Es schien, als hätte es die politische Rechte geschafft, die politische Sozialdemokratie bis zur Bedeutungslosigkeit zu dezimieren und den sozialdemokratischen Parteien ihre soziale Identität zu rauben.
Angesichts der neueren Entwicklungen in der Sozialdemokratie hatte Bodo Zeuner den Bruch dieser mit der Arbeiterbewegung diagnostiziert (vgl. FR, 17.06.1999). Im Blair/Schröder-Papier werde auf "fast alle Dogmen von Neolibera-lismus, ökonomischer Angebotstheorie, Marktabsolutismus und Konkurrenzverschärfung – einschließlich der sozialdarwinistischen Implikationen" gesetzt. Mit Michael Wendl (ÖTV Bayern) ließe sich schon an dieser Stelle fragen, was dies vom Mainstream der Gewerkschaftspolitik unterscheidet, dem Wendl bereits vor einigen Jahren den Übergang zur "angebotspolitischen Wende" im Felde der Tarifpolitik attestiert hatte (vgl. Prokla 104).
Zeuner fordert demgegenüber ein "Programm, das wirklich handlungsanleitend ist" (Hervorh. A.D.) und plädiert für ein "Bündnis für Arbeit", in dem sich die Gewerkschaften als "politische Gestaltungspartner" einbringen könnten. Diese Alternative bewegt sich allerdings ebenfalls noch auf dem Terrain autoritärer und korporatistischer Politik, deren Tradition in Deutschland über die "Konzertierte Aktion" bis zur DAF reicht.
Zeuner glaubt, den Bezug auf die Tradition der Arbeiterbewegung, in der die SPD stehe, anmahnen zu müssen. Hier wäre zu fragen, welche Arbeiterbewegung gemeint ist und wie sich das traditionelle Verhältnis der sozialdemokratischen Partei zu ‘ihrer Bewegung’ gestaltete.
Die linken, revolutionären, gar marxistischen Elemente der ArbeiterInnenbewegung waren innerhalb der SPD immer minoritär. Von der marxistischen ‘Tradition’, die im Anfang der Parteigeschichte oft nur zur Legitimation der organisato rischen Einheit ("Zentrismus") gebraucht wurde, hatte sich die SPD schon vor 1914 verabschiedet. Wenn Zeuner heute beklagt, dass die "Arbeitsteilung zwischen SPD und Gewerkschaften endgültig ihre Grundlage" verlöre, so war die "Trennung von politischem und ökonomischem Kampf" lange ein wesentlicher Kritikpunkt der so zialdemokratischen Linken an eben jenem Arbeitsteilungskonzept der Mehrheitssozialdemokratie und der Gewerkschaften. Zu erinnern ist auch an Rosa Luxemburgs Rede von den Bemühungen der Gewerkschaften als "Sisyphusarbeit". Die mit der Organisation als Gewerkschaft gesetzte Strategie ökonomisch-immanenter Interessenvertretung ausgewählter ArbeiterInnenschichten entbehrt als solche ohnehin der politischen, gar der revolutionären Perspektive. Und der politische Standort der Gewerkschaften selbst lag nicht nur zu Luxemburgs Zeiten deutlich rechts von linken sozial-demokratischen Positionen.
Ist die Politik des "dritten Weges" der modernen Sozialdemokratie also eine Abkehr von sozialdemokratischer Politik? Bodo Zeuner spricht hier von einem "Qualitätssprung", den die Sozialdemokratie 1999 vollzogen hätte, ein Qualitätssprung wie auch schon 1959 mit dem Godesberger Programm. Die Debatte geht also darum, ob es sich bei dieser ‘Evolution’ sozialdemokratischer Programmatik um einen Ausdruck selbstkritischer Modernisierung oder um einen grundlegenden Prinzipienwechsel handelt. José Vidal-Beneyto beschreibt die im Blair/Schröder-Papier vorgestellte neue Orientierung als "Privatisierung" der Sozialdemokratie. Solche Politik sei "weder neu noch sozialdemokratisch". Sie bedeute einen "Schlussstrich unter den Anspruch der Sozialdemokratie, eine deutliche linke Alternative zu der fragwürdigen Koexistenz von kapitalistischem System und demokratischer Regierungsform zu bieten". Und er fügt hinzu: "Denn diese Koexistenz ist keineswegs ein Wesensmerkmal der Demokratie" (Le Monde diplomatique, 7/99). Auch Daniel Bensaid sieht eine "Abwendung von der klassischen sozialdemokratischen Politik". Die neue Politik besteht für ihn darin, dass diese sich "von der alten Linken mit ihrer keynesianischen Nachfragesteuerung, ihrer Beschränkung der Rolle des Marktes, ihrem Gleichheitsideal, ihrer Vollbeschäftigungspolitik und ihrem Festhalten an einem homogenen Arbeitsmarkt" endgültig verabschiedet habe (Le Monde diplomatique, 12/98). Streiten ließe sich darüber, was die "klassische" bzw. "traditionelle" Sozialdemokratie in historischer Perspektive eint: ihre Alternativstellung zu Kapitalismus und bürgerlicher Gesellschaft oder ihre Organisation als parlamentarische Partei sowie dieser entsprechende politische Vorstellungen, und das heißt vor allem: die Idee der Versöhnung bürgerlicher Politik mit bürgerlicher Ökonomie?
Der Frankfurter Rundschau war die Debatte um die neue So zialdemokratie ebenfalls Anlass, eine Beitragsreihe zu publizieren, in der sie nach den Unterscheidungen von links und rechts suchen ließ. In ihrem eigenen Kommentar zieht sie ein Fazit vorweg: "Das meiste von dem, was da von Europas Sozialdemokraten als neuer Weg gepriesen wird, erzählen CDU und FDP schon lange. Dafür braucht man keine SPD." (FR, 09.06.1999). Doch weit gefehlt! Wie wichtig gerade die SPD für die besonderen Aufgaben der Modernisierung im Rahmen anstehender Qualitätssprünge ist, hat sich in der Vergangenheit immer wieder gezeigt und wird auch an den Debattenbeiträgen deutlich. Im Kern geht es dabei um das auf Integration angelegte Versprechen einer Versöhnung von "Freiheit, Gleichheit und Bentham", also der politischen Prinzipien bürgerlicher Gesellschaft mit ihren sozialen Grundlagen. So bekennt Annelie Buntenbach (Bündnisgrüne MdB): "Der Kern des linken Politikprojekts ist für mich, Freiheit und Gleichheit nicht nur im formalrechtlichen Sinn durchzusetzen, sondern auch in der sozialen Realität" (FR, 24.07.99). Und auch Gerd Weisskirchen (SPD MdB) sieht Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit als "Zielhorizonte" der Demokratie, wobei er Demokratie als politische Form der Aufklärung und als "Bezugsrahmen der Moderne selbst" begreift (FR, 23.07.99). Die Verweise auf Aufklärung und Demokratie ergänzen hier den bürgerlichen Reigen. Für die Geschichte der Arbeiterbe- wegung hält Weisskirchen dabei fest, dass diese sich schon vor dem Ersten Weltkrieg in "Staatssozialis ten" und "Anhänger eines ‘Sozialismus von unten’" trennte. Anzu-merken bleibt, dass auch für die Parteigeschichte der SPD nur erstere Tradition relevant wurde. An-schließend an das Verständnis von aufklärerischer Modernität als Vereinbarkeit sozialer Gerechtigkeits- und politischer Freiheits- und Gleichheitsversprechen, meint schließlich auch Michael Müller (SPD), die Sozialdemokratie stehe "in der Tradition der europäischen Moderne, geprägt von den Ideen der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität" (FR, 09.08.99).
Eine offensiv anti-sozialdemokratische Perspektive auf die Sozialdemokratie kommt dagegen zum Vorschein, wenn Politiker der SPD-Rechten wie Florian Gerster ‘linken’ Genossen wie Rudolf Dreßler (SPD) vorwerfen, er wolle sozialdemokratische Politik "nur" am Arbeitnehmerinteresse orientieren (FR 29.07.99). Die SPD ist "Volkspartei", und dieses Volk gibt es nur als ein Volk, hier kennt man keine Klassen. Dreßler selbst kann dem nur entgegensetzen, dass die SPD sich von anderen Volksparteien dadurch unterscheide, dass sie "eine politische Seele" habe (FR, 25.06.99).
Klagen darüber, dass "die erfahrenen Staatsmänner der Sozialdemokratie kein Wort mehr über soziale Interessengegensätze zwischen Reich und Arm" verlören, kombiniert mit dem Ruf nach "Leitbilder[n], die die Menschen mobilisieren", so der Juso-Bundesvorsitzende Benjamin Mikfeld, verweisen auf keinen grundsätzlich anderen Zugang zur Politik. Auch den linkssozialdemokratischen KritikerInnen des Kanzlerkurses – von Mikfeld bis Müller – geht es um den Zusammenhalt dieser unserer Gesellschaft und ihrer ökonomischen und politischen Bedingungen. Im positiven Bezug auf die Werte und Vorstellungen der französischen Revolution reproduzieren sich dann auch auf der Ebene der Programmatik der Sozialdemokratie die Konflikte und Widersprüche bürgerlicher Gesellschaften.
Der als "Jospin-Papier" apostrophierte Text "Auf dem Weg zu einer gerechteren Welt" nimmt dieses Dilemma auf und will ein "kritisches Verhältnis zum Kapitalismus aufrechterhalten". Kritisch in dem Sinne, dass den radikalen Marktliberalen und ihrem ideologischen Anti-Etatismus vorsichtig entgegengetreten wird. Festzuhalten bleibt dagegen, dass der Staat das tun muss, was seiner – widersprüchlichen – bürgerlichen Bestimmung entspricht – die Politik bestimmt die Leitlinien und passt diese den Entwicklungen der Marktgesellschaft an: "Wir müssen also die Formen der Regulierung bestimmen, die das neue Zeitalter des Kapitalismus erfordert." Schlussendlich präsentieren sich auch die französischen SozialistInnen als programmatische BürgerInnen: "Die Dynamik, die uns eint, gründet sich vor allem auf die Werte, die wir verteidigen. Die drei Grundsätze der Französischen Revolution. ‘Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit’ [...] liegen weiterhin unserem Engagement zugrunde." (FR, 28.10.99)
Wenn linke KritikerInnen diesen einseitig positiven Bezug auch der Sozialis tInnen auf den bürgerlichen Werthorizont problematisieren, geraten sie jedoch allzuoft aufs Glatteis: "Die Erbschaft des historischen Sozialismus – sowohl in sozialdemokratischer wie in kommunistischer Tradition – besteht noch immer im Tausch der Freiheit gegen die Gleichheit." (Martin Dieckmann in express 9/99) Diese Einschätzung Dieckmanns trifft – eingeschränkt – eine spezifische sozialistisch kommunistische Tradition, von der er sich einerseits distanziert, deren Essen-tials er aber andererseits teilt. Er wirft der Linken ein "Verharren in diesem Diskurs sozialer Gleichheit ohne freiheitliche Dimension" vor und fordert sie auf, sie solle sich um "eine links-sozialistische, libertäre Alternative" be mühen. Seine Argumentation zielt darauf, Freiheit und Gleichheit politisch zu versöhnen, sie ins Gleichgewicht zu bringen. Dies ist genuin westlich-sozialdemokratische Programmatik in ihrem Versuch, in der politischen Bearbeitung der ‘sozialen Frage’ auf autoritäre Staatswirtschaft zu verzichten.
Ausgesprochen ist damit aber auch ein zentraler Widerspruch bürgerlicher Gesellschaften: die Verwirklichung nicht nur politischer, sondern sozialer Gleichheit und universeller Freiheit widerspricht deren grundlegenden Prinzipien, aber sie bringt zugleich genau diese Forderung sozialer Gleichheit und emanzipatorischer Freiheit immer wieder hervor.
Die (sozialen) BürgerInnenrechte bleiben jedoch zuerst Modalitäten des Kapitalismus. Sollte es der Linken nicht um mehr als um die Regulation dieser Modalitäten des Kapitalismus gehen? Was sollten jene "sozialen BürgerInnenrechte" sein, um deren "praktische, organisierte Aneignung" es für Dieckmann geht? Der "Praktizismus" der libertären Tradition allein kann die Defizitantät und Widersprüchlichkeit bürgerlicher Werte nicht überwinden. Dass die bürgerliche Gleichheit ein Betrugsgeschäft an den unteren Ständen ist, weil sie von ihren sozialen Voraussetzungen abstrahiert, artikulierte bereits das revolutionäre Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts. Von hier aus ging die sozialistische Forderung nach der wirklichen, weil auch sozialen Gleichheit. In der – auch von Dieckmann benannten – Perspektive einer "Aneignung" dieser sozialen Gleichheit müsste dann die des Rechts wie der Staatlichkeit ebenfalls aufgehoben werden.
Die Anziehungskraft der Sozialdemokratie und ihrer ideologischen Wurzeln bestätigend, meint schließlich auch Gregor Gysi, der Anspruch des demokratischen Sozialismus sei die "Durchsetzung der sozialen und politischen Menschenrechte". Er wolle, so schreibt er weiter in dem jüngsten Positionspapier "Gerechtigkeit ist modern", "die Gleichheit in der Freiheit" (<www.pds.de>, August ’99). Damit hat auch die PDS ein modernes sozialdemokratisches Programm vorgelegt – und will hier tatsächlich eine Lücke ausfüllen. Die "Entwicklungspotenziale des Wettbewerbs" gelte es von der "Dominanz der Kapitalverwertung zu befreien". Gysi setzt auf politische Steuerung, will andere Märkte und neue, sozial-ökologische Rahmenbedingungen. Auch ein Essential klassisch-sozialdemokratischer Politik, dass die "Verfügungsmacht über Kapitaleigentum dort beschnitten wird, wo sie dem Gemein-wohl interesse zuwiderläuft", findet sich. Ein Gedanke, der sich bereits in unserem Grundgesetz findet – alles weitere ist Auslegungssache. Hält man jedoch an der Perspektive der Kritik am Kapitalverhältnis fest, so ist das ‘Eigeninteresse’ grundsätzlich die Verneinung des ‘Gemeinwohls’.
Gemeinwohlschädigend ist der Kapitalismus, wo er unklugerweise seine Funktionsvoraussetzungen, Arbeiter und Erde, untergräbt. Dagegen (oder besser dafür) entwirft Gysi ein Stützensystem, welches ökologische Degradation und soziale Desintegration verhüten soll. Der abgetretene Sozialdemokrat Lafontaine brachte dies auf das schöne Bild vom Kapitalismus, der auf dem sozialen und ökologischen Auge blind sei. Diesem Blinden will jede Sozialdemokratie gerne Stock und Hund sein.
Erschienen in: express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Nr. 11-12/199