder gegen die angewiesenen, von Hand gestoppten Zeiten für ihre Arbeitsgänge und die damit festgelegten Akkordlöhne protestierten. Einen Ausweg versprachen die in der amerikanischen Industrie bereits begonnenen Vorhaben zur Entwicklung von Systemen vorbestimmter Zeiten. Eine Gruppe von Entwicklern »formulierte acht elementare Bewegungen des Hand-Arm-Systems sowie zwei Blickfunktionen, später auch neun Körper-, Bein- und Fußbewegungen ..., insgesamt 19 Grundbewegungen. Die als MTM-Normzeitwerte bezeichneten Sollzeiten für die Ausführung von Grundbewegungen wurden ermittelt, indem Bewegungsabläufe mit einer Aufnahmegeschwindigkeit von 16 Bildern pro Sekunde gefilmt und der Zeitbedarf pro Bewegung durch Auszählen der ihr zugeordneten Bilder bestimmt wurde. Die den Filmaufnahmen zu Grunde liegenden Leistungsstreuungen wurden mit Hilfe eines Nivellierungsverfahrens auf ein einheitliches Leistungsniveau gebracht, also atypisch hohe und geringe Bewegungswirksamkeiten und -intensitäten ausgeglichen. Für jede Grundbewegung wurden Datenkarten angelegt, auf denen die relevanten Rahmenbedingungen erfasst wurden. (...) Die durch Auszählen gefilmter Bildersequenzen erfassten Zeiten wurden mit Hilfe von Regressions- und Varianzanalysen ausgewertet und in Abhängigkeit von den als signifikant ermittelten Zeiteinflussgrößen tabelliert. Die Zeiteinheit der in der MTM-Normzeitwertekarte enthaltenen Normzeitwerte wird als TMU (Time Measurement Unit) bezeichnet. 1 TMU entspricht 1/100 000 Stunde bzw. 0,0006 Minuten. (...) Die MTM-Bezugsleistung wird als MTM-Normleistung bezeichnet. Sie ... wird ... beschrieben als die Leistung eines durchschnittlich geübten Menschen, der diese Leistung ohne zunehmende Arbeitsermüdung auf Dauer erbringen kann.« (Hervorhebungen i.O.)

Die Definition der »Normalleistung« durch die MTM-Entwickler wurde auf einer internationalen Gewerkschaftskonferenz 1959 in Dortmund ausführlicher so wiedergegeben: »Bei der MTM-Zeit wird behauptet, dass es sich um die von einem Arbeiter benötigte Zeit handelt, der ... mit einer Normalleistung arbeitet, d.h. ein Arbeiter, der: - weder außergewöhnlich begabt, noch besonders untüchtig ist; - für die von ihm geleistete Arbeit qualifiziert ist; - ohne Anreiz, aber auch ohne bösen Willen arbeitet«. [7] Widerstand von Beschäftigten mit »bösem Willen« wurde auch vom Refa-Verband [8] deutlich problematisiert: In der Refa-»Methodenlehre« 1975 taucht im Kapitel über die »Führungstechnik« bei den am Textrand hervorgehobenen Stichwörtern die Kategorie »Störenfriede« auf. Im Begleittext heißt es: »Daneben gibt es immer auch Personen, die nicht bereit sind, die Forderungen zu erfüllen, die hinsichtlich der Leistung und des Verhaltens gestellt werden. Sie stören den Betriebsablauf und hindern ihre Kollegen am Erbringen der gewollten Leistung. Ein Vorgesetzter hat die Pflicht, den Betrieb durch geeignete Ordnungsmaßnahmen vor den Schäden zu schützen, die durch solche Personen entstehen.« [9]

Die Einführung von MTM unter dem Label von >Wissenschaftlichkeit< wurde als gute >Ordnungsmaßnahme< angesehen, nicht nur die Mehrwertauspressung zu verschärfen, sondern auch Widerstand gegen die Ausbeutung zu unterdrücken. Im »MTM-Handbuch« 2006 wird dieser Aspekt nicht spürbar, kann man sich jetzt doch auf eine >Normalität< beziehen, in der solche Verfahren keine gesellschaftliche Kritik mehr auslösen. Begeistert urteilen die Verfasser des »MTM-Handbuchs«: »Dass die Entwicklung von MTM ein großer Wurf war, ist daran zu erkennen, dass der Kern des MTM-Prozessbausteinsystems, MTM-1, inzwischen über 50 Jahre lang nahezu unverändert bleiben konnte.« (S. 510)

Die MTM-Anwendung hat in der Praxis sicherlich zu sehr genauer Beobachtung der Arbeitsabläufe geführt und dabei viele Verbesserungen erzielt, biomechanische Erkenntnisse eingearbeitet, die Ergonomie auch im positiven Sinne vorangetrieben, was bei den Verfassern des »MTM-Handbuches« durchgängig betont wird. Doch das entscheidende Ziel von Verbesserungen musste in den praktischen Auseinandersetzungen immer der Zeitgewinn für das Kapital bleiben. Für Zeitersparnis durch Erleichterung von Arbeitsgängen werden dann eben zusätzliche Arbeitsbewegungen abverlangt. [10]

Zum besseren Verständnis im Folgenden noch ein Beispiel für eine MTM-Analyse: Der Arbeitsvorgang »Anbringen eines Schraubverschlusses auf eine Flasche«[11] bekommt ein Kürzel, das aus Buchstaben und Zahlen besteht; die einzelnen Großbuchstaben müssen als Kurzzeichen englischer Begriffe vorher erklärt werden: Zuerst steht ein Buchstabe, der die fragliche Bewegung beschreibt (z.B. R für »Reach«, Hinlangen), dann eine Zahl für die Länge der Bewegung, dann die Kategorie der Bewegung (mit Buchstabe, Zahl oder Kombination) gemäß der MTM-Tabelle. »Soll ein Hammer 40 cm von einer Stelle an eine andere gebracht werden, so wird die Bewegung mit M40B bezeichnet. M bedeutet die Ausführung einer Bring-Bewegung, 40 gibt die Bewegungslänge mit 40 cm an, und B bedeutet das Wegnehmen des Hammers zu einer nicht näher bezeichneten Stelle. Durch Anwendung dieses Kurzzeichensystems können alle Grundbewegungen und Bewegungsfälle bei MTM einfach, kurz und klar beschrieben werden. Bei der Anwendung von MTM wird auf der ganzen Welt ein genormtes Kurzzeichensystem verwendet. (...) Die MTM-Analyse enthält also eine Beschreibung der Methode wie auch eine Zeitfestsetzung für den Arbeitsvorgang.«[12] (Siehe Bild 1)

MTM-Studie

Erste gewerkschaftsoffizielle Reaktion: Ablehnen!

Auf der Dortmunder Gewerkschaftskonferenz 1959 vertrat einer der US-amerikanischen Delegierten eine klare Position: »Die Unternehmensleitung ist niemals glücklich über den Umstand gewesen, über Leistungsnormen und Akkordsätze verhandeln zu müssen. Sie hat immer nach Möglichkeiten gesucht, derartigen Verhandlungen ein Ende zu setzen, indem sie die Arbeiterschaft davon zu überzeugen suchte, dass es eine >wissenschaftliche< Methode gibt, um gerechte Vorgabezeiten und Tarife festzusetzen. Auf dieser Grundlage wurden zunächst die Zeitstudien befürwortet. Durch ihre Erfahrungen sind die Arbeiter jedoch immer skeptischer geworden, und die Unternehmensleitungen begrüßen >Methods-Time Measurement< als einen neuen >wissenschaftlichen< Vorwand, um Tarifverhandlungen abzuschalten oder zu unterdrücken. MTM ist für Unternehmensleitungen besonders attraktiv, da es zum mindesten Verhandlungen über einzelne Beschwerden, bei denen es sich um Vorgabezeiten oder Akkordsätze handelt, hoffnungslos komplizieren würde. Die Ablehnung einer einzelnen Vorgabezeit, die mit diesem Verfahren festgelegt wurde, würde die Ablehnung der Vorgabezeiten für jede andere Tätigkeit im Betrieb, bei der die gleichen Grundbewegungen vorkommen wie bei der strittigen Tätigkeit, nach sich ziehen. (...) Angesichts der Gefahren und Probleme, die MTM hervorruft, sollten unsere internationalen Vertretungen und Ortsverbände nachdrücklich angewiesen werden, sich seiner Einführung in unseren Betrieben zu widersetzen. Vor allem sollten sich unsere Gewerkschaftsortsverbände davor schützen, irgendwie in die Einführung oder Anwendung des Verfahrens hineingezogen zu werden.« [13]

Auch von deutschen Gewerkschaftsfunktionären gab es zunächst scharfe Kritik: »Diese an Dressur grenzende Einfügung des Menschen in ein Bewegungsschema ist mit der Würde des Menschen nicht mehr vereinbar!«, so der Beirat der Gewerkschaft Leder in seinem Beschluss zu MTM vom 20. Oktober 1959 - zitiert in einer Broschüre über MTM bei Daimler Benz, in der Kollegen über die Einführung des neuen Lohnsystems berichten. [14] Und in der IGM-Zeitung Der Gewerkschafter wurde in den 60er Jahren formuliert: »Die Industrie entwickelt Arbeitsformen, die buchstäblich von dressierten Affen gleichgut oder besser gemacht werden können.« [15] Noch in den 70er Jahren wird von den IGM-Experten u.a. kritisiert: »Der geschäftliche Stil, mit dem die Verfahren vorbestimmter Zeiten in den USA angepriesen werden, wird in der Bundesrepublik durch gedämpfte, akademisch gefärbte Töne ersetzt. Auch tun alle Beteiligten - einschließlich der in erster Linie geschäftlich interessierten Berater - alles, um eine gepflegte wissenschaftliche Atmosphäre zu schaffen, in der gute Honorare und Gehälter für die Anwender sowie die intensivere Ausnutzung der Arbeitskraft der Betroffenen nicht zur Diskussion zu stehen scheinen. Aber genau darum geht es. Wer sich das vor Augen hält, wird besonders kritisch allen Äußerungen gegenüberstehen, die im Gewand der Wissenschaftlichkeit nur den Verkauf dieser Verfahren fördern möchten. [16] (Hervorhebungen i.O.)

Ablehnen sinnlos -zustimmen!

Doch im selben »Arbeitsheft 807« der IGM deutet sich schon die Wende an: »Was ist zu tun? Die Zeiten der Maschinenstürmerei sind vorbei. Die Rationalisierung ist eine wesentliche Voraussetzung für die Steigerung der Löhne und des Lebensstandards. (...) Da die Verfahren vorbestimmter Zeiten nur ein Mittel der Rationalisierung sind, hat es keinen Sinn, sie völlig abzulehnen. Da sie aber sehr nachhaltig die Situation der Arbeitenden berühren, stellen sich hier besondere Fragen der Kontrolle in der Anwendung dieser Verfahren.« [17]

Die bereits genannte Broschüre der Mercedes-Kollegen von 1978 zeichnet exakt nach, wie sich die anfängliche engagierte Ablehnung von MTM seitens der IGM-Experten zu entschiedener Unterstützung entwickelte. Die »offizielle Gewerkschaftspolitik heute (bedeutet) die Verteidigung solcher Systeme«. [18] In den Opel-Werken hat der Betriebsrat 1991 mit der Betriebsvereinbarung 181 mehrheitlich die Umstellung auf MTM in allen Werken akzeptiert (zusammen mit den BV »Prämienlohn« und »Gruppenarbeit«).

General Motors: von MTM zu »VPM (ILO 100)«?

»Wenn MTM eingeführt ist, sind Produktivitätsentwicklungen ausschließlich durch Arbeitsgestaltung und Prozessverbesserungen, nicht aber durch Intensitätserhöhung realisierbar.« [19] Diese Feststellung der Verfasser des »MTM-Handbuchs« ist nur bedingt richtig: Muss man z.B. zum Abholen der Autobatterien an die Einbaustelle am Fließband statt 8 nur 5 Schritte machen, wird MTM-Zeit eingespart; der oder die Beschäftigte hat »Luft« zu weiteren Arbeitsbewegungen innerhalb der Taktzeit. Das kann sicher auch »Intensitätserhöhung« bedeuten. Doch sind - worauf die Autoren rekurrieren - die Zeiten für die einzelnen Bewegungen nicht so einfach zu kürzen. Genau das wird nun aber in dem aktuellen Versuch mit VPM (ILO 100) in den GM-Fabriken angepeilt.

Die Methode der Einführung ist dabei äußerst zwielichtig und entspricht frappierend der Warnung, die das damalige IGM-Vorstandsmitglied Fritz Salm, Teilnehmer an der Dortmunder Gewerkschaftskonferenz 1959, in seinem Vorwort zu dem zitierten Konferenzbericht ausgesprochen hatte: Die Schrift »soll helfen, die Geheimniskrämerei zu verbannen, mit der manche Geschäftsleitungen die Einführung oder Anwendung solcher Verfahren zu umgeben versuchen.« [20]

  1. Im derzeit dem Bochumer Opel-Betriebsrat zur Abstimmung vorliegenden Entwurf zur Betriebsvereinbarung »Zukunftsvertrag 2016« [21] heißt es in der Einleitung: »Mit dieser Vereinbarung werden die Voraussetzungen erfüllt, um im Werk Bochum zukünftig Fahrzeuge der neuen Generation Kompaktwagenklasse zu produzieren. Grundlage dieser Vereinbarung ist der europäische Rahmenvertrag für die Zuteilung der Kompaktwagenklasse in Europa vom 29.04.2008.« Dann weiter im Punkt »II. Optimierung«: »Fertigungsabläufe sollen so gestaltet werden, dass ... eine Fertigungszeit von 15 Stunden erreicht wird. Das kann u.a. dadurch erfolgen, dass bestehende Wege- und Wartezeiten angepasst werden und hierdurch die wertschöpfende Tätigkeit optimiert wird. Neben bestehenden Zeitwirtschaftsverfahren kann die Geschäftsleitung zur Ermittlung von Vorgabezeiten auch solche Verfahren anwenden, die in den europäischen Deltastandorten vereinbart sind und dort auch angewandt werden.« [22]
  2. Der angesprochene »europäische Rahmenvertrag« nennt als »zwingend erforderliche« Anforderungen u.a.: »Festlegen, Verhandeln und Unterzeichnen eines Kosteneffizienzplans (d.h. Ausbau der Linienlaufzeit, ... ILO 100 Standards...)« Mit »ILO 100« bezeichnet die GM-Geschäftsleitung im so genannten »Letter of Intent«, einem Entwurf zu einer Bochumer Betriebsvereinbarung vom 17. September 2007, ein »Zeitwirtschaftsverfahren zur Ermittlung von Vorgabezeiten«, das ab Beginn des Jahres 2008 eingeführt werden sollte. Der Opel-Gesamtbetriebsrat hat dazu im November 2007 die »Vorläufige Stellungnahme zum Thema ILO 100« von Prof. Kurt Landau, dem Mitverfasser des »MTM-Handbuchs« erhalten. Der Arbeitswissenschaftler weist diesen Bezug auf eine Richtlinie der International Labor Organisation (ILO, Sitz in Genf) verärgert zurück. Genauer sei wohl eine »ILO Beurteilungsskala 0-100« angesprochen, bei der es um >normale< Gehgeschwindigkeit gehen würde. Laut GM wären anhand eines >Ankerwertes< von 4 Meilen bzw. 6,4 km pro Stunde alle weiteren Leistungsvorgaben für körperliche Arbeit zu berechnen. Prof. Landau dazu weiter: »Ein Schriftstück mit der Begründung dazu konnte mir weder von Opel noch von MTM (also der Deutschen MTM-Vereinigung, W.S.) zur Verfügung gestellt werden.« Er stellt klar, dass die Festlegung auf eine >normale< Gehgeschwindigkeit von 6,4 km pro Stunde als Richtwert für industrielle Leistungsvorgaben arbeitswissenschaftlich nirgends begründet sei und es darüber hinaus keinen Sinn mache, davon alle anderen Zeitvorgaben für Arbeitsbewegungen ableiten zu wollen. [23]
  3. Ein weiteres Dokument konnte in der Bochumer Belegschaft ein wenig Licht ins Dunkel bringen: Der Betriebsratsvorsitzende von Opel-Eisenach, Harald Lieske, hat »ILO 100« scharf kritisiert. Im Scheibenwischer, der Zeitung des Eisenacher Betriebsrats und der IGM-Vertrauensleute, vom Mai 2008 stellt Lieske zunächst klar, dass die Opel-Manager, etwas zurückweichend, mit »VPM« inzwischen einen neuen Namen für die ILO 100-Maßnahme benutzen. Er schreibt: »Bei VPM, also ILO 100, wird die Arbeitsorganisation im Takt durch Augenschein analysiert und eingeschätzt. Ein trainierter Beobachter schätzt ein, ob 100 Prozent VPM-Tempo erreicht sind. Eine Bewegung, die VPM zu 100 Prozent erreicht, liegt allgemein bis zu 25 Prozent unter MTM. (...) Rein praktisch wird dies durch simple Umrechnung der MTM-Zeitwerte realisiert. (...) Außerdem wird der Arbeitstag auf wertschöpfende Anteile und nicht wertschöpfende Anteile überprüft. (...) In der Summe kam man also zu dem (unglaublichen) Ergebnis, dass fast 1/4 des Tages eines Mitarbeiters bei Opel in Eisenach, wörtliches Zitat! >Erholungszeit< ist! Das ist der blanke Hohn!« (Hervorhebungen im Text) Lieske bezieht sich dabei auf das eingangs zitierte Eisenacher Dokument »GM-Eisenach: VPM-Workshop, 06.05.2008«. [24]

Schlussfolgerung des Betriebsrats: »VPM ist weder im Tarifvertrag noch für Eisenach vereinbart. Auch in anderen Standorten ist VPM von der IG-Metall nicht zugelassen. Wenn der Arbeitgeber für sich eine VPM-Analyse durchführt, ist das seine Sache. Wir werden aber weiterhin ausschließen, dass in Eisenach nach VPM gearbeitet wird. Dafür gibt es weder bei Opel Eisenach noch in anderen Opelwerken eine Rechtsgrundlage.« Neben der Leistungsverdichtung kritisiert Lieske (ähnlich wie Prof. Kurt Landau) hiermit auch die rechtlichen Grundlagen der Erprobung und schleichenden Einführung von VPM.

Das GM-Management versucht also in äußerst zweifelhafter, undurchsichtiger Form eine neue, auch arbeitswissenschaftlich und rechtlich unbegründete Methode zur Ermittlung von Vorgabezeiten durchzusetzen, bei der angeblich eine schnellere als die von MTM festgelegte Gehgeschwindigkeit und eine andere Berechnung von Erholungszeit zugrunde gelegt werden könnte - und damit wären dann auch alle anderen vorbestimmten Zeiten entsprechend kürzbar.

Dass die IG Metall nicht in allen Betrieben wie auch in der Öffentlichkeit darüber aufklärt und zum notwendigen Widerstand mobilisiert, erinnert an den Geisteswandel der führenden Funktionäre bei der MTM-Einführung und treibt kritische Gewerkschaftsmitglieder eigentlich nur weiter in die Resignation. Eigenständig die Gegenwehr voranzubringen, hat die Betriebsgruppe GoG bei Opel in Bochum zumindest mit ihrem Flugblatt versucht.

Eine andere Debatte ist nötig

Als erste Reaktion auf den GM-Angriff mag sich ja die Überlegung aufdrängen, es müsse jetzt darum gehen, die MTM-Vorgabezeiten zu verteidigen, um noch Schlimmeres zu verhüten. Doch dass die Betroffenen sich an solche Arbeitsmethoden nicht gewöhnt haben, sogar mehr darunter leiden und stressbelasteter sind, lässt sich nicht nur in den Autofabriken schnell erfragen. Eine viel umfassendere Reaktion muss diskutiert werden. Einige Thesen dazu:

  1. Rotation, Aufgabenerweiterung und längere Taktzeiten können die Arbeitsbelastung sicherlich abmildern. Jede Arbeit nach vorbestimmten Zeiten wäre leichter zu ertragen, wenn es mehr Pausen gäbe, und erst recht bei verkürzter Schichtzeit. Die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung wie z.B. »sechs Stunden bei vollem Lohnausgleich« ist derzeit schwierig zu verbreiten und durchzusetzen, aber dringend aufrecht zu erhalten. Die technologische Entwicklung ermöglicht heute sogar eine viel kürzere Schichtzeit von vier Stunden oder weniger, erst recht unter Berücksichtigung all der unfreiwillig nicht Beschäftigten, der Produktion überflüssiger Produkte wie der konkurrenzbestimmten unnötigen Parallelproduktionen.
  2. Die Arbeitsweise heute ist nicht naturgegeben. Daran schließt sich die Frage an, ob man nicht auch unter der Bedingung, dass die Produktion nicht zwecks Profit für wenige, sondern zwecks guter Versorgung für alle organisiert würde, eine Planungsgrundlage für die benötigten Zeiten brauchen würde.

    • Sicher, aber dann müsste man nicht am Fließband mithetzen, sondern könnte die Arbeit zum Beispiel in Montage-Zellen ganz anders organisieren ...

    •  Dann brauchte man statt Angst vor Arbeitsplatzverlust bestimmte Tätigkeiten nur befristet mitmachen und könnte sorgloser wechseln, auch in ganz andere Arbeitsbereiche ...

    •  Und vor allem: dann würde den Produzierenden das Arbeitstempo nicht von einigen Profitexperten in »vorbestimmten Zeiten« nach angeblich >wissenschaftlichen< Systemen wie MTM oder VPM aufdiktiert. Sie selber hätten mit abzusprechen, welche Produktionszeiten für die herzustellenden Güter für welche Phasen mit welcher Dauer akzeptiert werden können und wie regelmäßig die angestrebten Produktionszeiten überprüft und verändert werden. Selbstverständlich würde dabei die Gesundheit vor der Stückzahl rangieren, und Produktivitätsfortschritte würden zu weiteren Arbeitszeitverkürzungen führen ...
  3. »Gute Arbeit« lässt sich einfach ohne die Kritik der die Lohnarbeit charakterisierenden und bei den Systemen vorbestimmter Zeiten am deutlichsten manifestierten Zeitzwänge nicht diskutieren. Wie es übrigens wohl auch ziemlich blöde ist, bei »guter Arbeit« neben der Kritik der Produktionsmethoden die Kritik der Art der Produkte ausklammern zu wollen: z.B. die Unmassen von Tag für Tag produzierten PKW-Blechkisten oder die Kriegsgeräte aller Art.

* Wolfgang Schaumberg ist nach 30 Jahren Arbeit bei Opel in Bochum immer noch in der Betriebsgruppe GoG-Gegenwehr ohne Grenzen aktiv, darüber hinaus in der Gewerkschaftslinken und in Vernetzungsprojekten mit aktiven Menschen in China.


Anmerkungen:

1) TMU-Angaben nach: Hans Pornschlegel / Reimer Birkwald: »Verfahren vorbestimmter Zeiten«, IG Metall Arbeitsheft 807, 5. Aufl. 1977, S. 23

2) Siehe: www.dmtm.com externer Link

3) Vgl. »Die MTM-Anwendung nimmt weiter zu«, in: direkt, IG Metall-Vertrauensleutezeitung, Nr. 12/2001, S. 4

4) Rainer Bokranz / Kurt Landau: »Produktivitätsmanagement von Arbeitssystemen. MTM-Handbuch«, Hrsg. Deutsche MTM-Vereinigung e.V., Stuttgart 2006, 838 Seiten

5) Bokranz/Landau 2006, a.a.O., S. 491f.

6) Die Zitate des folgenden Absatzes finden sich in Bokranz/Landau 2006, a.a.O., S. 508ff.

7) Siehe: »Kleinzeit- und Bewegungselemente-Verfahren. Bericht der internationalen Gewerkschaftskonferenz Dortmund, 27. bis 30. Oktober 1959«, Schriftenreihe der Industriegewerkschaft Metall, 1960, 1. Nachdruck März 1964, im Folgenden zitiert als »IGM 1960«, S.15

8) Heute: Verband für Arbeitsgestaltung, Betriebsorganisation und Unternehmensentwicklung; gegründet 1924 als Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung

9) Refa (Hrsg.): »Methodenlehre des Arbeitsstudiums«, 4. Auflage, München 1975, S. 175

10) Zum Zeitproblem unter den Bedingungen kapitalistischer Produktion siehe auch Wolfgang Schaumberg: »Eine andere Welt ist vorstellbar? Schritte zur konkreten Vision«, Reihe Ränkeschmiede, Nr. 16, Juni 2006, Hrsg. AFP e.V.

11) »IGM 1960«, a.a.O., S. 35ff.

12) »IGM 1960«, a.a.O., S. 37

13) Zit. aus: »Anhang XII. Die gewerkschaftliche Haltung in den USA. Die Einstellung der Gewerkschaften«, »IGM 1960«, a.a.O., S. 78

14) »MTM bei Daimler Benz, Kollegen berichten über die Einführung eines neuen Lohnsystems«, Broschüre, Vertrieb W. Münzenberg, Oldenburg 1978, S. 14

15) Zit. nach: »MTM bei Daimler Benz«, a.a.O., S. 38

16) Pornschlegel / Birkwald, a.a.O., S. 15f.

17) Pornschlegel / Birkwald, a.a.O., S. 24

18) »MTM bei Daimler Benz« 1978, a.a.O., S. 47

19) Bokranz / Landau, a.a.O., S. 114

20) »IGM 1960«, a.a.O., S. 3

21) Der BV-Entwurf ist einsehbar unter www.labournet.de/branchen/auto/gm-opel/bochum/zukunft2016.pdf pdf-Datei

22) Der Verweis auf »andere Werke« bleibt im Dunkel. Dass in Gliwice/Polen bereits nach dem neuen Verfahren vorbestimmter Zeiten gearbeitet wird, ist nicht dokumentiert. Der Bochumer BR-Vorsitzende hatte allerdings in einem Brief an den Euro-BR und die IGM am 26. Oktober 2007 geschrieben: »... im >Lohnabkommen 2006< wurden in England Regelungen zu ILO 100 vereinbart.« - Die Belegschaften wurden vom Euro-BR und der IGM jedenfalls nicht darüber aufgeklärt. Das Verdunkeln hat wohl Methode.

23) Die »Vorläufige Stellungnahme« ist einsehbar unter http://media.de.indymedia.org/media/2008/05//21207207.pdf externer Link pdf-Datei

24) Dieses ist insgesamt nachzulesen im GOG-Extra-Flugblatt, dokumentiert in: www.labournet.de/branchen/auto/gm-opel/bochum/gog-0908extra.pdf pdf-Datei


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