Wolfgang, du bist gestern aus Argentinien zurückgekehrt. Was war der Grund für deine Reise?
Ich hatte im September im Namen des Republikanischen Anwälte- und Anwältinnen-Vereins (RAV) Strafanzeige wegen der Verschwundenen bei Mercedes-Benz in Argentinien eingereicht. Die Anzeige basierte auf den Recherchen von Gaby Weber. Ich wollte nun in Argentinien persönlich mit den Zeugen sprechen und klären, ob die Geschädigten - also die Opfer oder deren Familienangehörige -auch gegenüber einem deutschen Gericht Ansprüche erheben wollen. Das wichtigste Ergebnis der Reise war, dass der Hauptzeuge, Hector Ratto, der einzige überlebende unabhängige Betriebsrat, mir gegenüber seine Angabe präzisiert hat. Nach den Aussagen von Herrn Ratto ist für mich sehr klar, dass der damalige Betriebsleiter von Mercedes-Benz, Juan Tasselkraut, die Adresse mindestens eines Aktivisten, nämlich die von Diego Núnez, an die Repressionskräfte weitergegeben und damit ermöglicht hat, dass dieser verhaftet und später umgebracht werden konnte.
Wie hat Hector Ratto diese Information bekommen?
Im Gegensatz zu Ford hat Mercedes alles versucht, um Festnahmen von Gewerkschaftsaktivisten nicht auf dem Werksgelände stattfinden zu lassen. Bei Ford war es so, dass die Gewerkschafter auf dem Werksgelände verhaftet wurden. Es gab dort sogar ein Folterzentrum, wo , die ersten Vernehmungen unter Folter stattfanden. Bei Mercedes ist man einen anderen Weg gegangen. Man hat versucht, Festnahmen im Betrieb zu vermeiden. Die Mercedes-Belegschaft galt als sehr kämpferisch und es hatte bereits einen Fall gegeben, in dem die Arbeiter nach der Verhaftung eines Kollegen auf dem Werksgelände die Arbeit niedergelegt und protestiert hatten, wodurch der Firma natürlich Verluste entstanden waren.
Im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern des unabhängigen Betriebsrates, die von den Militärs zu Hause abgeholt wurden und danach "verschwanden", war Hector Rattos Adresse der Werksleitung nicht bekannt. Deshalb mussten ihn die Repressionskräfte in der Nähe seiner Arbeitsstelle aufgreifen. Mercedes hat versucht, diese Verhaftung außerhalb des Werksgeländes stattfinden zu lassen, indem man Ratto durch den Werkschutz die Mitteilung zukommen ließ, seine Frau habe ihm die Nachricht hinterlassen, er solle noch Hause kommen. Ratto wusste sofort, dass das eine Falle war und weigerte sich, das Firmengelände zu verlassen - was ihm vermutlich das Leben gerettet hat. Der Werkschutz und der Schichtleiter versuchten danach weiter, ihn mit Drohungen und gutem Zureden zum Verlassen des Werkes zu bewegen. Als er sich beharrlich weigerte, bestellte ihn der Werksleiter Tasselkraut schließlich in sein Büro. Dort musste Herr Ratto dann warten, bis ihn Uniformierte vom Mercedes-Gelände abführten. Während dieser Wartezeit hat er genau mitbekommen, wie Tasselkraut einen Anruf erhielt und bei diesem Telefonat den Repressionskräften die Adresse von Diego Núnez mitteilte. In der folgenden Nacht wurde Núnez zu Hause abgeholt und ist seitdem verschwunden.
Ratto selbst wurde nach seiner Verhaftung zunächst zu einem Kommissariat und von dort in das berüchtigte geheime Folterzentrum "Campo de Mayo" gebracht. Dort wurde er zwei Wochen gefoltert und blieb dann zwei Jahre in Haft, Damit hat er selber Ansprüche -sowohl gegen den argentinischen Staat als auch gegenüber Mercedes, weil für mich relativ klar ist, dass die Werksleitung mit seiner Verhaftung zu tun hatte. Außerdem ist nach Rattos Aussagen die Beteiligung von Werksleiter Tasselkraut an der Ermordung von Diego Núnez sehr naheliegend.
Hector Ratto ist bereit, die Angaben, die er mir gegenüber gemacht hat, bei einer konsularischen Vernehmung in der deutschen Botschaft zu wiederholen. Er hat mich als Geschädigter mit der Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen in dem Verfahren in Deutschland gegen Tasselkraut beauftragt. Mit Familienangehörigen von anderen damals Verschwundenen und Ermordeten sind wir im Gespräch und es sind weitere Vollmachten zu erwarten.
Wie waren die Reaktionen auf die Erstattung der Anzeige gegen Mercedes in Deutschland und Argentinien?
Die ersten Reaktionen erfolgten natürlich in Deutschland. Es gab eine ganze Reihe von Presseveröffentlichungen und einen Bericht im ARD-Morgenmagazin. Wenige Tage nach Erstattung der Anzeige haben die kritischen Aktionäre von DaimlerChrysler eine Erklärung veröffentlicht, in der sie die lückenlose Aufklärung der Vorfälle und die Beurlaubung von Juan Tasselkraut fordern. Letzteres scheint inzwischen geschehen zu sein. Die Informationen darüber in Argentinien sind zwar widersprüchlich, aber zuletzt wurde uns mitgeteilt, dass er unbefristet beurlaubt sei. Ob man ihn damit nur vorerst aus der, Schusslinie nehmen will oder tatsächlich einräumt, dass die damalige Werksleitung mit den Repressionskräften zusammen gearbeitet hat, kann ich noch nicht beurteilen. In Deutschland haben nach der Anzeigeerstattung auch gewerkschaftliche Kreise Kontakt mit uns aufgenommen und mir ihre Unterstützung zugesichert.
In Argentinien gab es bis jetzt wenig öffentliche Reaktionen. Nur in der Tageszeiturig "Página 12" erschien ein längerer Artikel. Die relative Zurückhaltung der argentinischen Medien erklärt sich meiner Einschätzung nach dadurch, dass die argentinische Öffentlichkeit Angst davor hat, Mercedes als einen maßgeblichen Investor zu verschrecken, weil es ohnehin Gerüchte gibt, dass die Produktion von Mercedes wegen der zu hohen Lohnkosten der angeblich zu hohen Lohnkosten! nach Brasilien verlegt werden soll. Es gibt da einschlägige Erfahrungen in Argentinien. Als beispielsweise ein Renault-Manager wegen Schmuggels angeklagt wurde, drohte der Konzern unverhohlen, die Produktion nach Brasilien zu verlagern. Angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftskrise und der hohen Arbeitslosigkeit behandeln die argentinischen Behörden - und offensichtlich auch die Öffentlichkeit - wichtige Investoren mit Samthandschuhen.
Wie waren die Reaktionen der argentinischen Menschenrechtsorganisationen?
Die Menschenrechtsorganisationen, mit denen ich gesprochen habe, haben alle sehr positiv auf die Anzeige reagiert. Sie waren vor allem deswegen angetan, weil sie der Auffassung sind, dass die Verbrechen nicht nur von Argentinien aus betrieben und unterstützt wurden, sondern auch zahlreiche europäische und die US-Regierung ihren Anteil an den massiven Menschenrechtsverletzungen hatten.
Die argentinischen Militärs haben damals nicht aus Sadismus gehandelt oder die Menschenrechte l`art pour l`art verletzt. Vielmehr ging es darum, ein politisch-ökonomisches Projekt, nämlich die bedingungslose Öffnung gegenüber dem Weltmarkt, durchzusetzen. Es wurde nicht etwa nur die sogenannte bewaffnete Subversion bekämpft, sondern alle gesellschaftlichen Sektoren, die in Opposition zu diesem Projekt standen. Eines der wichtigsten Ziele der Repression war die kämpferische Arbeiterbewegung Argentiniens, die einen sehr hohen Blutzoll zahlen musste.
Das heißt, es geht mit der Anzeige auch darum zu verdeutlichen, in weichem politischen und wirtschaftlichen Kontext die Menschenrechtsverletzungen stattfanden?
Ganz genau. In Abwandlung des Horkheimer-Wortes "Wer vom Faschismus redet, darf über den Kapitalismus nicht schweigen", muss es heißen "Wer über die argentinische und chilenische Militärdiktatur redet, darf über die Beteiligung der nationalen und internationalen Unternehmen an diesen Menschenrechtsverletzungen nicht schweigen." Das ist umso wichtiger, als die Gesellschaften bis heute die Folgen dieser grauenhaften Menschenrechtsverletzungen nicht überwunden haben, sowohl psychologisch als auch sozial. Das damals installierte ökonomische Modell bringt weiterhin Menschenrechtsverletzungen hervor, wenn auch auf einem anderen Feld, nämlich dem sozialen. Heute ist es einem großen Teil der Bevölkerung in Argentinien oder Chile nicht einmal möglich, ihre elementarsten Grundbedürfnisse zu befriedigen.
Darüber hinaus sind die Beispiele Mercedes-Benz und Ford auch deshalb so wichtig, weil sie verdeutlichen, wie die Repression auch von Nordamerika und von Europa aus realisiert wurde. Die Hände haben sich nur die Argentinier schmutzig gemacht, aber wir müssen immer wieder darauf drängen, dass auch die Hintermänner der Menschenrechtsverletzungen angeklagt und zur Verantwortung gezogen werden.
Wie geht es jetzt hier in Deutschland juristisch weiter?
Ich werde in den nächsten Tagen der Staatsanwaltschaft in Berlin Mitteilung von den Ergebnissen meiner Reise machen und mich als Vertreter von Hector Ratto meiden. Außerdem werden wir natürlich versuchen, zu weiteren Erkenntnissen zu kommen. Dann müssen wir erst mal abwarten, was der für diese Entscheidung zuständige Bundesgerichtshof dazu sagt und weicher Staatsanwaltschaft das Verfahren zugewiesen wird. Dann muss man sich mit dieser in Verbindung setzen und sie dazu bringen, eigene Ermittlungen darüber anzustellen, was in diesen Jahren bei Mercedes-Benz Argentina tatsächlich passiert ist.
Noch eine letzte Frage: Seit ein paar Stunden wissen wir, dass es in Argentinien einen Machtwechsel geben wird. Du hast die Schlussphase des Wahlkampfes erlebt und mit vielen Leute aus der Menschenrechtsszene gesprochen. Hast du den Eindruck, dass es bezüglich der Straffreiheit einen Politikwechsel geben wird?
Keiner unserer Gesprächspartner hat damit gerechnet, dass sich durch den Wechsel der Regierung von den Peronisten zur Alianza wesentliche Änderungen auf dem Feld der Menschenrechtspolitik ergeben. Auch im Wahlkampf haben die Menschenrechte nur eine periphere Rolle gespielt. In den Programmen der großen Parteien war wenig die Rede davon, insbesondere de la Rua hat kein gesteigertes Interesse an der Verfolgung der Militärs geäußert.
Allerdings gibt es in den letzten Jahren in Argentinien - im Gegensatz zu Chile - eine weit verbreitete Stimmung in der Bevölkerung, dass man noch einmal den Versuch unternehmen sollte, gegen die Straflosigkeit vorzugehen, Es gibt zahlreiche juristische Initiativen, die Fälle noch einmal neu aufzurollen - seien es die Kindesentführungen, weswegen Videla und Massera zur Zeit ja wieder inhaftiert sind, sei es aufgrund neuer Ermittlungen in Buenos Aires, La Plata und Bahia Blanca. Dort ermitteln Richter in Dutzenden von Fällen mit der Begründung, dass es das Recht der Betroffenen auf Wahrheit und Identität gebiete, das Schicksal der Verschwundenen und Ermordeten aufzuklären. Es finden also Ermittlungen statt, ob die Täter vor dem Hintergrund der Amnestiegesetzgebung (noch einmal) verfolgt werden können, ist zur Zeit noch unklar.
Diese neue Entwicklung zeigt auch, dass das, was wir hier in Europa machen, kein neokoloniales Vorgehen ist, sondern Teil des weltweiten Versuchs, durch Zusammenschluss verschiedener Menschenrechts- und Juristinnenorganisationen gegen die herrschende Straflosigkeit anzugehen. Wir werden aber sicherlich bei der neuen argentinischen Regierung neue, unserem Anliegen gegenüber aufgeschlossenere Ansprechpartner finden. Selbstverständlich können wir uns nie darauf verlassen, dass Regierungen in unserem Sinne handeln.. Deshalb gibt es keine Alternative dazu, die Regierung durch die Inanspruchnahme aller politischen und juristischen Mittel unter Druck zu setzen, damit dann auch tatsächlich gehandelt wird.
aus: ila - Zeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika e.V., Nr. 230 vom
November 1999
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