LabourNet Germany Dies ist das LabourNet Archiv!!! Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Home Über uns Suchen Termine

 

Tradierte Konzepte überwinden

Open Theory für die gewerkschaftliche Zukunft- (Light) Version 1.2

 

1. Gewerkschaftliches Engagement muß künftig in der Lage sein, vor allem in drei einigermaßen - vielleicht zunehmend - unterschiedlichen Bereichen Aktivitäten und organisierende Tätigkeiten zu entfalten:

  1. den klassischen, zwar im Rückgang befindlichen, aber zumindest noch lange Zeit existenten Industriebereich, bzw Großbetriebsbereich im Dienstleistungssektor (Call Center gehören hierzu);
  2. die ganzen Bereiche der sogenannten "New Economy" an der Schnittstelle wissenschaftlicher Entwicklungen und ökonomischer Verwertung nach neuen (?) kapitalistischen Mustern - also alles was heute unter "Neue Medien", "Informationstechnologie" und "Software-Erzeugung" und morgen unter "Biotechnologie" gehandelt wird;
  3. den Bereich der Niedriglohndienstleistungen sowohl im privaten als auch öffentlichen Sektor, der ein Scharnier zur Erwerbslosenarbeit darstellt und personell nach wie vor sehr stark von MigrantInnen, legalen und illegalen, geprägt ist.

Dies bedeutet zunächst vor allem: Es ist nicht nur etwas Reform der Organisation nötig, sondern permanente Flexibilität. Die Prinzipien dabei sollten sein:

2. Gewerkschaften müssen als politisches Prinzip in der Zukunft - gerade bei Verhältnissen, die immer weiter segmentiert werden - Positionen entwickeln, die zur Einheitlichkeit der abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen, unabhängig von Geschlecht, Nation, gesellschaftlicher Stellung und Rasse beitragen.

Eine schlagwortartige Auflistung dürfte die Richtung zeigen:

  1. Bei Tarifen: Festgeldforderungen, spezielle Anhebungen für NiedriglöhnerInnen und gegen regionale (heute: "Ost-") Differenzierung.
  2. Bei Arbeitsbedingungen: Arbeitszeitverkürzung in verschiedensten Formen zur Gewinnung von Lebenszeit - dies muss eine Konstante sein; Pausenregelungen und ergonomische Lösungen - auch und gerade bei Bildschirmarbeitsplätzen - die der Gesundheit wirklich dienen;
  3. Flexibilisierung der Arbeitszeit: Ja, bei Gewähr der Mindestforderung, dass darüber mitbestimmt werden kann - dass die persönliche Zeitsouveränität wächst - Nein, wenn das tendenziell "work by call" bedeutet; diejenigen, die prinzipiell dagegen sind, sollen erst mal die Friedhöfe in ihrem Keller zur Besichtigung freigeben - die prinzipiell dafür sind, sollen sich den Titel "Co-Manager h.c" ans Büro heften;
  4. Einbindung der Verteidigung der Interessen der Erwerbslosen in diese Arbeit und Junktime, etwa mit dem Widerstand gegen die Streichung der originären Arbeitslosenhilfe, Organisation von gesellschaftlichen Boykottkampagnen (auch in Fragen der internationalen Solidarität)...

3. Die Gewerkschaften müssen dringendst ihren einhundertjährigen Rückstand gegenüber dem Kapital aufholen: Internationalisierung ist angesagt. Nicht in Büros oder Konferenzen, sondern in der Alltagsarbeit.

Natürlich: Sozialpartner haben es am schwersten mit der internationalen Zusammenarbeit. Wenn jede Seite vor allem vertrauensvoll mit ihrem Unternehmen zusammenarbeitet, schlägt deren Konkurrenz eben durch. Dann ist außer Papier und - bestenfalls - Weltbetriebsräten mit erheblichem Machtgefälle nichts drin. Aber die absolute Konzentration auf Betriebs - oft genug gar Betriebsrats-Arbeit, macht es auch anderen KollegInnen schwer, über Erklärungen und einzelne Solidaritätsaktionen hinauszugehen.

Wohlgemerkt: Es geht dabei nicht um sogenannte Entwicklungshilfe. GewerkschafterInnen anderer Länder können sehr wohl auch ohne BVG und Betriebsräte "glücklich sein" - und haben des öfteren, was etwa Organisation in informellen Bereichen angeht, wesentlich mehr Erfahrung. Es geht - als aktuelles Beispiel - neben der gemeinsamen Arbeit in Weltkonzernen, auch darum, gemeinsam die Rolle der Gewerkschaften in weltweiten Bewegungen, wie etwa gegen IWF und WTO, gegen Gennahrung usw zu verändern und dadurch erst zu entfalten. Bisher zeichnen sich die (sozialpartnerschaftlich dominierten) internationalen Aktivitäten der Gewerkschaften durch Stellungnahmen gegen solche Bewegungen aus - Sozialklauseln sollen das Bündnis der Belegschaften mit den Unternehmen festigen. Die Peinlichkeiten etwa bei den Auseinandersetzungen um das MAI-Abkommen haben natürlich dem Ansehen der Gewerkschaften geschadet, ihrer Identifikation mit den Herrschenden Vorschub geleistet - zumindest in den Augen der Menschen, die Widerstand leisten. Betriebsräte, die sich für Giftproduktion, Gentechnik, Panzerlieferungen etc pp aussprechen - natürlich im Interesse der Belegschaft (meist: zutreffend), niemals wegen des eigenen Stuhls (selten: zutreffend) - schaden nicht nur dem öffentlichen Ansehen der Gewerkschaften: sie schaden vor allem den berechtigten Interessen weitaus größerer Teile der Bevölkerung.

4. Die Gewerkschaften müssen sich hinorientieren zur Realisierung neuer politischer Arbeitsinhalte und -formen. Gesellschaftspolitische Kampagnen werden künftig vielleicht wichtiger sein als Tarifkampagnen.

Gesagt wurde in den letzten Jahren vieles, herausgekommen sind bisher "mehrerer Hochzeiten" in Form von Schlussverkauf-Anschlüssen oder Elefantenhochzeiten (ohne Hochzeitsnacht). An inhaltlicher Neuerung nichts bis sehr wenig, am ehesten noch aus der Richtung Bertelsmann/Böckler, das Alltagsgeschäft geht weiter wie bisher. Wenn zusätzliche Steuern oder Teuerung jede Lohnerhöhung auffressen, wird es endgültig deutlich, dass es eine übergewerkschaftliche gesellschaftspolitische Kampagne geben muss, die nicht nur auf dem Papier steht; aber auch wenn - beispielsweise - Mietwucher betrieben wird, muss dagegengehalten werden. Die Zeit der reinen Tarifmaschine ist vorbei, auch die viel-und langbeschworene "Politisierung des Tarifkampfes" kann darüber nicht hinwegtäuschen. Es kann keine Perspektive sein, um die Punkte hinter dem Prozentkomma - oder auch um eines davor - zu kämpfen. Der Rest ist, immer mehr: Laufrad.

5. Diese Optionen für gewerkschaftliche Zukunft bedingen auch eine ernsthafte Abkehr von einer Staatsfixiertheit und parteipolitische Neutralität der Gewerkschaften, die in keinem Sinne Transmissionsriemen irgendeiner Partei sein können und dürfen. Eigene Vorstellungen sind nicht dazu da, über Wahlbausteine Wahlkampf zu machen, sondern um sie organisiert zu verwirklichen.

Wenn unter dem Stichwort "politische Lobbyarbeit" - oder wie die Formulierung letztlich sein mag - gefragt wird, ob etwa im Mai 2000 ein Streik der ÖTV" in die politische Landschaft passe", so kann dazu nur gesagt werden: Diese Frage ist eine Unverschämtheit von Leuten, denen nur ihr Parteibuch wichtig ist. Die Gewerkschaften müssen Druck entfalten, um stark zu werden, sie können nur Druck entfalten, wenn sie stark sind - in dieser Dialektik bewegt sich diese zentrale Aktivität. Wer gestern auf hässlichen Plakaten das Maul für eine andere Politik aufgerissen hat, kann ernsthaft weder die neue noch die alte Mitte gemeint haben: deren Politik ist erklärtermaßen nicht "anders".

Wer eine Realpolitik machen will, die darauf zielt, die parteipolitischen Konjunkturen als zentrale Referenz entsprechender Aktivität zu zementieren, kastriert die Potenz der Gewerkschaften. Eigene Gesellschaftsleitbilder, eigene Vorschläge (eben nicht von den Hauptamtlichen beschlossen, danach die "ehrenamtlichen" einbezogen, sondern ernsthaft diskutierte) sind ebenso Trumpf, wie unabhängige Aktion.

6. Alle diese Punkte sind Voraussetzung dafür, dass Gewerkschaften in zentralen gesellschaftlichen Debatten die Chance haben, Gehör zu finden, überhaupt wieder ernst genommen zu werden und auch Meinungsführerschaft zu erringen, - heute geschieht das nur noch in Gremien.

Dies betrifft auch und gerade die Problematik der Arbeitslosigkeit: die bloßen generationenlangen Appelle nach "Arbeit für Alle" mobilisieren schon längst noch nicht einmal uns selbst, öden alle an und tragen wesentlich dazu bei, konsequenterweise auf störende Gewerkschaften lieber verzichten zu wollen. Ohne künftig sowohl Reduzierung und Bedingungen, als auch erst recht die Inhalte der Arbeit zu thematisieren, läuft dies gar Gefahr, zum Vehikel regierungspolitischen Arbeitszwangs a la England zu werden - und zumindest in NRW gibt es einiges davon. "Weniger, aber sinnvolle Arbeit für alle" - in dieser Richtung wäre eine Politik zu entwickeln, die wirklich in der Lage ist, Meinungen neu zu bilden und zu beeinflussen und auch das durchaus nicht zu Unrecht bestehende Bild der stinklangweiligen Gewerkschaften allmählich zu korrigieren. Wer die Zukunft der Gewerkschaften im wesentlichen im "weiter so" sieht, sieht in die Zukunft die Gewerkschaften: am Ende, ein Auslaufmodell.

7. Die drei heute in der Gewerkschaft wesentlichen politischen Strömungen haben in allen diesen Punkten keine Antwort, die in der Lage wäre ernsthaft zu mobilisieren. Wir denken, die Optionen müssen andere, vor allem aber offen für Veränderungen sein.

Es geht uns hier nicht ums "Recht haben", das kann mensch auch zu zweit: So wie der Sekretär am 1.Mai ab Bier sieben seiner Liedkentnisse der Jugendzeit sich erinnert und die Internationale singt (singt ?) , so hat der Aktivist und Gewerkschaftskritiker - vielleicht zwei Bier früher - alles im Griff. Es geht uns auch nicht darum, KollegInnen mit anderen Auffassungen abzusprechen, dass sie sich einsetzen für die Interessen der abhängig Beschäftigten usw. Es geht uns schon gar nicht generell um die künftige Existenz der Gewerkschaften. Wenn sie keine sinnvolle Rolle zu spielen in der Lage sind, sind sie eben genau dies: ausschließlich überflüssig. Deswegen haben wir auch keine festgeschriebene Plattform gemacht, sondern wollen einen offenen Prozess. Weil nur so eine wirkliche Debatte entstehen kann, anstelle der Konfrontation von Positionen. Eben darum betonen wir auch, dass mensch in allen drei Strömungen auch richtige und wichtige Elemente finden kann. Denn:

Dementsprechend lassen sich unsere Optionen für künftige Gewerkschaftsarbeit so zusammenfassen:

7.1 Anstelle einer Politik, die dazu beiträgt, den Standort Deutschland zu stärken, müssen die Gewerkschaften eine, bisher im Kapitalismus wie im Sozialismus vermiedene, Politik des Nutzens sinnvoller, - d.h. diskutierter - technologischer Neuerungen für die Erhöhung der Lebensqualität der Menschen entfalten: radikale Arbeitszeitverkürzung aller Art und Aufteilung der Arbeit, unter gesellschaftlicher Debatte von Notwendigkeit und Sinn, konkrete Leitbilder für eine positive Nutzung etwa des Internet: als Alternative zum Kommerz. Eine solche generelle Ausrichtung bildet auch eine wesentliche Grundlage dafür, dass Gewerkschaften, im Bündnis mit allen möglichen Kräften, international wirksam werden.

7.2 Anstelle einer Politik, die Gräben vertieft: nationalistische Greencard Stellungnahmen, Verteidigung "teutscher" Arbeitsplätze, Zustimmung zur weiteren Ausgrenzung von Erwerbslosen- sofern sie rot-grün organisiert ist, kontinuierliche Einkommensspreizung im Sinne der bürgerlichen und sozialistischen Leistungsideologie, Beteiligung an der Jagd auf illegale Migranten etc... muss eine Politik der Annäherung, der Versöhnung, der Gemeinschaft unter jenen Menschen betrieben werden, die keine anderen für sich arbeiten lassen: Weg mit Sondergesetzen a la Ausländergesetz, Einbeziehung von Erwerbslosen in die Tarifkämpfe, Stärkung aller Ansätze von Selbstorganisation.

7.3 Anstelle einer Politik, die sich auf Lobbyistentum und Kooperation mit verschiedensten politischen Parteien zentriert, muß eine Politik der Eigenständigkeit, der Bündnisfähigkeit, der gesamtgesellschaftlichen Wirksamkeit entwickelt werden, die auch ein neues Selbstverständnis weg von der Tarifmaschine impliziert. Erst dann wird das dem Ansehen und Einfluss der Gewerkschaften so schädliche Auseinanderfallen von realpolitischer Tagesarbeit und (manches Mal gar interessanten) Sonntagsreden überwunden werden können.

7.4 Anstelle einer Politik, die die Positionen der jeweils eigenen Strömung für die Lösung aller Gewerkschaftsprobleme durchpeitschen will (Sozialpartner qua Macht die Kooperation mit der neuen/alten Mitte, Dienstleister die Überlebenssicherung qua "Dealing instead bargaining" a la Böckler/Bertelsmann, Klassenkämpfer qua Politisierung und Radikalisierung des Bestehenden) muss eine Ausrichtung auf Flexibilität, auf Sicherung des Potenzials für verschiedene Zukunftsoptionen betrieben werden.

7.5 Dementsprechend muss Flexibilität auch die Leitlinie der organisatorischen Umwälzungen sein: Keine Festung Gewerkschaftshaus mehr, kein Organisationsmodell, das auf dem Sekretär in Lebensstellung aufbaut, Schluss mit der realen Diffamierung gewerkschaftlichen Engagements als "Ehrenamt" (in der Regel: für Senioren), gewerkschaftliche Präsenz in zentralen Bereichen (inkl. Schulen, Hochschulen etc) , Ausstrahlungskräftige Modellprojekte unter Einbeziehung der Mitgliedschaft und neuer Kooperationspartner: Leuchttürme.

So würden Gewerkschaften eine soziale Bewegung zur Emanzipation der Menschen, die nicht an der Arbeit anderer verdienen - das wäre unsere Option. Die muss nicht die alleinseligmachende sein, aber bleiben die Gewerkschaften, wie sie sind: Todesfall.


Ad 1: Wir haben diese Version "Light" verfasst, um die Debatte auf die Folgerungen zu konzentrieren. Wir hätten zur Begründung durchaus noch das eine oder andere - unserer Ansicht nach: gute - Argument, aber was vorliegt, ist die Quintessenz.
Ad 2: Versionsnummer 1.2 heißt, daß es immer noch der ursprüngliche Entwurf ist, der im wesentlichen redaktionell bearbeitet wurde, ohne inhaltlich verändert zu sein. Das bleibt einer künftigen Debatte überlassen, bzw jenen, die vielleicht daran weiter schreiben wollen . Open Theory eben.
Ad 3: Die ursprünglichen Autoren dieses Textes sind Ulrich Leicht und Helmut Weiss, vom Sprecherrat der IG Medien Dortmund.
Ad 4 : Fassung 1.1 wurde fertiggestellt am 17.08.2000, Fassung 1.2 wurde fertiggestellt am 25.10.2000

Home
LabourNet Germany: http://www.labournet.de/
LabourNet Germany: Treffpunkt für Ungehorsame, mit und ohne Job, basisnah, gesellschaftskritisch
The virtual meeting place of the left in the unions and in the workplace
Datei:
Datum: