Mehr als 300 Menschen waren zum zweiten bundesweiten Treffen der Gewerkschaftslinken am 3./4.12. 1999 nach Stuttgart gekommen. Eine erkleckliche Anzahl und vor allem ein buntes Spektrum der Linken, die sich auf Gewerkschaften beziehen, diskutierten im Gewerkschaftshaus über die Zukunft von Tarif- und Sozialpolitik und Mitbestimmung.
Beginnen wir einfach mit dem Ende der Veranstaltung: Drei verbindliche Verabredungen "der" Gewerkschaftslinken, von einem Vertreter des Arbeitsausschusses vorgetragen, fanden den ungeteilten Beifall der Versammlung. JedR konnte sich in den Vorschlägen wieder finden; die jeweilige Gewichtung wird bei den beteiligten Akteuren sicherlich unterschiedlich ausfallen. Man hatte allerdings nicht den Eindruck, dass es sich lediglich um Formelkompromisse handelt. Vielmehr zeigten sich die VertreterInnen des zwischen den Konferenzen tagenden Arbeitsausschusses (zusammengesetzt aus Vertreterinnen lokaler Foren und den Redaktionen von express und Sozialismus) Aufgabe bewusst und vor allem gewachsen, die mitunter sehr starken Divergenzen innerhalb "der" gewerkschaftlichen Linken auszuhalten. Vielleicht gelingt es sogar, einen solchen Prozess produktiv zu gestalten. Mein erster Eindruck: dies scheint möglich, wenn es gelingt, die getroffenen Verabredungen in die Praxis umzusetzen.
Die nächste Zeit soll genutzt werden, um lokale Netzwerke der Gewerkschaftslinken zu initiieren bzw. dort, wo sie, wie im Raum Stuttgart, schon bestehen, zu pflegen und auszubauen. Diese Netzwerke der Gewerkschaftslinken, so der Vorschlag bzw. der gestellte Anspruch, sollen sich für soziale Initiativen und Erwerbslosengruppen vor Ort öffnen. Weiter wird eine Aufgabe sein, die begonnene Diskussion über den Zustand der Gewerkschaften, der Gewerkschaftslinken im Besonderen und des Kapitalismus im Allgemeinen weiter zu führen. Der Arbeitsausschuss soll dafür sorgen, dass diese Debatte publiziert und damit nachvollziehbar geführt wird. Mit express und Sozialismus stehen dafür zwei Printmedien unterschiedlicher Strömungen der gewerkschaftlichen Linken zur Verfügung, die sich um den momentanen Prozess verdient gemacht haben. Mit www.labournet.de gibt es darüber hinaus ein elektronisches Medium zur Unterstützung des Diskussionsprozesses (By the way: wir werden auch am Ball bleiben). Die dritte Verabredung wird dem Kreis die meisten Schwierigkeiten bereiten: nämlich eine große Demonstration (in Berlin?) auf den Weg zu bringen. Damit wurde zwar der im Saal teilweise vorhandenen Stimmung nach Aktion Rechnung getragen, im unklaren blieb aber sowohl Adressat als auch Zielsetzung einer solchen Demonstration. Hier wird der Arbeitsausschuss noch einiges an Vorleistung erbringen müssen.
Bernd Riexinger, geschäftsführender Sekretär der hbv in Stuttgart und einer der Initiatoren der Veranstaltung, stellte in seinem Fazit einen erheblichen Fortschritt innerhalb des jungen Netzwerkes fest. Zwar seien hohe Ansprüche und eine große Ungeduld spürbar, gleichzeitig aber auch eine hohe Bereitschaft zu Differenziertheit und Integration. Dies dürfe aber nicht mit einem Druck hin zur Vereinheitlichung verwechselt werden. Insbesondere die Genossen aus dem "revolutionärerem" Spektrum drängten stark in Richtung Organisationsansatz und Festschreibung einer Linie, dabei die große Unterschiedlichkeit der Ansprüche der Versammelten negierend. Hier spukt immer noch der Gedanke in den Köpfen, dass die Arbeiterklasse ein Teil der Lösung und nicht ein Teil des Problems darstellt. Genau über solche Fragen wird sich die gewerkschaftliche Linke weiter auseinander setzen müssen, will sie nicht der Versuchung erliegen, nur eine korrupte und bürokratische Gewerkschaftsspitze für die Schwäche linker (reformistischer?, revolutionärer?) Politik verantwortlich zu machen.
In vielen Diskussionsbeiträgen wurden die Ebenen des Agierens verwechselt. Man sah sich als ideeller Gesamtgewerkschafter ("die Gewerkschaften müssten") und reflektierte kaum, dass die gewerkschaftliche Linke aus einer (extremen) Minderheitenposition heraus agiert, verbunden mit erheblichen Unterschieden in den politischen Vorstellungen. So wird von einem großen Teil eine aktive intensive Einbeziehung von sozialpolitischen Fragestellungen in die gewerkschaftliche (auch in die linke) Arbeit gefordert, andere wollen sich auf die reine Tarifpolitik beschränken, andere sie "politisieren". In der "Tradition" einer radikalen Linken ("Wir wollen alles") wurde eine Diskussion um eine "gesellschaftliche Tarifpolitik" eingefordert, die alle Reproduktionskosten berücksichtigt und darüber hinaus auch ernsthaft die Frage nach dem Sinn und Zweck der Produktion wieder auf die Tagesordnung setzt. Eine Position die in Stuttgart durchaus Beifall im Auditorium fand. Andere wiederum sehen großes Mobilisierungspotenzial in einer stärkeren Betonung der gesamtgesellschaftlichen Umverteilung in der Tarifpolitik. Nicht nur in dieser Frage besteht also erheblicher Diskussionsbedarf innerhalb der gewerkschaftlichen Linken.
Die nächste Konferenz wird in einem halben Jahr stattfinden. Einmischung ist erwünscht.
gw.
Erschienen in: ak analyse & kritik 433 vom 16. Dezember 1999