Etwas Drittes zwischen Appell und Analyse?

Bericht über das etwas andere "Forum Sozialpolitik" / Von Kirsten Huckenbeck

 

Zu den wohlfeilen Besinnungsresultaten der Gewerkschaftslinken gehört die Berufung auf die "Leitplanken" Gegenmacht und Tarifautonomie. Erstere soll wieder "hergestellt", letztere "verteidigt" werden. Beides, so der Ausgangspunkt des Forums "Sozialstaat als Reformprojekt", das sich der Frage widmete, wie eine solidarische Sozialpolitik aussehen könne, sind vielleicht notwendige Bedingungen für die Aufrechterhaltung des Status quo gewerkschaftlicher Gewerkschaftspolitik –, sofern dies eine Perspektive sein kann. Für eine gesellschaftspolitische Verortung der Gewerkschaften sind sie weder notwendig noch hinreichend. Denn wenn, so die Überlegungen, die zur Bildung dieses Forums geführt hatten und wohl von der überwiegenden Mehrzahl der Konferenz-TeilnehmerInnen geteilt wurden, der Status quo sich als Krise beschreiben lässt, dann kann die Reaktion darauf nicht die Fortführung einer Politik sein, deren Instrumenten ihr Gegenstand abhanden kommt und deren Weltbild und Selbstverständnis mit in die Krise geführt hat. Letzteres würden wohl nicht mehr alle TeilnehmerInnen unterschreiben, und genau hier setzte eine produktive Verunsicherung ein.

Eine der Ausgangsthesen des Forums war, dass der traditionell strikten Trennung von tariflicher Lohnpolitik und staatlich zu regulierender Sozialpolitik ‘von unten’ und ‘von oben’ her ‘der Boden’ entzogen wird: Ein immer kleinerer Teil ihrer Mitglieder muss einen immer größeren Teil der Sozialversicherungsbeiträge "erarbeiten", und zugleich lösen sich die Prämissen der bisherigen Modelle sozialer Absicherung auf. Diese Erosion der Finanzierungsbasis und die geringere Reichweite der Sozialversicherungen werden begleitet von standort- und wettbewerbspolitischem Druck auf den Sozialstaat: Eine Umdefinition und stärkere Verzahnung des Verhältnisses von Sozialpolitik, Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik ist im Gange, die weg von Garantien hin zu staatlichen Arbeits-Anreizen und stärkeren Sanktionen will und dabei den real existierenden Niedriglohnsektor gezielt einbezieht und verfestigt. Der Dreh- und Angelpunkt, über den die Gewerkschaften in diesen Prozess eingebunden sind, ist die "Schaffung" von Arbeitsplätzen.

Wenn die Krisendiagnose und die These stimmt, dann ist aber auch die Chance gegeben, die Fließbandproduktion von Worthülsen, katechistischen Systemen und Appellen zu stoppen. Und es wird Zeit, Fragen zu stellen. Z.B. die, warum Sozialpolitik mit einer gewissen Systematik aus dem gewerkschaftspolitischen Geschäft herausfällt, obwohl doch die Sozialversicherungsbeiträge und -leistungen Bestandteile des letztlich "sozialen Lohns" sind. Oder umgekehrt: ob ein Instrument wie die Tarifpolitik – bzw. aktuell in der IGM die Tariffonds zur Finanzierung der Rente mit 60 – strukturell überhaupt geeignet ist, gesamtgesellschaftliche Probleme wie die Rentenfrage zu ‘lösen’. Und warum das Bekenntnis gegen die Schaffung und Etablierung eines Niedriglohnsektors zwar den meisten GewerkschafterInnen – auch Vorständen im Rahmen des Bündnisses für Arbeit – recht flüssig von den Lippen geht, gleichzeitig aber doch gewisse theoretische und praktische Übertragungsschwierigkeiten auf die eigenen Organisa tionsbereiche zu konstatieren sind. Und schließlich, was mit Formeln wie Tarifautonomie und Gegenmacht vor diesem Hintergrund anzufangen ist. Schlagen sie, trotz durchaus verständlicher Angst, in der konzertierten Verquickung lohn-, beschäftigungs- und sozialpolitischer Fragen im Rahmen des Bündnisses für Wettbewerbsfähigkeit über den Tisch gezogen zu werden, nicht notwendig in Ständepolitik um?

Dazu, dass in der folgenden Diskussion über solche und andere Fragen angenehm wenige Phrasen fielen und über lange Phasen Diskussionskultur möglich war, trugen auch die Eingangsreferate bei, die von Cora Molloy, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialhilfeinitiativen (BAG-SHI), und Andreas Bachmann (Mitglied der Hamburger Regenbogen-Gruppe und der express-Redaktion), gehalten wurden. Es gelang, durchaus auch kompliziertere Bezüge zwischen gewerkschaftlichen Arbeitsfeldern und denen der Sozialhilfe-Initiativen deutlich zu machen, ohne jedoch auf Positionierung zu verzichten.

So entwickelte und begründete Cora Molloy entlang eines 13-Punkte-Katalogs Positionen der BAG-SHI, die sich mehrheitlich zunächst auf die Rücknahme laufender oder bereits verabschiedeter Verschlechterungen unter der alten und neuen Bundesregierung bezogen: der dreiprozentigen Kürzung der Arbeitslosenhilfe, der Abkopplung von Arbeitslosenhilfe und Arbeitslosengeld von der Lohnentwicklung, der Renteneinbußen für Langzeitarbeitslose wegen der geringeren Renten-Einzahlungen der Bundesanstalt für Arbeit, des Bewerbungszwangs und der Zumutbarkeitsregel, der Zwangsverbringung von Erwerbslosen in prekäre Arbeitsverhältnisse und von SozialhilfebezieherInnen in gemeinnützige Arbeit und Praktika, der Streichung der originären Arbeitslosenhilfe und der möglichen Verschmelzung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. Alle diese Maßnahmen wirkten als direkter und indirekter ökonomischer Zwang zur Akzeptanz verschlechterter Arbeitsbedingungen; sie führten – nicht zuletzt auch über das Lohnabstandsgebot – zu einer Spirale der gesellschaftlichen Entwertung von Arbeit und der Lohnsenkung. In diesem schlicht funktionalen Zusammenhang, das schien auch in der Diskussion allen klar, betreffen sie alle Lohnabhängigen, weshalb auch die einzige positive Forderung nach Anhebung der Leistungen für Arbeitslose und der Regelsätze für Sozial hil febezieherInnen unmittelbar einleuchtend schien. Die Anrechnung des Kindergeldes auf die Sozialhilfe wiederum wurde als spezifische Benachteiligung von SozialhilfeempfängerInnen kritisiert; derzeit laufe dazu eine Kampagne der BAG-SHI, um diese Ungerechtigkeit aufzuheben. Die Aufgabe des Bedarfsdeckungsprinzips durch die Pauschalierung von Sozialleistungen mit stärkerer Disposi tions‘freiheit’ der Individuen, die – trotz aller Unzulänglichkeiten der bisherigen Art der "Bedarfsermittlung", so Cora Molloy – im Zusammenhang mit der ideologischen Aufrüstung des Eigenverantwortungsprinzips abzulehnen sei, wurde dagegen in der späteren Diskussion kaum aufgegriffen; hier hat wohl eine Beschäftigung mit dem Thema – ähnlich wie mit den Vorstellungen und Fallstricken zu Formen eines garantierten Einkommens – in der Gewerkschaftslinken noch kaum stattgefunden. Selbstkritisch schloss man sich aber der – ebenfalls selbstkritischen – Feststellung an, dass die beiden letzten Forderungen in der Praxis sowohl von Sozialhilfe-Inis als auch Gewerkschaften kaum eine Rolle spielten: die Streichung des Asylbewerberleistungsgesetzes und Rückführung der Betroffenen in das BSHG sowie eine menschenwürdige Ausgestaltung der Asylkriterien.

Andreas Bachmann wies in seinem Beitrag darauf hin, dass die Alterssicherung neben dem Bereich der Sozialhilfe und der Arbeitsmarktpolitik zum zentralen Terrain des neo-liberalen Umbaus des Sozialstaats werde. Neben der befristeten Entkopplung der Rentendynamisierungen von der Nettolohnentwicklung führe das vom Arbeitsminister ins Gespräch gebrachte "Zwangssparen" und die zusätzliche Belastung der ArbeitnehmerInneneinkommen durch alle Varianten von Tariffonds zu einer Senkung der Rentenansprüche in der Zukunft.

Profiteure dieser Strukturreformen seien die Arbeitgeber, die sich sukzessive aus der paritätischen Alterssicherung zurückziehen könnten, und die rot-grünen AusteritätspolitikerInnen, weil die Bundeszuschüsse an die Soziale Rentenversicherung an die (Höhe der) Beitragssätze gekoppelt sind.

Die von den Gewerkschaften in die rentenpolitische Diskussion eingebrachten Tariffonds seien trojanische Pferde, die einen "Systemwechsel" in der Alterssicherung brächten: die Abkehr von der solidarischen Rentenversicherung per Umlage hin zur kapitalgedeckten Alterssicherung mit allen Risiken und Problemen. Die schon bestehenden Ungerechtigkeiten in dem Alterssicherungssystem der BRD – Diskriminierung von weiblichen Erwerbsbiographien, Ungleichheit im und durch das nicht flächendeckende Betriebsrentensystem – würden eskalieren.

Hier tue sich ein Abgrund an sozialpolitischer Absurdität auf. Würde die rot-grüne Koalition die rentenrechtlichen Verschlechterungen (Erhöhung der Altersgrenzen), die teilweise von den Gewerkschaften im 96er Bündnis für Arbeit mitgetragen wurden, rückgängig machen, stelle sich das Problem der Zumutbarkeit bei vorgezogener Alterssrente (Abschläge von bis zu 18 Prozent) in weniger scharfer Form. Eine rentenversicherungsinterne Strategie der "Vorruhestandspolitik" könne mit einer moderaten Erhöhung der Beitragssätze, höheren Bundeszuschüssen und echter paritätischer Finanzierung durch die Arbeitgeber ermöglicht werden. Ein solches Lösungsmodell sei universaler und egalitärer als externe tarifliche Lösungen. Bedauerlich sei es, dass das legitime Bedürfnis vieler ausgelaugter Beschäftigter, vorzeitig in Rente zu gehen, in der Argumentation der IGM arbeitsmarktpolitisch verbrämt werde. Nennenswerte beschäftigungspolitische Effekte ließen sich aber nur über allgemeine Arbeitszeitverkürzung und drastische Begrenzung der Mehrarbeit erreichen. Die Bedürfnisse nach einem vorzeitigen Ausstieg müssten durch allgemeine rentenrechtliche Reformen befriedigt werden und seien ein Indiz für einen tarif- und betriebspolitischen Nachholbedarf in Sachen Humanisierung der Arbeitsbedingungen. Doch hier setze sich das Muster politischen Outsourcings im Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit fort: Allgemeine sozialpolitische Probleme, Interessen- und Konfliktlagen würden aus der politischen Arena ausgelagert und in diesem Fall an die Tarifpolitik delegiert. Die Tarifpolitik sei aber strukturell nicht in der Lage, ein allgemeines gesellschaftspolitisches Problem – hier die solidarische Reform der Alterssicherung – zu lösen.

Die lebhafte und ungewohnt sensible Diskussion zu den beiden Beiträgen brachte zwar keine Klärung in allen oben genannten Fragen. Offen blieb etwa das Problem, warum es zwar offenbar an gutem Willen und Aufmerksamkeit gegenüber den Problemen der jeweils "anderen Klientelen" von Gewerkschaften und Erwerbslosen- bzw. Sozialhilfeinitiativen nicht zu fehlen scheint, doch praktische Solidarisierung allein über die abstrakte Einsicht in einen funktionalen Mechanismus der Lohnsenkung eher selten sich herstellt. Dass dies mit dem "Fetisch Arbeit" zu tun habe, war keine Einzelvermutung. Und dass hier zwar die Absicht, "sich gegenseitig auf die Tagesordnung" zu setzen und "symbolische Formen der Politik" (?!) wie die Öffnung der Vertretungsstrukturen für Erwerbslose und deren Anerkennung als Personengruppe innerhalb der Organisationsstruktur der Gewerkschaften wichtige Voraussetzung seien – doch dass für den "sozialen Prozess gemeinsamer politischer Willensbildung" ein langer Atem nötig sei, schien auch immer wieder durch. Die in der alten Debatte um das "Recht auf Arbeit(splätze?)" vs. das Recht auf Faulheit durchscheinenden Positionen haben eben auch etwas mit ganz anderen kulturellen und sozialen Orientierungen zu tun, die sich nicht einfach wegdekretieren oder -wünschen lassen. "Kein Vorleistungszwang" für das Robespierrsche "Recht auf Existenz" ist eben kein Allgemeinplatz. Unstrittig war dagegen, dass es einfache Regeln und Maßnahmen für die immer wieder eingeklagte "praktische Solidarität" gibt: nämlich wenigstens die, an der Schraube von Verschlechterungen sozialer Standards nicht weiter zu drehen, sofern man die Schlüssel noch in der Hand hat. Und das hieß für die meisten: dass die Gewerkschaften sich gefälligst an die eigene Nase greifen und ihr Geschäft handwerklich anständig erledigen sollten: keine Rente mit 60 zu den Konditionen des Tariffonds, keine Akzeptanz von Niedriglöhnen, Einstiegslöhnen und Wettbewerbsbündnissen.

Erschienen in: express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Nr. 11-12/1999