Vertreterversammlung der IG Metall-Verwaltungsstelle Wiesbaden-Limburg am 24. September 1998

Entschließung zur Weiterleitung an die regionale Tarifkommission und an den Vorstand der IG Metall (Abteilung Tarifpolitik)

  1. Arbeitslosigkeit ist heute das größte Übel in unsrer Gesellschaft. Für die direkt Betroffenen bedeutet es immer sozialen Abstieg, zumeist auch Armut und soziale Ausgrenzung. Ganz schlimm ist dies für junge Menschen, die überhaupt keinen Einstieg ins Berufsleben finden.

  2. Für die indirekt Betroffenen - und das sind wir alle - bedeutet es vor allem eine schwache Position im Betrieb. Man/frau leistet sich kaum, zu einem schlechten Arbeitsvertrag nein zu sagen. Man muß nämlich Angst haben, sonst überhaupt keinen Arbeitsplatz zu bekommen, bzw. durch andere ersetzt zu werden. Dies hat auch zur Folge, daß das allgemeine Arbeitstempo und der Streß ständig gesteigert werden, weil kaum Widerstand zu erwarten ist. Verletzungen von Arbeitsschutzbestimmungen werden hingenommen, weil man Angst um den Arbeitsplatz hat, und so weiter und so fort.

  3. Zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit bieten sich im wesentlichen 2 Achsen an:

  1. Der DGB fordert zurecht eine staatliche Beschäftigungspolitik. Ganz gleich jedoch mit welcher Regierung wir es in Zukunft zu tun haben werden: Keine wird eine weitreichende Umschichtung der staatlichen Ausgaben vornehmen und zum Beispiel den Militäretat abschaffen und dieses Geld in massive staatliche Beschäftigungsprogramme im sozialen und Umweltbereich investieren.

Auch wenn es uns selbstverständlich nicht gleich ist, ob überhaupt ein Beschäftigungsprogramm umgesetzt wird, so wird dies bei den heutigen politischen Verhältnissen bestenfalls 100 000 bis 300 000 Arbeitsplätze schaffen. Für die insgesamt 7 Millionen Arbeitssuchenden (über 4 Millionen offiziell registrierte und ca. 3 Millionen in der sogenannten stillen Reserve) reicht dies vorn und hinten nicht. Und den Druck in den Betrieben wird dies auch nicht lindern.

  1. Die zweite - und heute entscheidende - Achse ist die Tarifpolitik. Und hier sprechen die Erfahrungen der letzten Jahre eine klare Sprache:

* Flexibilisierungen und dergleichen können immer nur den Konkurrenzvorteil der jeweiligen Betriebe stärken zu Lasten anderer. Unter dem Strich werden damit nicht mehr Arbeitsplätze gebraucht, sondern weniger und die Spirale nach unten vorangetrieben.

* Altersteilzeitregelungen und ähnliche Modelle werden immer nur sehr begrenzt zur Anwendung kommen, nicht zuletzt deswegen, weil die Kollegen hier bedeutsam an Geld verlieren.

Wirklich ins Gewicht fallen können eigentlich nur 2 Maßnahmen:

erstens kräftige Reallohnsteigerungen, so daß nennenswert zusätzliche Massenkaufkraft entsteht und somit die Nachfrage und die Produktion von Gütern und Dienstleistungen steigt. Aber selbst bei einer Reallohnsteigerung von 5% entstehen - bei gleichbleibender Produktivität - nur 350 000 bis 500 000 neue Arbeitsplätze;

zweitens die Arbeitszeitverkürzung. Seit über hundert Jahren ist dies das wichtigste Instrument der Gewerkschaften zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Es liegt auch in der Logik der Sache selbst:

Wenn die Produktivität ständig steigt und dabei die meisten Menschen zwischen 35 und 40 Stunden arbeiten und gleichzeitig Millionen andere dafür null Stunden arbeiten, was uns Steuerzahlen wiederum Milliarden kostet, dann ist es ein Gebot der Stunde, die Arbeit umzuverteilen.

 

  1. Die Arbeitszeitverkürzung als tarifpolitisches Ziel der Gewerkschaften ist allerdings zur Zeit in vielen Betrieben diskreditiert:

  1. Die Kollegen haben fast durchweg die Erfahrung gemacht, daß in den letzten Jahren die Arbeit enorm verdichtet wurde. ("Was bringt mir die Arbeitszeitverkürzung, wenn ich nachher in weniger Stunden dasselbe schaffen muß?")

  2. Neueinstellungen wurden bei der schrittweisen Einführung der 35-Stunden-Woche kaum vorgenommen und wie viele Arbeitsplätze erhalten wurden, ist für die einzelnen Kolleginnen und Kollegen schwer nachvollziehbar.

  3. Der Kaufkraftverlust der vergangenen Jahre hat bei den Kollegen vor allem den Wunsch gestärkt: "Erst mal mehr Geld", zumindest will man keine Reallohnverluste hinnehmen. (1)

  4. Politisch eventuell die schwierigste Hypothek ist die Erfahrung der Kolleginnen und Kollegen, daß in den vergangenen Jahren des öfteren bei dem Eintritt in eine Tarifrunde bestimmte Ziele angegeben wurden, und daß dann im Laufe der Verhandlungen wesentlich davon abgewichen wurde, bzw. Tauschgeschäfte gemacht wurden, von denen die Kolleginnen und Kollegen vorher nichts wußten. Sie wurden noch nicht einmal nachher dazu befragt (so bei der Absenkung des Weihnachtsgeldes, dem Rausschieben der Kündbarkeit der Arbeitszeitregelung im MTV usw.).

Hier ist die Skepsis heute sehr groß, ob denn ein Versprechen wie: "Die Arbeitszeitverkürzung, die wir durchführen, wird zu keinem Lohnverlust führen" auch wirklich gehalten wird.

  1. Daraus ergeben sich für uns klare Schlußfolgerungen:

  1. Die Organisation muß sich eine durchgreifende (radikale) Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich auf ihre Fahnen schreiben.

  2. Nur wenn die Arbeitszeitverkürzung in großen Schritten erfolgt, kann sie überhaupt einen nennenswerten Effekt auf dem Arbeitsmarkt - und somit auf die Lebensbedingungen von uns allen - haben. Drei Stunden weniger auf einen Schlag bedeutet einen zusätzlichen Bedarf an Arbeitskräften von mindestens 300 000 Arbeitsplätzen allein in der Metallindustrie (in der gesamten Wirtschaft wären es über 2 Millionen)

  3. Die Steigerung der Produktivität und der weitere Arbeitsplatzverlust in der Zukunft ist damit noch nicht abgedeckt, genauso wenig wie die 32-Stunden-Woche für die gesamte Wirtschaft noch nicht die Massenarbeitslosigkeit insgesamt abschaffen wird. Langfristiges Ziel muß deswegen sein:
    Verteilung der Arbeit auf alle Hände bei vollem Lohnausgleich, denn Geld ist genug da, wie die riesigen Unternehmergewinne zeigen.

  4. Wenn nur der geringste Zweifel bei den Kolleginnen und Kollegen entsteht, daß die Organisation bei einem solchen tarifpolitischen Ziel nicht den vollen Lohn- und Gehaltsausgleich durchsetzen will, wird bei den meisten Kolleginnen und Kollegen die Mobilisierungsbereitschaft gleich null sein.

  5. Es müssen Arbeitsbedingungen definiert beziehungsweise Reklamationsrechte durchgesetzt werden, um eine weitere Arbeitsverdichtung abwehren zu können. Nur so werden die Kolleginnen und Kollegen nicht noch schneller verschlissen und nur so können auch nennenswerte Neueinstellungen erzwungen werden. Eine wichtige Vorarbeit für die Durchsetzung von Leistungsbegrenzungen muß in den aktuellen/anstehenden Verhandlungen zu einem neuen Entgeltrahmentarifvertrag umgesetzt werden.

  6. Wir wollen eine möglichst gleiche Verteilung der verkürzten Arbeitszeit. In aller Regel ist dabei die verkürzte Wochenarbeitszeit die beste Form. Jahresarbeitszeitregelungen mit großen Schwankungen lehnen wir genauso ab, wie Langzeitkonten zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit. Hier sind Neueinstellungen nur schwer bis gar nicht überprüfbar und die Absicherung im Konkursfall (oder beim Wechsel des Betriebs) ist äußerst problematisch. Abgesehen davon wollen wir uns nicht totschuften und dann vom vorgezogenen Ruhestand nichts mehr haben.

  7. Die 13%-Regelung (in anderen Tarifgebieten 18%), nach der ein Teil der Belegschaft auf 40 Stunden gesetzt werden kann, führt zur Spaltung der Belegschaften und hat sich als hinderlich bei der Mobilisierung erwiesen. Diese Regelungen müssen wieder abgeschafft werden.

  8. Wenn wir tarifpolitische Errungenschaften verteidigen wollen, wird es auch darauf ankommen, möglichst gleiche Verträge in allen Tarifgebieten ohne betriebliche oder regionale Öffnungsklauseln durchzusetzen. Nur wenn wir gemeinsam an einem Strang ziehen, werden wir Durchsetzungskraft entwickeln.

  9. Den Flächentarifvertrag werden wir nur verteidigen können, indem wir notfalls dem Kampf nicht ausweichen. Eine Durchlöcherung des Flächentarifvertrages sichert gar nichts, sondern regt bei derGegenseite nur den Appetit an! (2)

  10. Um das Vertrauen in die Gewerkschaften als Kampforganisation und Interessenvertretung der Lohnabhängigen und Erwerbslosen zu erhalten und zu stärken, sollen jegliche Tauschgeschäfte abgelehnt werden, insbesondere solche, die in bestehende Tarifverträge eingreifen. (3)

  11. Um eine ausreichende Rückkopplung mit den Mitgliedern zu erreichen und das Vertrauen in die eigene Organisation zu stärken wird zu jedem Verhandlungsergebnis, das nennenswert von der vorher aufgestellten Forderung abweicht, eine Urabstimmung durchgeführt. Falls dabei die Kollegen nicht mehrheitlich zustimmen, soll weiter verhandelt, bzw. sollen weitere Kampfmaßnahmen eingeleitet werden.

  12. Begleitend zur Arbeitszeitverkürzung brauchen wir Reallohnsteigerungen, um die Verluste der letzten Jahre auszugleichen und um mit steigender Massenkaufkraft weitere Arbeitsplätze zu schaffen oder mindestens zu sichern. (4)

 

 

Einstimmig verabschiedet am 24. 9. 98.

Anmerkungen:

1. "Da im Zusammenhang mit der Sicherung der Entgeltfortzahlung vielfach die Berechnungsgrundlage schmaler definiert und die Jahressonderzahlung bzw. das Urlaubsgeld abgesenkt wurden, kann in einer Reihe von Tarifbereichen von einer Stagnation der Tarifverdienste ausgegangen werden. Gesamtwirtschaftlich hat die sehr moderate Einkommensentwicklung 1997 dazu geführt, daß die Steigerung der Löhne und Gehälter hinter der Preisentwicklung zurückgeblieben ist, von einer Ausschöpfung des durch die Produktivitätsentwicklung definierten Verteilungsspielraums ganz zu schweigen. Das Ergebnis war ein erneuter Rückgang der realen Lohnstückkosten." Reinhard Bispinck: "Von niedrigen Lohnabschlüssen zum 'Ende der Bescheidenheit'? eine tarifpolitische Bilanz des Jahres 1997" in WSI-Mitteilungen 2/98 S. 74"

2. "Ein für die künftige tarifpolitische Entwicklung bedeutsamer Trend setzte sich...im vergangenen Jahr fort: die zahlreichen Vereinbarungen zur weiteren Differenzierung und Dezentralisierung der tariflichen Regelun-gen und Standards." Reinhard Bispinck in WSI-Mitteilungen 2/98 S. 74

3. "Tatsächlich wurden in vielen Tarifbereichen unter dem Druck der Verhältnisse verschiedene Tarifthemen zugleich verhandelt, im übrigen auch in solchen Fällen, wo die tariflichen Regelungen gar nicht gekündigt oder verhandelbar waren." Reinhard Bispinck, in WSI-Mitteilungen 2/98 S. 74

4. "Die Tarifrunde 1998 steht unter besonderem Erwartungsdruck der Beschäftigten, die nach jahrelangen Re-allohneinbußen auf spürbare Zuwächse hoffen." Reinhard Bispinck in WSI-Mitteilungen 2/98 S. 74