"Wie wär’s mit einer gesellschaftlichen Tarifpolitik?"

Das "Forum Tarifpolitik" hat die Debatte erst eröffnet / Von Martin Dieckmann

Fast die Hälfte der TeilnehmerInnen der 2. Konferenz der Gewerkschaftslinken fand sich im Forum Tarifpolitik wieder. Eine Arbeitsgruppen-Diskussion konnte so nicht zustande kommen, es blieb bei einer Reihe von Stellungnahmen nach dem einleitenden Referat von Michael Schlecht (IG Medien). Immerhin reichen diese Stellungnahmen aus, um Schwerpunkte der Debatte feststellen zu können, freilich auch die Defizite.

Zunächst bilanzierte Michael Schlecht die tarifpolitischen Erfahrungen der vergangenen zehn Jahre: Seit Anfang der 90er befänden sich die Gewerkschaften dauerhaft in der Defensive, die Unternehmer wären erstmals zu Gegenangriffen übergegangen, Tarifziele würden kaum noch erreicht. Dem läge nicht einfach ein konjunkturelles Tief zugrunde, sondern ein "epochaler Bruch", der unter den verantwortlichen Tarifpolitikern kaum wahrgenommen würde. Stattdessen herrsche die naive Hoffnung auf eine konjunkturelle Kehrtwende vor: ‘warte nur auf bessre Zeiten ...’ Den "epochalen Bruch" machte Schlecht an der "strukturellen Überakkumulation" fest, die auf die jeweiligen Binnenverhältnisse verweise und weniger auf die viel beschworenen Faktoren der "Globalisierung".

Tarifpolitik, so Schlecht, habe ihre "Zentralität" verloren. Für die Linke in den Gewerkschaften müsse es darum gehen, mehrere "Politik-Felder" zu besetzen und zusammen zu halten, worunter im Einzelnen zu verstehen sei: ein betriebspolitisches Konzept, das Betriebsarbeit zuallererst überbetrieblich (innerhalb einer Branche und "entlang der Konkurrenzbeziehungen des Kapitals") organisiert. Zu dieser Betriebspolitik müsse dann das traditionelle Feld der Tarifpolitik hinzu treten. Wobei hier echte "Erfolgserlebnisse" notwendig seien – gerade in Lohnrunden. Dies begründete er dann auch wirtschaftspolitisch mit der Stärkung der Binnennachfrage. Demgegenüber sei die Arbeitszeitverkürzung in den Betrieben aufgrund der Erfahrungen mit Lohnverlusten und der Intensivierung der Arbeit derzeit äußerst unpopulär. Als drittes "Politik-Feld" führte Schlecht schließlich den "politischen Kampf der Gewerkschaften" an, zu dem er unter anderem Initiativen für gesetzliche Regelungen (etwa in der Frage eines Mindestlohns oder in Arbeitszeitfragen) zählte.

Viel Zuspruch fand Michael Schlecht nicht, was schon mit der Bewertung der gewerkschaftlichen "Defensive" begann. Diese Defensive, so wurde eingewandt, sei zu großen Teilen hausgemacht; selten seien Lohnrunden so "politisiert" gewesen wie in den vergangenen zehn Jahren – "politisiert" durch die Streikenden selbst. Aber das sei von der Linken gar nicht aufgegriffen worden. Stattdessen erginge sie sich wie die Apparate in "Larmoyanz". Also schlug die Stunde neuer Losungen: Die "Rekonstruktion einer politisierten Lohnpolitik" (Helmut Schauer) wurde eingefordert; Bernd Riexinger (hbv Stuttgart) sah ebenfalls die Lohnpolitik im Zentrum, freilich als Bestandteil eines "radikalen Zukunftsprojektes" – womit er die Herstellung einer "gesellschaftlichen Stimmung" zugunsten einer gesamtgesellschaftlichen Umverteilung meinte.

Wurde also von einem Großteil der Redner die Wiederherstellung eben jener abhanden gekommenen "Zentralität" der Lohnpolitik eingefordert, freilich im Zusammenhang einer "Politisierung" oder eines radikalen "politischen Projektes", so bleibt doch dabei völlig unklar, wie das zustande kommen soll. Wie bisher verweist ein "Politik-Feld" aufs andere, ohne dass der innere Zusammenhang deutlich wird. So wenig nämlich bestritten werden kann, dass die Lohnrunden bislang äußerst "politisiert" waren – einfach aufgrund der gesellschaftlichen "Stimmung" gegen die Umverteilungspolitik "von unten nach oben" –, so wenig einsichtig ist es, dass eine derartige "Politisierung" wiederum durch Lohnpolitik eine nachhaltige gesamtgesellschaftliche Umverteilung herbeiführen kann.

U ntergründig deutete sich noch ein anderer Konflikt an, der nicht ausdiskutiert werden konnte, sich aber in einzelnen Beiträgen abzeichnete. Wen erreicht gewerkschaftliche Tarifpolitik überhaupt noch? Ein Sprecher der IG Medien Dortmund brachte es schlank und polemisch auf den Punkt: wenn schon Politisierung der Lohnpolitik, dann als "gesellschaftliche Tarifpolitik", die die gesamten Reproduktionskosten (Mieten usw.) einschließen müsste. Dass das im Ernst nicht mehr Tarifpolitik sein kann, ist klar, aber in dieser Zuspitzung wird wenigstens auf alle Elemente des Masseneinkommens und die Gesamtheit der Reproduktionsbedingungen hingewiesen. Diese werden nämlich gar nicht – mehr – in Gänze von der Tarifpolitik erreicht, sondern fallen bereits – weitgehend abgekoppelt – in den Bereich der So zialpolitik.

Genau an dieser Frage, nämlich der Verbindung oder Vermittlung von Tarif- und Sozialpolitik, tat sich in diesem Forum dieselbe Leerstelle auf wie andernorts bei ähnlichen Debatten. Bleiben die einen dabei, lediglich eine "aktive Klassenbewegung in den Betrieben" könne das gesamte Kräfteverhältnis verändern, womit also auf die noch existierende Mobilisierungsreserve gewerkschaftlicher Politik gesetzt wird, bestreiten andere, dass dies noch den realen Kräfteverhältnissen entspreche. Dieser Einwand wurde noch durch den Hinweis verstärkt, dass die gewerkschaftliche Tarifpolitik im real existierenden Niedriglohnsektor schon lange dazu beigetragen hat, erheblichen Druck auf Sozial- und Arbeitslosenhilfe auszuüben. Dass dann ausgerechnet das Riester-Zwickel-Modell des Tarif-Rentenfonds als Ansatzpunkt für eine Verbindung von Tarif- und Sozialpolitik empfohlen wurde, war ein denkbar schlechter Rückzug aufs ‘business as usual’. Unfreiwillig bestätigt wurde damit die ebenfalls laut gewordenen Kritik, Tarifpolitik erfasse immer mehr nur das Klientel der deutschen, männlichen Facharbeiter im Vorruhestandsalter.

Bleibt eine weitere Fragestellung, die kontrovers diskutiert wurde: Soll man sich als Gewerkschaftslinke – angesichts der deutlich eingeschränkten tarifpolitischen Einflussnahme aufs sozialpolitische Kräfteverhältnis – auf Forderungen nach gesetzlichen Mindestlöhnen einlassen? Einerseits empörte Zurückweisung durch diejenigen, die sich ihrer Mobilisierungsreserven in der Tarifpolitik sicher sind; ernste Warnungen vor der Abkoppelung einer Klientel-bezogenen Tarifpolitik vom "politischen Kampf" um soziale BürgerInnenrechte andererseits. Dass Menschen, die in ihrer alltäglichen Praxis sehr viel mit Sozial-Initiativen zu tun haben und dementsprechend weit entfernt von der immer noch recht routinierten Tarifpolitik leben und arbeiten, derartige Forderungen an den "politischen Kampf" (Michael Schlecht) stellen, sollten Tarifpolitiker ernst nehmen. Dies dann als "Staatsfixierung" abzutun, ist etwas zu billig, wenn der Vorwurf von Leuten kommt, deren Praxis sich weitgehend auf regulierte Tarifbereiche beschränkt. Und ob sich Erfolge in diesen tarifpolitisch regulierten Bereichen überhaupt noch auf das gesamte Masseneinkommen auswirken, bleibt als Frage zumindest offen.

Erstes Fazit dieser kurzen Debatte mit vielen Fragen und zwangsläufig verschwommenen Antworten: Niemand sollte sich mehr sicher sein, dass dieses oder jenes "Politik-Feld" für die Gesamtheit der sozialen Auseinandersetzung einzig "zentral" ist. Jedenfalls stimmt die Beschwörung der Tarifrunden samt Streiks als Bewusstein fördernde Situation eher nachdenklich, wenn sich diese Kämpfe laufend um sich selber drehen und derweil ganz locker große Teile der Lohnabhängigen aus der Klassensolidarität entlassen werden. Die verschiedenen Thesen und Einwände haben aber jeweils für sich durchaus Bestand und werden dadurch doch noch nicht zu einem Zusammenhang, also zum "radikalen Zukunftsprojekt".

Unter zwei Voraussetzungen kann sich das, zumindest langfristig, ändern. Was derzeit kontrovers gegeneinander diskutiert wird, muss auf den inneren Zusammenhang verschiedener Ansätze hin untersucht werden. Zum anderen wird noch viel zu wenig darüber gesprochen, was denn die eigentlich Handelnden selbst zur Bewegung bewegt, also die KollegInnen, und wie denn die Auseinandersetzungen – und damit auch die Konfrontation – mit den KollegInnen herbei zu führen sind, damit sie selbst nicht nur für sich, sondern für alle anderen handeln. Letzteres wäre dann wirklich das Ende der tarifpolitischen Routine und der Ansatz eines "politischen Kampfes", der die Grenzen der Lautsprecherpolitik überschreitet. Sonst wird auch das eingeforderte "radikale Zukunftsprojekt" ein Glaubensbekenntnis bleiben, dessen Text niemand kennt.

Erschienen in: express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Nr. 11-12/1999