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Robert Kurz

"Die deutsche Version der sozialen Paralyse: ein 'Bündnis für Arbeit'"

Das dritte Kapitel des Textes "Letzte Gefechte"

(...)

Im Unterschied zu Frankreich können in Deutschland die Gewerkschaften gar nicht mehr im Sinne einer sozialen Bewegung kritisiert werden, weil sie den Charakter einer solchen längst verloren haben. Der sozialpatriotische Sündenfall der alten westlichen Arbeiterbewegung im Ersten Weltkrieg war zwar bereits ein gemeinsamer gewesen. Und natürlich ist diese Bezeichnung heute nur noch ironisch zu nehmen, weil die Kapitulation vor dem Krieg nicht subjektivem "Verrat" entsprang, sondern erstmals den bürgerlich immanenten, warenförmigen Charakter des "Klassenkampfs" ans Tageslicht der Geschichte brachte. Aber innerhalb dieser reduzierten, bereits nicht mehr ernsthaft systemkritisch interpretierbaren Konstellation behielten die Gewerkschaften in den westeuropäischen Ländern auch später noch ein soziales Bewegungsmoment, das die altsozialistische, zunehmend verblassende Systemkritik immer wieder (und zum letzten Mal im Pariser Mai) wie eine lästige Erinnerung aufblitzen ließ. In Deutschland dagegen waren die Gewerkschaften mit der nicht nur kampflosen, sondern auch peinlich anbiedernden Kapitulation vor dem Nationalsozialismus selbst im reduzierten Sinne als soziale Bewegung bereits historisch erledigt.

Daran änderte sich auch nach 1945 nichts mehr grundsätzlich. Zwar versuchten einige Gewerkschafter, die aus dem KZ und aus dem Exil zurückkamen, an den alten Bewegungs-Charakter der Gewerkschaften, an die Tradition sozialer Kämpfe und an die Zielsetzung einer gesellschaftlichen Transformation anzuknüpfen. Aber die Mehrheit der kleinen Kader, die durch die NS-Arbeitsfront hindurchgegangen waren, wusste mit dieser Tradition bereits nichts mehr anzufangen. Die sozialen Konflikte der BRD kamen nie über ein harmloses Schattenboxen hinaus. Insofern war die BRD von Anfang an "moderner" als Westeuropa; eine fortgeschrittene Modernität warenförmiger und sozial-etatistischer Integration, die sie durchaus vom Nationalsozialismus geerbt hatte (und die damit ihren destruktiven, im Kern barbarischen Charakter verriet). Während in Frankreich, Italien, Spanien und auch England die alten sozialen Milieus der kapitalistischen Klassen noch länger fortbestanden und die Nachhutgefechte des alten Klassenkampfs sich hinzogen, erreichte der Grad abstrakter Individualisierung in der BRD bereits das Maß der USA (wenn auch mit anderer Akzentsetzung), und zwar gerade durch die Vorbereitung der kurzen, aber tief einschneidenden nationalsozialistischen Ära. Zwar zerfielen die Gewerkschaften in der BRD nicht augenblicklich zusammen mit dem sozialen Milieu der alten Arbeiterbewegung, aber sie blieben nur als formale Hülle stehen, die im Massenbewusstsein keinen höheren Rang mehr als den einer Autoversicherung oder einer Sterbekasse einnahm.

Dass dieser Zustand als gelungene "Sozialpartnerschaft" und sogar als "Modell Deutschland" verkauft werden konnte, hatte seinen Grund einzig und allein im Aufstieg der BRD (neben Japan) zum großen Weltmarktgewinner und Exportweltmeister. Nur durch die riesigen Gewinne auf den Weltmärkten seit dem "Wirtschaftswunder" war es möglich, dass die als soziale Bewegung bereits in die Leichenstarre übergegangenen westdeutschen Gewerkschaften fast reibungslos als Tarifmaschine und sozialpolitische Instanz erfolgreich funktionieren konnten. Selbst ein Blinder hätte sehen müssen, dass diese Erfolge nicht auf sozialer Kampfkraft, sondern lediglich auf den nationalen Privilegien einer Gewinnerökonomie beruhten, also nicht verallgemeinerbar und somit auch kein "Modell" sein konnten. Umso größer musste die Hilflosigkeit der deutschen Gewerkschaften werden, als seit den 80er Jahren die strukturelle Massenarbeitslosigkeit von Zyklus zu Zyklus immer größere Ausmaße annahm und die sozialen Gratifikationen Stein für Stein abgetragen wurden. Heute sind für die Ruinen des einst so stolzen deutschen Sozialstaats die Abrissbirnen aufgefahren, und die Gewerkschaft als gesellschaftliche Instanz zerfließt wie ein Schneemann an der Sonne.

In der strukturellen Dauerkrise des kapitalistischen Systems ist es nur folgerichtig, dass die in Westdeutschland längst vollzogene sozialökonomische Individualisierung auch an die institutionelle Oberfläche durchschlägt. Deswegen sind die deutschen Gewerkschaften nicht einmal mehr zu jenem schwachen Nachspiel des letzten Verlierergefechts fähig, das wir in Frankreich gesehen haben (und vielleicht in ganz Westeuropa in einigen Varianten noch öfter sehen werden). Obwohl die soziale Konstellation im eingemeindeten Ostdeutschland eine andere ist und dort unter der staatsbürokratischen Kruste auf paradoxe Weise das Milieu einer sozialen Kohärenz als eine Art Subkultur weiterexistierte, schlägt sich dieser Unterschied bis jetzt nicht sozial und institutionell nieder; stattdessen scheinen es die Ostdeutschen eilig zu haben, die westdeutsche abstrakte Individualisierung im Eiltempo nachzuholen und sich selbstkasteiend an den westdeutschen Kapitalismus anzupassen (dass der verlorenen sozialen Nestwärme einige sentimentale Tränen nachgeweint werden, hat den Prozeß der Anpassung in einem halben Jahrzehnt nicht im geringsten gestört).

Es wäre verfehlt, nach alten linksradikalen Mustern vor allem die Gewerkschaftsführung dafür verantwortlich zu machen, dass nicht einmal dem Schein nach eine Gegenwehr zu erkennen ist. Der Apparat würde zwar mit Sicherheit eine militante Bewegung der gewerkschaftlichen Basis nicht unterstützen, sondern sie abwürgen; in Deutschland noch eindeutiger und brutaler als einst im französischen Mai. Aber umgekehrt kann der Apparat natürlich erst recht nicht kämpferischer und aktivistischer sein als seine eigene Mitgliederbasis. Wer jahrzehntelang nichts als Schattenboxen gelernt hat, kann nicht plötzlich ernsthaft in den Ring steigen. Die Prügel kämen zuerst gar nicht vom institutionellen Gegner, sondern von der Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder selber, die sich in Deutschland nie auf einen verzweifelten Kraftakt wie im Pariser Dezember einlassen würden. Hierzulande heißt es in der Krise eindeutiger als sonst in der Welt (außer vielleicht in den USA): "Jeder für sich und Gott gegen alle".

Dennoch ist die institutionelle Restmasse der deutschen Gewerkschaften gezwungen, im Interesse der eigenen raison d'être so etwas wie eine "Krisenpolitik" zu versuchen. Naturgemäß sieht diese noch viel schäbiger als in Frankreich aus. Führende Gewerkschaftsvertreter wie der IG Metall-Vize Walter Riester haben schon längst einen ideologischen Stellungswechsel vollzogen, wie er in Frankreich bis jetzt noch undenkbar wäre: "Ich bin zunehmend gezwungen, unternehmerisch mitzudenken - auch und vor allem im Interesse der Beschäftigten, sagt der Tarifexperte ... über die in Zeiten des Stellenabbaus wachsende Herausforderung an seine Organisation, oft auch für die Belegschaften unangenehme Entscheidungen mitzutragen" (Nürnberger Nachrichten, 27.12.95). Die auf den ersten Blick ziemlich krause Logik, "im Interesse" der Beschäftigten für dieselben "unangenehme Entscheidungen mitzutragen", kann (abgesehen von dem penetrant-pateranalistischen Beigeschmack) nur den Zweck haben, die marktwirtschaftliche "Anpassungspolitik" innerhalb der Gewerkschaften zu radikalisieren. Auf die Krise soll nicht mit einer Reformulierung der Gesellschaftskritik, sondern im Gegenteil mit einer Verschärfung des Akzeptanz-Masochismus reagiert werden. Genau das ist es, was Riester u. Co. letzten Endes unter "Modernisierung" verstehen, ganz ähnlich wie die sogenannten SPD-Modernisierer um den niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder oder den nordrhein-westfälischen Wirtschaftsminister Clement.

Diese Linie ist sicherlich in den Gewerkschaften nicht unumstritten; aber sie konnte einen Durchbruch erzielen, als der IG Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel im Herbst 1995 auf dem Gewerkschaftstag der größten Einzelgewerkschaft der Welt die Delegierten mit einem undiskutierten und unabgesprochenen Konzept überrumpelte, das seither als "Bündnis für Arbeit" firmiert. Damit wurde nicht nur den "Modernisierern" und den institutionellen Eliten bis hin zur konservativ-neoliberalen Bundesregierung eine griffige Floskel oder Formel für die Ruhigstellungs-Propaganda geliefert, sondern auch eine dramatische Kehrtwende in der Gewerkschaftspolitik überhaupt vollzogen, die schon länger im Krisenkontext herangereift war.

Der entscheidende Punkt dabei ist, dass die Politik der Arbeitszeitverkürzung klammheimlich aufgegeben und begraben wird. So schnell wird man das nicht offiziell zugeben, aber faktisch ist es so. Daran ändert auch die jüngste Vereinbarung in der Stahlindustrie mit der Möglichkeit, die wöchentliche Arbeitszeit situationsbedingt auf 30 Stunden (ohne Lohnausgleich) herunterzufahren, nichts mehr; ebenso wenig die sogenannte Altersteilzeit, die nur das Auslaufen der "unbezahlbar" gewordenen Frühverrentungs-Modelle flankieren soll und nicht mehr Teil einer allgemeinen Strategie der Arbeitszeitverkürzung ist. Das Ende dieser Strategie war schon länger abzusehen. Als die IG Metall und die IG Druck und Papier (heute: IG Medien) Ende der 70er Jahre die Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich als Forderung gegen die beginnende Massenarbeitslosigkeit aufstellten, taten sie das noch als Tarifmaschinen, deren Sprit von den Weltmarktgewinnen der BRD geliefert wurde. Soweit der Einstieg in die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich in den 80er Jahren gelang, geschah dies keineswegs als bloße Umverteilung zwischen Kapital und Arbeit innerhalb der BRD, sondern teils auf Kosten der Weltmarktverlierer, teils mit Hilfe des defizitgenährten Exportbooms in die USA während der Hochzeit der "Reaganomics". Die Massenarbeitslosigkeit wurde dadurch nicht gestoppt, sie stieg vielmehr auch in dieser Zeit von Zyklus zu Zyklus an.

Als die Weltmarktposition der BRD zu bröckeln begann und der von der gewaltigen Sockelarbeitslosigkeit ausgehende soziale Druck den institutionellen Spielraum der Gewerkschaften immer mehr beschränkte, begann in den 90er Jahren eine allerdings ziemlich vage Diskussion über Arbeitszeitverkürzung auch ohne (bzw. ohne vollen) Lohnausgleich. Es gab sogar einige Modellversuche, z.B. bei Volkswagen (oder eben jetzt wieder marginal in der Stahlbranche). Aber diese Strategie hätte nur eine Perspektive, wenn sie mit dem Übergang zu autonomen Reproduktionsformen jenseits von Markt und Staat verbunden wäre, d.h. wenn die zusätzliche "disponible Zeit" nicht als leere "Freizeit", sondern als Zeit für selbstbestimmte Tätigkeiten außerhalb der Ware-Geld-Beziehung genutzt werden könnte. Für eine solche Doppelstrategie fehlt aber nicht nur ein Konzept, es mangelt auch an der Bereitschaft, darüber nachzudenken. Innerhalb einer flächendeckenden marktwirtschaftlichen Reproduktion aber macht das Modell Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich weder ökonomisch noch sozial einen Sinn.

Was die Krise angeht, so ist dieses Modell durch die Verminderung der Binnenkaufkraft von probzyklischer Wirkung. Während ein systemkritisches Programm der gesellschaftlichen Transformation dadurch dynamisiert werden könnte, muss das in der totalen Lohnarbeit verharrende Bewusstsein denselben probzyklischen Effekt rein negativ als Krisenverschärfung erleben. Für die Massen, die auf Geldeinkommen durch Lohnarbeit sowie auf den warenförmigen Konsum fixiert sind und am Tropf von Eigenheim- und Konsumkrediten hängen, ist dieses Modell nicht oder nur schwer akzeptierbar. Lediglich für Doppelverdiener könnte es eine gewisse Attraktivität gewinnen, in der Regel zu Lasten der Frauen, die durch Teilzeitarbeit in einem rein marktwirtschaftlich bestimmten Kontext wieder mehr auf "Kinder, Küche, Kirche" beschränkt werden. Die VW-Arbeiter wiederum nutzten ihre gewonnene disponible Zeit reichlich für handwerkliche Schwarzarbeit, was zu Klagen der Handwerkskammern im Raum Wolfsburg führte. Das Fehlen jeder Systemalternative und die totale Fixierung auf Markt und Lohnarbeit führen zwangsläufig dazu, dass für den Gedanken einer Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich kaum mehr als ein stilles Begräbnis übrigbleibt. Was dann noch so genannt wird, ist kein gesellschaftspolitisches Konzept mehr, sondern nur noch ganz gewöhnliche Kurzarbeit bei schlechten Auftragslagen.

Es ist bezeichnend, was das "Bündnis für Arbeit" an die Stelle der Arbeitszeitverkürzung als gesellschaftspolitische Perspektive gesetzt hat, nämlich außer dem Versprechen einer Zurückhaltung bei den kommenden Tarifrunden vor allem die Akzeptanz von "Einstiegslöhnen" unter Tarif für Langzeitarbeitslose und die Hinnahme von Kürzungen bei den Sozialleistungen. Das ist ein Dammbruch in mehrfacher Hinsicht. Für die Arbeitslosen ist es eine freche Zumutung: Teilzeitlohn bei Vollzeitarbeit. Statt zusätzlicher disponibler Zeit, die zumindest der Potenz nach für soziale, ökonomische und kulturelle Alternativen zur Lohnarbeit und für eine Kritik der Marktwirtschaft genutzt werden könnte, der "Einstieg" in die soziale Apartheid und in die marktwirtschaftliche Sklaverei bei Billiglohn, um für schwachsinnige oder gemeingefährliche Zwecke "voll" schuften zu "dürfen". Kein Wunder, dass die neoliberale Wirtschaftspresse diesen "Schritt nach vorn" zu würdigen wusste, als das "Bündnis für Arbeit" unter der Schirmherrschaft von Kanzler Kohl abgesegnet wurde: "Man kann von den Gewerkschaften nicht erwarten, beim Abbau von Sozialleistungen oder Überstundenzulagen und bei niedrigen Einstiegslöhnen an der Spitze der Bewegung zu stehen. Mit ihrem Ja zu dem Bündnis-Papier erklären sie sich bereit, solche Eingriffe ohne Streiks, Massenproteste oder das bisher übliche Gekeife hinzunehmen. Allein damit hat die Kanzlerrunde einen wichtigen Beitrag zum sozialen Frieden in diesem Land geleistet" (Handelsblatt, 25.1.96).

Die Kritik aus den eigenen Reihen und von Seiten kleinerer Gewerkschaften soll offenbar in bewährter administrativer Manier abgewürgt werden; in ihrer starren bürokratischen Struktur mit de facto von oben eingesetzten hauptamtlichen Spitzenfunktionären kennen die Gewerkschaften ohnehin keinen wirklich offenen Prozess der Meinungsbildung. Die IG Metall-Spitze um Zwickel und Riester erhält dabei kräftige Schützenhilfe seitens der schon traditionell "rechten" IG Chemie, die sich am frühesten zu einem weltmarkt-orientierten Sozialkartell von Kernbelegschaften gemausert hatte: "Der Vorsitzende der IG Chemie, Hubertus Schmoldt, hat davor gewarnt, den Vorschlag der IG Metall für ein Bündnis für Arbeit im eigenen Lager zu zerreden. In einem Gespräch mit dem Handelsblatt übte er scharfe Kritik an den skeptischen Äußerungen aus Gewerkschaftskreisen in den vergangenen Tagen... Dies sei nicht die Stunde der Bedenkenträger, die nicht bereit seien, traditionelle Gewerkschaftsstandpunkte wie den, dass Lohnsenkungen keine Arbeitsplätze bringen (!), zum Gegenstand von Gesprächen zu machen... Jeder, der im Vorfeld der Gespräche Hürden aufbaut, die später ohne Gesichtsverlust nicht mehr beseitigt werden können, riskiert französische Zustände in Deutschland (!)... Völlig unverständlich findet Schmoldt die Ablehnung von niedrigeren Einstelltarifen (!) durch die Gewerkschaft HBV. Auch wenn eine entsprechende Vereinbarung in der Chemie nicht zu massenhaften Neueinstellungen geführt habe (!), sei das Instrument doch genutzt worden. Ich bin froh über jeden Langzeitarbeitslosen, der so (!) in den Arbeitsmarkt integriert werden kann." (Handelsblatt, 22.12.95).

Was in Zwickels "Bündnis für Arbeit" wirklich steckt, wird hier deutlich ausgesprochen: nämlich nicht weniger als eine geradezu absurde gewerkschaftliche Wende zum marktradikalen Neoliberalismus. Wirtschaftspolitisch ist es die Wende vom Keynesianismus zum Monetarismus, von der Nachfragepolitik (Deficit spending, Stärkung der Massenkaufkraft) zur Angebotspolitik (Kostensenkung, Abbau der Binnenkaufkraft, Exportorientierung). Das ist das Endstadium beim radikalen Abbau jeder systemkritischen Position: War die alte Arbeiterbewegung noch mit staatssozialistischen Vorstellungen einerseits und utopischen Überschussmomenten andererseits angetreten, so wurde diese Position in den westlichen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg schon zum Keynesianismus abgebaut, der sozusagen eine "schwache", mit dem westlichen Kapitalismus kompatible Version des sozialen Staatsinterventionismus vertrat. Damit einher ging die "wissenschaftspolitische" Wende von der Marxschen Theorie zum platten Popper-Positivismus in Sozialdemokratie und Gewerkschaften (in der BRD eindeutiger und weitergehend als im übrigen Westeuropa). Jetzt ist die Zwickel-Seilschaft dabei, zusammen mit den SPD-"Modernisierern" auch noch den Keynesianismus über Bord zu werfen und damit den letzten Schritt hin zur Totalakzeptanz der puren Marktwirtschaft zu tun.

Was das bedeutet, lässt sich im Vergleich mit der Auseinandersetzung in Frankreich verdeutlichen. Die Zwickel-Initiative kommt der Position von Alain Touraine nahe, freilich mit dem Unterschied, dass es sich hier nicht um eine bloß publizistische Äußerung von Intellektuellen, sondern um eine institutionelle Wende handelt. Die Position von Bourdieu dagegen kann als eine noch-keynesianische verstanden werden. Das macht auch die Berufung auf die nationalökonomische Kohärenz aus. Denn schon Keynes war sehr deutlich bewusst, dass seine Theorie von staatlicher Regulation und Intervention nur auf dem Boden einer kohärenten nationalökonomischen Basis möglich sein konnte; er warnte daher sogar vor einer zu starken Ausdehnung des Weltmarkts. Keynesianismus, Nationalökonomie und Sozialnationalismus gehören logisch zusammen. Freilich ist auch der implizite sozialnationale Keynesianismus der Bourdieu-Richtung kein Reformkeynesianismus "für alle" mehr, sondern bloß noch ein defensiver Status-quo-Keynesianismus sozialnationaler Schadensbegrenzung, der keine Veränderungsperspektive mehr hat und die bereits Herausgefallenen nicht mehr integrieren kann.

Der gewerkschaftliche Übergang zur neoliberalen Angebotspolitik bedeutet aber weit mehr als die bloß ideologische Akzeptanz der Marktwirtschaft. Er beinhaltet vielmehr die Akzeptanz, dass alle soziale Reproduktion, die nicht "regulär" marktwirtschaftlich unter den neuen Bedingungen der Globalisierung rentabel "erwirtschaftet" werden kann, schlicht entfallen muss. Obwohl der Terminus "Bündnis für Arbeit" zumal in Deutschland stark nationalistische Untertöne hat (er erinnert fast zwangsläufig an die nationalsozialistische "Arbeitsfront" und "Volksgemeinschaft"), wie ja auch der französische Touraine-Appell nationalistisch unterlegt ist, so kündigt die darin enthaltene Preisgabe von Keynesianismus und Nachfragepolitik doch implizit die Geschäftsgrundlage des bisherigen Sozialnationalismus auf.

Der neue monetaristische, angebotspolitische Sozialnationalismus im Zeichen kapitalistischer Globalisierung ist eigentlich schon keiner mehr oder er ist eher ein Zweiklassen-Nationalismus. Nicht mehr nur die Verliererländer "draußen", sondern auch die sozialen Verlierermassen "drinnen" sollen auf das Niveau einer marktwirtschaftlichen Hungerlohn-Realität heruntergedrückt werden. Das Einschwenken auf die Kostensenkungs- und Export-Ideologie läuft darauf hinaus, einen rein marktwirtschaftlichen und global konkurrenzfähigen Erste-Klasse-Salonwagen für minoritäre Kernbelegschaften und daran angehängt die Viehwaggons mit Billiglohn-Zwangsarbeit für die Verlierer auf die Reise schicken zu wollen. Mit dazu passender neoliberaler Frechheit beeilen sich die Zwickelisten, diese Horror-Perspektive als "Standortsicherung" und "Integration der Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt" zu verkaufen, während der bloße Gedanke an soziale Kämpfe selbst im beschränkten keynesianischen Sinne als angebliches Schreckensbild "französischer Zustände" denunziert wird.

Was für den Sozialabfall des kapitalistisch nicht mehr brauchbaren Menschenmaterials dann noch übrigbleibt, gibt Klaus Lang, persönlicher Referent des IGM-Chefs Zwickel, mit dem diskreten Charme des ultramodernen Sozialtechnikers zum besten, wenn er sich in einer Zwischenbilanz über das "Bündnis für Arbeit" in sozialdiplomatischen Verrenkungen übt: "Und bei der Arbeitslosenhilfe? Hier ist die geplante Absenkung der Bemessungsgrundlage für die individuelle Arbeitslosenhilfe von fünf auf drei Prozent zurückgenommen worden. Der Regierungsentwurf, der eine Absenkung um fünf Prozent vorsah, war längst vor der Bündnisinitiative beschlossen worden. Wo wäre ohne diese Initiative für die Regierungskoalition der öffentliche Druck entstanden, ihre Absicht nicht voll durchzuziehen? (!) Sicher auch kein berauschender Erfolg, aber ein kleiner Schritt..." (in: Frankfurter Rundschau, 14.2.96). Ein derartiger Hohn auf gewerkschaftliche Konfliktfähigkeit, der auch noch den Grad der Leistungskürzung für die Ärmsten als Meßlatte des "Erfolgs" anlegt, ist sogar in der deutschen Sozialgeschichte selten. Die Arbeitslosen werden einsehen müssen, dass sie wahrscheinlich bei der Caritas noch besser aufgehoben sind als bei den Gewerkschaften.

Dass die "Integration in den Arbeitsmarkt" (egal um welchen Preis) zum höchsten aller Ziele verklärt wird, als könnten sich die Menschen nichts Besseres mehr wünschen, das ist natürlich schon eine Spekulation mit dem erbärmlich gewordenen Massenbewusstsein. Sicherlich ist es auch eine Reaktion auf das tatsächliche Obsoletwerden des Keynesianismus. Denn die Politik des Deficit spending ist ja tatsächlich gescheitert, und ihre Gratifikationen waren ja auch nie mehr als der sozialnationalistische Bonus weniger kapitalistischer Kernländer. Insofern ist auch eine Position wie die von Bourdieu unhaltbar, der sich "contre la déstruction d'une civilisation" wendet und damit nichts als die keynesianische Zivilisation des Nachkriegs-"Sozialkapitalismus" meint. Diese keynesianische Zivilisation des Wohlfahrtsstaates und des "öffentlichen Dienstes" geht in allen ihren Hochburgen zu Ende, in Frankreich und Deutschland ebenso wie in Schweden. Das heißt aber nur, daß die Möglichkeiten einer sozial akzeptablen Wirtschaftspolitik innerhalb des Marktsystems überhaupt ausgeschöpft sind.

Genau das aber wollen die Gewerkschaften mit ihrer angebots- und kostensenkungs-politischen Flucht nach vorn nicht wahrhaben.

Die Zwickel-Initiative überholt dabei sogar die programmatische Abrüstung der Gewerkschaften, die erst im Herbst 1996 auf dem DGB-Kongreß in Dresden mit einem bis zur Schamgrenze reduzierten Keynesianismus abgesegnet werden soll, der "auf die Formulierung in sich geschlossener Alternativkonzepte verzichtet" (so der 1994 gestorbene frühere DGB-Vorsitzende Meyer in seiner Absage an das DGB-Grundsatzprogramm von 1981). Im "Bündnis für Arbeit" ist aber nicht einmal mehr die Spur eines Schamkeynesianismus zu entdecken. Von jetzt an kann sich der DGB ein Programm und einen Kongreß überhaupt sparen (ein Beitrag zur Kostensenkung?).

Auf einem ganz anderen Blatt steht es freilich, ob die kapitalistischen Blütenträume der "Modernisierer" für eine Gewerkschaft drastisch reduzierter sozialer Repräsentanz auch aufgehen und ob der "Zwickel-Abschlag" (gewerkschaftlicher Volksmund) den Einstieg in ein minoritäres Globalisierungs-Kartell tatsächlich ermöglicht. In Wirklichkeit ist eine neoliberale Gewerkschaftspolitik ein Widerspruch in sich. Das Einschwenken auf die Linie von angebotspolitischer Kostensenkung bedeutet die endgültige Selbstaufgabe der Gewerkschaften, d.h. der mit der Preisgabe jeder Systemkritik bereits eingehandelte Legitimationsverlust wird nun auch praktisch und im großen Maßstab ratifiziert. Das suizidale Zwickel-Programm schützt auch die Kernbelegschaften nicht, sondern läuft auf eine allgemeine Senkung des Lohn- und Sozialniveaus hinaus. Denn es ist eine Illusion, dass die Preisgabe tariflicher Löhne und Arbeitsbedingungen auf ein soziales Segment eingegrenzt werden könnte. Die Akzeptanz von Einstiegslöhnen unter Tarif ist der Anfang vom Ende der Tariflöhne überhaupt.

Auch im betrieblichen Mikrobereich zeigt sich an konkreten Beispielen schon jetzt, dass das "Bündnis für Arbeit" von vornherein auf einem Sozialmasochismus der Kernbelegschaften selbst beruht: "Ein eigenes Bündnis für Arbeit praktiziert Mercedes-Benz jetzt gemeinsam mit dem Betriebsrat im neuen Motorenwerk von Bad Cannstatt. Die Fabrik der Zukunft für 800 Millionen Mark arbeitet mit modernster Technik rund um die Uhr, nach Bedarf auch samstags. Selbst die sogenannte Steinkühler-Pause von fünf Minuten je Arbeitsstunde wollen die 900 Beschäftigten opfern, wenn im September die Produktion anläuft. Außerdem unterwerfen sie sich einem neuen Lohnsystem und arbeiten in Gruppen nach genauen Vorgaben für Qualität und Produktivität" (Die Woche, 12.1.96). Die Hauptvokabeln für die neuen Kernbelegschaften werden nicht Komfort und Hochlohn sein, sondern "Opfer" und "Unterwerfung", "Hochleistung" bis an die physischen und psychischen Grenzen, individuelles und gruppenmässiges Aushandeln ohne Rücksicht auf Schwächere. Das "Privileg" individualisierter, "olympiareifer" Hochleistungs- und Hochgeschwindigkeits-Arbeiter wird darin bestehen, auf hohem Niveau erbarmungslos ausgequetscht zu werden, um mit 40 reif für die Psychiatrie oder für die Leichenhalle zu sein. Gewerkschaften sind dabei völlig überflüssig.

Abgesehen von den sozialen Standards und von der weiteren Existenzberechtigung der Gewerkschaften steht aber auch die Frage, ob Angebotspolitik und soziale Kostensenkung überhaupt als Systemrettungsprojekt durchgehen können (lasst euch kollektiv kreuzigen für die Erlösung der Marktwirtschaft). Ein Moment der Marxschen Krisentheorie, das auch von Rosa Luxemburg wieder aufgegriffen wurde, war ja bekanntlich die strukturelle Unterkonsumtion der Massen als Krisenfaktor des Kapitals selbst. Insbesondere seit der fordistischen Ära eines flächendeckenden Vollkapitalismus mit hochorganisierter Massenproduktion ist die Massenkaufkraft eine conditio sine qua non für eine gelingende Akkumulation des Kapitals. Wird die Massenkaufkraft durch Massenarbeitslosigkeit, Abbau der Sozialleistungen und Zurückfahren öffentlicher Dienste bzw. staatlicher Investitionen radikal abgeschmolzen, dann ist nicht nur die soziale Reproduktion, sondern auch die ökonomische Existenz- und Funktionsfähigkeit des Kapitalismus selber grundsätzlich in Frage gestellt. Durch die betriebswirtschaftliche Globalisierung wird dieses existentielle Problem nicht beseitigt, sondern nur selber globalisiert; auf dieser Ebene wird es mit verstärkter Wucht auf das Kapital zurückschlagen. Insofern ist der monetaristische Neoliberalismus schon mittelfristig ein Selbstmordprogramm der kapitalistischen Produktionsweise.

Genau dieses Problem bildete ja auch den Kern der Theorie von Keynes und den Hintergrund für die Nachfragepolitik des Deficit spending (ursprünglich unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise von 1929-33). Sicherlich war die keynesianische Theorie verkürzt, weil sie keine Krisentheorie der kapitalistischen Produktionsweise, sondern von vornherein bloß eine seichte Systemrettungs-Theorie war. Das gilt auch für den Linkskeynesianismus mit zuweilen verschämten Anleihen bei Marx, wie er etwa in der BRD durch die sogenannte Memorandum-Gruppe linker Professoren vertreten wurde und lange Zeit auch in die gewerkschaftliche Argumentation Eingang fand. Die mangelnde Massenkaufkraft wird hier in schönstem Positivismus als isoliertes Phänomen betrachtet, das "politischer Regulation" und staatlicher Intervention zugänglich sei. Letzten Endes wird an das Kapital appelliert, es möge doch Mitleid mit sich selbst haben und die Stärkung der Massenkaufkraft als Systemnotwendigkeit "politisch" anerkennen.

Bei Marx dagegen wird die mangelnde Massenkaufkraft nicht als isoliertes, tarif- oder staatspolitisch regulierbares Krisenphänomen, sondern als strukturelle, objektive innere Schranke des Kapitalverhältnisses analysiert. Es handelt sich auch nicht um eine bloß äußere Grenze der "Realisierung" des produzierten Mehrwerts auf dem Markt (wie es bei Rosa Luxemburg erscheint), sondern um eine mangelnde Produktion von ausreichendem Mehrwert selbst, die der Oberflächenerscheinung mangelnder Massenkaufkraft zugrunde liegt. Die Fetischform "Wert", die sowohl von der VWL als auch von der Arbeiterbewegung positiv genommen wird, hat nichts mit der produzierten stofflichen Gütermenge zu tun, sondern allein mit der darin inkorporierten Masse abstrakter Arbeitsquanta auf der Höhe des jeweiligen Rentabilitätsstandards. Das Kapital tendiert durch die konkurrenzvermittelte Steigerung der Produktivität dazu, immer mehr stoffliche Produkte mit immer weniger Arbeit zu erzeugen, während sein eigentlicher Zweck gerade die Anhäufung von in Geld inkarnierten Arbeitsquanta ist. Es kommt also dazu, dass bei "zu hoher" (vom Standpunkt der Verwertung aus) Produktivität das bereits akkumulierte Kapital nicht mehr ausreichend rentabel reinvestiert werden kann ("Überakkumulation"). Der Rückgang der Massenkaufkraft und der Staatseinnahmen zeigt insofern nur den Rückgang der realen Wertproduktion an und ist an sich keinerlei äußerer, "politischer" Regulation zugänglich, sondern markiert die Systemgrenze selbst. Überakkumulation und Unterkonsumtion sind die beiden Seiten derselben Medaille.

Die Theorie der Überakkumulationskrise wurde schon innerhalb des Arbeiterbewegungs-Marxismus (etwa von Paul Mattick) gegen die verkürzte, isolierte Unterkonsumtions-Argumentation der Linkskeynesianer zu Recht ins Feld geführt. Freilich ließ Mattick zeitbedingt die Frage einer absoluten historischen Akkumulationsgrenze noch offen, wie er auch (ebenso zeitbedingt) die Frage der Systemaufhebung noch in den alten soziologischen Terms des Klassenkampfs formulierte. Tatsächlich konnte in der Vergangenheit die in den Krisen aufscheinende Systemgrenze immer wieder hinausgeschoben werden, indem neue Felder der Verwertung abstrakter Arbeit auf immer höherem Niveau erschlossen wurden; zuletzt bekanntlich im Nachkriegsboom des Wirtschaftswunders. Die keynesianische Illusion konnte sich halten, nicht weil der Keynesianismus funktionierte, sondern weil die Kapitalakkumulation von sich aus genügend reale Wertproduktion abwarf, um das Deficit spending füttern zu können (vgl. dazu den Artikel "Die Himmelfahrt des Geldes" in Krisis 16/17). Seitdem durch das Ende des Fordismus und durch die mikroelektronische Revolution die Krise der realen Wertproduktion auf neuer Stufenleiter zurückgekehrt und die Überakkumulation des Kapitals nicht mehr eine bloß zyklische, sondern strukturell geworden ist, hat sich auch die Unhaltbarkeit eines Programms für die äußere, "politische" Stützung der gesellschaftlichen Kaufkraft erwiesen. Gerade darin liegt ja das Scheitern des Keynesianismus in den kapitalistischen Kernländern selbst.

Die angebotspolitische Kehrtwende kann aber die Krise nur beschleunigen und verschärfen. Wie es scheint, werden nun die nicht mehr hinauszuschiebenden historischen Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise erreicht. Die Zwickel-Gewerkschaften haben sich offenbar entschlossen, lieber zusammen mit dem Kapitalismus aus Angst vor dem Tod Selbstmord zu begehen als eine neue, andere Systemalternative zu entwickeln und soziale Gegenwehr zu leisten. Die Politik der "radikalen Anpassung" ist naiv, weil es sich nur um die Anpassung an den Untergang des Systems der Lohnarbeit selber handeln kann. Dieser Untergang wird auch dann ratifiziert, wenn ihn die gesellschaftlichen Institutionen nicht wahrhaben wollen. Dass es im Selbstlauf der Krise nur die Kräfte der Barbarei, des Terrors und des Wahnsinns sein können, die das Urteil des Systems über sich selber vollstrecken, versteht sich von selbst.

Kann es eine Praxis radikaler Sozial- und Gesellschaftskritik jenseits des alten Klassenkampfs geben?

Die Gefährlichkeit der Entwicklung wird vielleicht von Teilen der Gewerkschaften ebenso gesehen wie von den Resten der demoralisierten Linken. Aber diese Gefahr wird weiterhin nur in den Kategorien der alten, obsolet gewordenen Systemkritik abgebildet, deren "starke" Version der Staatssozialismus nachholender Modernisierung und deren "schwache" Version

der westliche Linkskeynesianismus mit einigen marxistischen Schwanzfedern war. Es gibt eine erschreckende Unfähigkeit der alten Systemkritik, sich selber zu transzendieren und den eigenen Anteil an der untergehenden bürgerlichen Welt der Moderne aufzuarbeiten. Die Erkenntnis, dass der "Bourgeois" in der gesellschaftlichen, totalisierten Warenform selber steckt und nicht auf eine soziale Klasse beschränkt werden kann, wird nach wie vor grundsätzlich verweigert. Sowohl in den Gewerkschaften als auch im Spektrum der politischen Restlinken wird die immer matter ausfallende Kritik am Neoliberalismus und an der zunehmend darauf einschwenkenden Anpassungspolitik von Gewerkschaften, Sozialdemokratie und Grünen mit hoffnungsloser Begriffsstutzigkeit von der alten "klassenkämpferischen" Position aus formuliert, deren historische Implikationen grundsätzlich ausgeblendet bleiben.

Die bei den Grünen bekannte Ausdifferenzierung in "Realos" (kapitalistische Modernisierer) und "Fundis" (altklassenkämpferische Steinzeitmarxisten) wiederholt sich in verschiedenen Konstellationen auch bei den Gewerkschaften und in den sozialdemokratischen und (ex)kommunistischen Parteien; nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, Italien und anderswo. In der IG Metall gibt es immer noch einen sogenannten traditionalistischen Flügel mit Reminiszenzen an die alte Arbeiterbewegung (und gegen allzu starke "Klassenversöhnung" gerichtet), der aber schon seit den Zeiten des wegen Korruption zum Rücktritt gezwungenen Vorsitzenden Steinkühler aufgerieben und zur Bedeutungslosigkeit verdammt worden ist. Ähnlich verhält es sich mit der sogenannten Stamokap-Fraktion in der SPD (vor allem bei den Jungsozialisten). In der PDS ist es die kleine "kommunistische Plattform", die den kapitalistischen Anpassungskurs der Parteispitze mit verschimmelten DDR-Phrasen zu konterkarieren sucht (dazwischen gibt es noch, wenn dieser Begriff aus der Geschichte der Arbeiterparteien erlaubt ist, eine Art "zentristische" Gruppe, die sich "Marxistisches Forum" nennt). In Frankreich, Italien, Portugal, Spanien etc. sind die altklassenkämpferischen, altmarxistischen Spaltprodukte - der westeuropäischen Entwicklung in der Nachkriegsgeschichte entsprechend - zwar größer als in Deutschland, aber ebenso in der Rolle eines traditionalistischen Nachtrabs. Auch die brasilianische Linkspartei PT hat in den letzten Jahren eine einschlägige Fraktionierung durchgemacht, und auch hier ist der Altmarxismus auf der Verliererstraße.

So durfte es nicht verwundern, dass der Pariser Dezember von der absaufenden

altklassenkämpferischen Linken nicht kritisch analysiert, sondern die Nachricht bloß als Strohhalm ergriffen wurde. Man hoffte auf Fortsetzung des Altvertrauten und Immergleichen durch die französischen Ereignisse. Dieser Johannistrieb des Klassenkampfs musste als Vorschein vermeintlicher neuer Potenz herhalten oder wenigstens als alterstrotzige Erinnerung an vergangene Tatenkraft imaginiert werden, damit man sich weiterhin um die Ratifizierung des Epochenbruchs und den unausweichlichen Paradigmenwechsel radikaler Gesellschaftskritik herumdrücken kann. Den Altmandarinen des klassenkämpferischen Linksradikalismus fiel daher zum Pariser Dezember nichts als blanke Selbstbestätigung ein: "In diesen Dezembertagen in Paris wird offenbar, dass es den Ideologen des Kapitals, die den Klassenkampf feierlich für erledigt erklärt haben, ergeht wie der katholischen Kirche mit ihrem Versuch, den Geschlechtstrieb abzuschaffen. Trotz religiöser Soziallehre, trotz einer einst im Mai in Paris aufgebrochenen Bürgerjugend, die so gerne egalitär-gerecht und trotzdem oben wäre, trotz allen Revisionisten: Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung bricht immer wieder auf" (Hermann L. Gremliza, Konkret 1/96).

Ist ja gut, ist ja rührend. Dennoch wird hier etwas verwechselt, was zu verwechseln in den Zeiten der Arbeiterbewegung unvermeidlich und sogar vorwärtstreibend war, jetzt aber sträflich geworden ist. Ich meine damit das Verhältnis des unbezweifelbar "immer wieder aufbrechenden" Klassenkampfs (dessen freilich ebenso unbezweifelbar stetig zunehmendes Schwächeln bei gleichzeitig zunehmenden sozialen Krisen erklärungsbedürftig ist) zur Frage der Systemalternative. Für den alten Marxismus, seine Mandarine und Mitläufer, war und ist der "Klassenkampf" der Zentralbegriff von Gesellschaftskritik und Systemtranszendenz. Deshalb sehen die Unverdrossenen in jeder Kritik des Klassenkampfs die Option der katholischen Soziallehre durchschimmern, die kleinbürgerliche Klassenversöhnung, die Abkehr von der radikalen Gesellschaftskritik usw. Daß und warum dieser ganze Begriffsapparat heute so verdammt altertümlich klingt, auf dieses Problem will man sich nicht einlassen, obwohl es ganz offensichtlich keineswegs bloß zeitgeistkonjunktureller Natur ist.

Es ist für den verstockten alten Linksradikalismus einfach nicht nachvollziehbar, dass der Klassenkampf seinem Begriff nach in der bürgerlichen Formhülle verbleiben muss, und dass es gerade deswegen eine emanzipatorische Kritik des Klassenkampf-Paradigmas geben kann, die keineswegs bürgerlich und "versöhnlerisch" ist. Dabei handelt es sich um ein Problem, das sich auf der heutigen Höhe der kapitalistischen Entwicklung im Unterschied zu früher nicht mehr ignorieren lässt und ebenso "immer wieder aufbricht" wie der Klassenkampf selbst, diesen aber gleichzeitig immer blasser macht. Kapitalismus ist bekanntlich vermittels der kybernetischen Rückkoppelung des "Werts" bzw. seiner Erscheinungsform, des Geldes, als "Verwertung des Werts" eine Gesellschaft der totalisierten Warenform. Der alte Marxismus und Linksradikalismus hat sich ganz auf den Gegensatz der Funktionssubjekte innerhalb dieser Fetischform konzentriert. Der "Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung" wurde also, wie oben bei Gremliza, auf der Folie des Gegensatzes von "Kapital und Arbeit" im Sinne sozialer Klassen abgebildet. Die "gesellschaftliche Produktion" erschien analog zur "Arbeiterklasse" und die "private Aneignung" analog zur Kapitalistenklasse".

Damit aber wird das gesellschaftliche Fetischverhältnis soziologistisch verkürzt (miss)verstanden. Denn auch die "Ware Arbeitskraft" ist eine Ware, in deren Begriff die "Privatheit" enthalten ist. Das bedeutet nichts anderes, als dass auch die "Arbeiterklasse" in der Form des Geldlohns "privat aneignet". Der bornierte alte Marxismus empört sich bei einer solchen Aussage sofort reflexartig, dass doch die einen nur die Reproduktionskosten ihres Lebens, die anderen dagegen die "Fülle des Reichtums" aneignen. Schon rein immanent ist diese Betrachtungsweise schief. Denn erstens eignet "das Kapital" (in der verkürzten Begrifflichkeit: die eine Seite der Funktionssubjekte) nicht subjektiv oder persönlich die Masse des abstrakten Reichtums an, sondern exekutiert und organisiert hauptsächlich dessen stetige Rückverwandlung in den absurden Selbstzweck der "Verwertung des Werts". Und zweitens trägt auch die stoffliche Seite des privaten Reichtums der "Besserverdienenden" ebenso wie der "Superreichen" das Signum des subjektlosen kapitalistischen Selbstzwecks, d.h. dieser Reichtum der Reichen nimmt (zunehmend mit fortschreitender Entwicklung des Kapitals) die Züge des Schwachsinns und der Selbstdestruktion an, so dass er schon längst nicht mehr als das verallgemeinerungswürdige Ziel in seinem Sosein emanzipatorisch akzeptiert werden könnte.

Vor allem aber beweist der alte Marxismus mit seiner Betrachtungsweise der "privaten Aneignung" unfreiwillig, dass er nur den quantitativen Unterschied innerhalb der Warenform kennt, hinsichtlich des eigentlichen Charakters der Privatheit aber völlig im Dunkeln tappt und schlicht formblind ist. Wenn es nicht mehr allein um den quantitativen Unterschied der Aneignungsmasse geht, sondern um die Formqualität der Aneignung, dann wird sofort klar, dass der kapitalistische Grundwiderspruch von gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung nicht identisch ist mit dem Klassengegensatz der Funktionssubjekte innerhalb der Warenform. Vielmehr ist es der Widerspruch von gesellschaftlichem Inhalt der stofflichen Produktion und privater Form der gesellschaftlichen Subjekte bzw. ihrer Aneignungsweise insgesamt (unter Einschluß der "Arbeiterklasse"), der das Kapitalverhältnis kennzeichnet. Somit kann der Klassenkampf nur die immanente Formbewegung des Kapitalverhältnisses sein, nicht aber die Bewegung zur Aufhebung des Kapitalverhältnisses.

Marx konnte diese beiden Ebenen sozialer Emanzipationsbewegung noch kurzschlüssig in eins setzen (obwohl dies von Anfang an begrifflich verschwommen blieb), weil die relative Emanzipation innerhalb von Warenform und Lohnarbeit noch einen geschichtlichen Horizont vor sich hatte. Jetzt ist das Kapitalverhältnis völlig ausentwickelt bis an seine äußerste Grenze und wir haben es deswegen mit der Krise des gemeinsamen Bezugssystems von "Kapital und Arbeit" zu tun. Erst wenn man das begriffen hat, wird verständlich, warum die neue sozialökonomische Krise zusammenfällt mit der Paralyse des alten Klassenkampfs. Es geht also nicht um die "kleinbürgerliche Klassenversöhnung" innerhalb und auf dem Boden der (gemeinsamen) totalen Warenform, sondern um die Kritik und Aufhebung dieser gemeinsamen historisch-gesellschaftlichen Fetischform selber. Denn jetzt wird unausweichlich deutlich, dass alle Erscheinungen der sozialen Degradation, der Armut und Unterdrückung primär dieser Form der totalen Ware-Geld-Beziehung als solcher und nicht der bloßen Subjektivität ihrer selber bornierten Funktionsträger entstammen.

Wenn wir im Lichte dieser Einsicht die Entwicklung der sozialen Bewegungen (einschließlich der Gewerkschaften) seit dem Pariser Mai 68 noch einmal Revue passieren lassen, dann erweisen sich die zunehmende Schwäche der letzten und hinterletzten Gefechte des Klassenkampfs und der Verfall des (alten) kritischen Bewusstseins als Indizien für die Annäherung an die historische Systemgrenze. Das ignorierte, missverstandene oder kulturalistisch verkürzte Programm der Situationisten gegen den Warenfetischismus, das selber noch in den Terms des Klassenkampfs formuliert wurde, aber inhaltlich bereits darüber hinausging, kann als eine historische Scharnierstelle verstanden werden. Es ist heute nicht mehr möglich, unmittelbar daran anzuknüpfen; aber es gilt, unter Einbeziehung einer Kritik und historischen Bewertung dieser damals radikalsten Theorie zu einer neuen, transformatorischen Formkritik der warenproduzierenden Moderne zu gelangen. Solange der Klassenkampfbegriff nur in irgendwelchen weich gewordenen Versionen weitergeschleppt wird, köchelt die etatistische Orientierung als Grundmissverständnis des gesamten alten "Sozialismus" in den lernunfähigen Verliererfraktionen der Gewerkschaften, der Sozialdemokratie, der Kommunisten und der Grünen weiter; und auch in den Köpfen der Gremliza, Trampert/Ebermann usw. dürfte man selbst bei Tiefenbohrungen nichts anderes finden. Bei den historischen Vorbildern, also den ehemaligen oder noch amtierenden Regimes nachholender bürgerlicher Modernisierung, wird diese Perspektive immer finsterer. Nach Jurij Masljukow, seines Zeichens Vorsitzender der russischen Duma für Wirtschaftsfragen und KP-Funktionär, kann "der Staat Wirtschaftsbetriebe durchaus effektiv führen": "Rußlands Kommunistische Partei fordert Änderungen in der Privatisierungspolitik, den stärkeren Schutz des Binnenmarktes und staatliche Kontrolle über die Ressourcen des Landes" (Handelsblatt, 15.3.96).

Die merkantilistischen Uraltrezepte der marktwirtschaftlichen Vorzeit werden immer wieder aufgewärmt, jetzt aber im Kontext einer offen kapitalistischen Orientierung und deren von jeder marktkritischen Phraseologie gereinigten nationalistischen Flankierung. In der VR China ist der Staatssozialismus nachholender Modernisierung bereits zu einem barbarischen Regime mutiert, das eine allgemeine blutige Zuchthausverwaltung mit einer radikal neoliberalen Entfesselung des Marktes verbindet und sich bösartigerweise immer noch "sozialistisch" nennt. Kuba, das Land der karibischen Lieblingsrevolution des alten Linksradikalismus, will nach den Worten seines Wirtschaftsministers José Rodríguez ebenfalls in diese Fußstapfen treten: "Es geht uns um Effizienz und um noch mehr Effizienz... Wir haben uns natürlich das Ende der sozialistischen Systeme in Osteuropa, aber auch die Krisen in Lateinamerika angesehen. Wir meinen, dass wir einen Mittelweg einschlagen müssen: mehr oder weniger wie China" (Wirtschaftswoche 11/96).

Einige Reste der westlichen Altlinksradikalen setzen ihren kubanischen Revolutionstourismus und ihre unreflektierte Kuba-Solidarität immer noch fort, als wäre nichts gewesen; sie können sich damit nur noch blamieren. Es ist sicher immer noch richtig, gegen die Embargo-Politik der USA einzutreten, aber das hat nichts mehr mit der Verteidigung einer historischen Alternative zu tun. Die Verweigerungshaltung der Altlinksradikalen gegenüber dem Ansinnen, den Charakter all dieser Regimes ebenso wie die eigene Orientierung daran theoretisch aufzuarbeiten und historisch neu zu bewerten, diskreditiert alles, was sie noch an verschwommener Kapitalismuskritik absondern. Nicht besser steht es mit den linksreformerischen Strömungen mehr oder weniger akademischer Provenienz (die in der BRD etwa durch Zeitschriften wie Prokla, Argument, links etc. repräsentiert werden). Diese versuchen sich zwar stärker von der alten "Klassenmetaphysik" und vom alten Linksetatismus zu entfernen, aber nur, um dieselbe Befangenheit in der modernen bürgerlichen Form und ihren Funktionskategorien mit einer lediglich etwas anderen Akzentsetzung zu reproduzieren.

An die Stelle einer formkritischen Transformation des Klassenbegriffs soll eine "Klassentheorie auf der Höhe der Zeit" (links Nr. 310/11, März/April 96) treten, die von jeder ökonomiekritischen Fundierung abgelöst und rein demokratisch-politizistisch legitimiert ist, um sich auf die "politisch-kulturelle Produktion von Sozialstruktur" (Heinz Steinert) weitab vom Schuss der radikalen Markt- und Wertformkritik zu kaprizieren. Je mehr diese Art der Restlinken scheinbar die Kritik der politischen Ökonomie einklagt, desto weniger löst sie selber diese Forderung ein und desto politizistischer und soziologistischer wird sie; und zwar deswegen, weil sie sich vor der radikalen Formkritik ebenso fürchtet wie der vorsintflutliche etatistische Linksradikalismus. Bezeichnend dafür ist das Untersuchungsprogramm "Klassen 96", das die ganze theoretische und praktische Misere auf den Punkt bringt: "Antagonistische Interessenlagen und Strukturzwänge kapitalistischer Reproduktion beherrschen das politische Alltagsgeschäft. Damit wird auch die Botschaft vom Ende der Klassengesellschaft als das erkennbar, was sie immer schon war: eine voreilige Verallgemeinerung, die an der Oberfläche des Geschehens bleibt... Dass Strukturprinzipien des Kapitalismus so deutlich zu Tage treten, ist keiner wie immer gearteten (!) Logik des Kapitals geschuldet. Vielmehr ist es vor allem auch (!) Resultat einer politischen Strategie, nämlich der neoliberalen Zerschlagung institutioneller Regulierungsformen, durch die der Klassenkompromiss bislang abgesichert wurde" (links, a.a.O.).

Pejorativ wird hier einerseits die Theorie und Kritik der basalen Logik des Kapitals ausgeblendet bzw. in die Nebensätze verbannt. Gleichzeitig soll andererseits die gegenwärtige Krise und soziale Degradation nicht einer historischen Entwicklung und dem Erreichen einer historischen Grenze dieser basalen Logik selber entspringen, sondern unhistorisch sollen es nur die "immer schon" außerhalb jeder strukturellen Entwicklung gesetzten "Strukturprinzipien des Kapitalismus" sein, die aufgrund einer rein "politischen Strategie" des Neoliberalismus nun wieder einmal deutlicher hervortreten. Kapitalistische Geschichte findet also nicht wesentlich strukturell und sozialökonomisch, sondern lediglich in politischen, soziokulturellen und ideologischen Wechsellagen vor dem Hintergrund von geschichtslosen "Strukturprinzipien" statt, die fast schon ontologisch gesehen und daher auch nicht einer konkreten Radikalkritik unterzogen werden. Glaubt der Oberlehrer- und Sozialarbeiter-Sozialismus allen Ernstes, es könnte unter den Bedingungen der mikroelektronischen Revolution und des Kapitals als Weltverhältnis nach derfordistischen Krise eine neue "institutionelle Regulierungsform des Klassenkompromisses" geben, die überhaupt nur nationalstaatlich und nationalökonomisch zu denken ist?

Zwar formuliert Joachim Hirsch, einer der Protagonisten dieses Milieus restlinker Theorie, durchaus eine Art kulturrevolutionäres und lebensweltlich bestimmtes Kritikprogramm, das mit Walter Benjamin darauf hinauslaufen soll, "dieser Maschinerie in die Räder zu greifen, sie anzuhalten, Schluss zu machen, aufzuhören mit dem alltagspraktischen Mitmachen - und sei es noch so kritisch reflektiert. Es gilt, sich von der alten sozialistischen Vorstellung eines besseren Industriekapitalismus zu verabschieden und zu realisieren, dass Befreiung weder eine bestimmte andere Gesellschaft noch die wie immer geartete Modernisierung der bestehenden Verhältnisse, sondern nur die Schaffung der Bedingungen heißen kann, die es möglich machen, das eigene gesellschaftliche Leben frei zu gestalten" (links, a.a.O.). Das klingt gut und vielversprechend, und es könnte der Ansatz für eine weitreichende solidarische Diskussion zur Erneuerung der radikalen Gesellschaftskritik sein. Leider bleibt diese Programmformulierung jedoch bei näherem Zusehen formationskritisch völlig leer bzw. die Formationskritik bezieht sich (der sogenannten Regulationstheorie folgend) lediglich auf die jeweilige Form der "politischen Regulation", die womöglich durch eine andere abgelöst werden soll, ohne dass auch nur ein Ankratzen der totalisierten Warenform als Thema erkennbar wäre.

Damit verfällt auch Hirsch der ausweglosen Alternative zwischen Skylla und Charybdis, zwischen Markt und Staat. Im modernen warenproduzierenden System kann die repressive Form des Staates immer nur durch die Freiheit des Marktes konterkariert werden, die aber nur die Freiheit des Geldes und niemals die "freie Gestaltung des eigenen gesellschaftlichen Lebens" ist. Der zynische Freiheitsbegriff des Liberalismus verweist also die Menschen darauf, sich als Konkurrenzmonaden selbständig zu machen, betriebswirtschaftlich bzw. individualberuflich zu reüssieren usw. und dabei immer unter dem Joch des Geldes durchzukriechen. Eine solidarische Gesellschaft frei vereinbarter Produktions- und Lebensverhältnisse ist als Gesellschaft von Warenproduzenten per definitionem unmöglich. Soziale Emanzipation kann nur noch Freiheit von der Marktwirtschaft sein. Indem Hirsch diesen formkritischen Kern sozialer Emanzipation heute nicht denken will, bleibt seine Kritik des "alltagspraktischen Mitmachens" hohl. Jeder, der "sein Geld verdient", muss immer schon alltagspraktisch mitmachen, und dieses Mitmachen endet genau dort, wo das Geldverdienen aufhört. Da er diese Grenze nicht markiert, landet Hirsch bei den alten Formeln der "Politik", unter Verdrängung der Tatsache, dass dies per se eine etatistische Orientierung ist. Denn jede Politik ist ihrem Begriff nach immer schon staatsbezogen.

Selbst wenn man zugesteht, dass es so etwas wie eine Transformationsperiode geben muss, in der sich ein neuer Ansatz von nicht-warenförmiger Selbstorganisation mit den weiterexistierenden Momenten warenförmiger Reproduktion, Konflikten um Geld und damit auch der sogenannten Politik (kritisch) vermitteln muss, so gilt es doch erst einmal, überhaupt einen solchen neuen Ansatz sozialer Emanzipation zu formulieren, auf die Beine zu stellen und explizit in seiner anti-ökonomischen und anti-politischen Eigenqualität deutlich zu machen, statt die Frage der radikalen Kritik und der Emanzipation im unverbindlichen metaphorischen Bereich zu belassen und ansonsten in den alten Real- und Begriffskategorien von Markt und Politik weiterzudenken und weiterzuagieren.

Auch wenn also jede wirkliche soziale Bewegung, auch die radikalste, und damit auch eine völlig neue Bewegung über die totalisierte Warenform hinaus in irgendeiner Form etwas Ähnliches wie eine "Dialektik von Reform und Revolution" entwickeln muss, freilich mit einer ganz anderen, jetzt erstmals das bürgerliche Universum der Moderne verlassenden Zielsetzung, so bedarf es doch zunächst des neuen radikalkritischen Ziels und eines entsprechenden konfliktträchtigen Impetus, bevor man das reformerische Moment daran benennen kann (wenn dieser Begriff überhaupt noch zutreffend ist). Das bedeutet als unabdingbaren kategorischen Imperativ hier und heute die (auch emotionale) Verweigerung des kapitalistischen Leistungs- und Erfolgswahns, die historische "Arbeitsverweigerung" (und darin eingeschlossen die Kritik eines Leistungs- und Arbeitsquanten-Sozialismus, dessen Idee heute hinter den Stand der Produktivkräfte zurückfällt). Es gilt überhaupt (vielleicht ebenso wie die Situationisten auch Herbert Marcuse kritisch historisierend), eine Kultur der Verweigerung zu entwickeln; und soweit z.B. Joachim Hirsch ähnliches formuliert, ist ihm zuzustimmen, freilich auch die von ihm (bisher) nicht gezogene ökonomie- und politikkritische Konsequenz zu ziehen.

Es kann nicht ausbleiben, dass das neue historische Ziel einer Aufhebung von "Arbeit", Warenform, Geld, Markt und Staat auf die dumpfe Ablehnung des gesamten herrschenden Bewusstseins stoßen muss; bei den protestantischen Arbeitsfetischisten jeglicher Couleur sowieso aus prinzipiellen Gründen, bei den Scheinpragmatikern aus Gründen der angeblichen Unrealisierbarkeit. Gerade weil aber der Kampf um einen "gerechten Lohn für ein gerechtes Tagewerk" keinerlei historische Entwicklungsperspektive mehr hat, steht jetzt endlich die historische Konkretisierung der Marxschen Gegenparole auf der Tagesordnung: "Nieder mit der Lohnarbeit!". Das System der "Arbeitsplätze", d.h. der Verwandlung von "Arbeit" in Geld ist grundsätzlich anzugreifen, statt zu der steinerweichenden Elendsdebatte um die "Schaffung von Arbeitsplätzen" ein jämmerliches Konzept-Scherflein beizutragen.

Diese Perspektive bedeutet keineswegs, das Terrain der "immer wieder aufbrechenden" immanenten (warenförmigen) Interessengegensätze kampflos preiszugeben. Aus diesem bürgerlichen, kapitalistisch formbestimmten Gegensatz kann aber eben kein transformatorisches Ziel, kein Programm einer anderen Produktions- und Lebensweise mehr entwickelt werden. Der Kampf um Geld, Lohn, Sozialstaat etc. ist also ein historisches Auslaufmodell, das aber als solches auch besetzt werden muss. Es steht nicht mehr für sich, sondern ist als flankierendes, taktisches Moment für ein ganz anderes Ziel und Programm zu verstehen, d.h. für eine nicht-warenförmige Reproduktion jenseits von Markt und Staat. Der hoffnungslose Abstieg der Gewerkschaften in den vergangenen Jahren zeigt uns, dass der bloß systemkonforme Konflikt nur noch in die Selbstaufgabe münden kann, weil es Ziel und Strategie nicht mehr gibt, eine "Taktik" für sich allein ohne strategisch-systemkritischen Bezug aber nicht möglich ist. Indem zusammen mit einer neuen Zielbestimmung radikaler Gesellschaftskritik auch wieder ein strategischer Bezug sozialer Bewegung möglich wird, kann überhaupt erst der (flankierende) warenförmig-immanente soziale Interessenkampf erneute Durchschlagskraft gewinnen.

Erst Menschen, die sich ein Ziel jenseits der Lohnarbeit gesetzt und darin lebensweltliche Möglichkeiten gefunden haben, können auch mit härteren Bandagen soziale Gratifikationen in der alten Form einfordern (etwa nach dem Motto: "Euer Weltmarkt ist uns scheißegal"). Der entscheidende Unterschied zum alten Klassenkampf wäre, dass die warenförmig immanente Auseinandersetzung nicht mehr formspezifisch mit dem Ziel sozialer Emanzipation zusammengeschlossen ist, sondern der Bruch mit der bürgerlichen Form der Moderne in den Zielsetzungen selbst erscheint.

Die sozialen Akteure in diesem Kontext können kein "Klassensubjekt" mehr sein, überhaupt kein apriorisch konstituiertes und damit warenförmiges Subjekt, sondern nur eine sich selbst konstituierende soziale Emanzipationsbewegung. Eine solche Bewegung wird nicht mehr die Form einer politischen Partei annehmen, sondern die eines Verbundsystems sozialer Initiativen auf verschiedenen Ebenen, deren gemeinsamer Nenner nicht nur die Gesellschaftskritik an Markt und Staat, sondern auch jeweils ein praktisches, lebensweltliches Moment der Entkoppelung von Markt, Geld und Staat ist: für das gegenwärtige Normalbewusstsein nur deswegen auf Anhieb so schwer vorstellbar, weil alle Kompetenzen der sozialen Kooperation und der Reproduktion des Lebens (mit Ausnahme der "abgespaltenen" weiblichen Tätigkeitsbereiche) auf Kapital und Staat übergegangen sind. Es sind weniger technische oder ökonomische Realisationsprobleme, die sich dem Gedanken einer Entkoppelung von Lebens- und Reproduktionsbereichen heute entgegenstellen, als vielmehr die verinnerlichte Warenform des Subjekts.

Gelingt es, die Perspektive einer Entkoppelungsbewegung von Markt und Staat in erreichbaren Teilbereichen sozialer Reproduktion gesellschaftlich zu entwickeln, dann gewinnt auch die Frage der Arbeitszeitverkürzung auf dem Boden der Warenform eine neue Plausibilität. Auch ohne Lohnausgleich enthält ja die Arbeitszeitverkürzung oder Teilzeitarbeit ein Moment der Gratifikation (im krassen Unterschied zum Billiglohn oder untertariflichen Lohn eines zweiten Arbeitsmarktes): nämlich einen Zugewinn an disponibler Zeit. Erscheint aber diese Gratifikation in einem flächendeckenden System der Abhängigkeit vom Geld als sinnlos, so kann sie bei einem gleichzeitigen Aufbau nicht-warenförmiger Elemente der sozialen Reproduktion durchaus attraktiv werden. Eine gewerkschaftliche Opposition hätte gerade in diesem Kontext (vermittelt mit einer neuen lebensweltlichen Orientierung) ihre Aufgabe statt in einer bloßen Anklammerung an die alte warenförmige Klassenkampf-Ideologie.

In der Geschichte seit 1968 (eigentlich schon seit dem Zweiten Weltkrieg) sind kritische Theorie der Gesellschaft, soziale Bewegungen und Gegenkultur immer weiter auseinandergefallen bis zur völligen Paralyse der Gesellschaftskritik, bei gleichzeitigzunehmender Reproduktionskrise der bürgerlichen Gesellschaft. Erst die Transformation und Reformulierung der Gesellschaftskritik jenseits des Warenfetischismus wird eine Reintegration und neue Durchschlagskraft möglich machen. Sicherlich kann diese Erneuerung der Kritik heute nicht unvermittelt an das gewerkschaftliche, warenförmig fixierte Massenbewusstsein herangetragen werden. Aber unter der Oberfläche der herrschenden Institutionen (Parteien, Gewerkschaften, Universitäten, Kirchen) könnte die Entfaltung eines Diskurses über das "Unmögliche" dennoch möglich sein. Zu viele müssen heute innerhalb der Apparate selber über die Klinge springen, als dass sich nicht Träger und Vermittler eines solchen Diskurses finden lassen sollten. Wir brauchen keine wehmütige Erinnerung an die absteigende Linie der letzten Gefechte des alten Klassenkampfs seit dem Pariser Mai mehr, wenn wir anfangen können, uns auf das erste Gefecht eines ganz anderen Mai vorzubereiten.

 

Bei diesem Text handelt es sich um das dritte Kapitel des Textes "Die letzten Gefechte. Ein Essay über den Pariser Mai, den Pariser Dezember und das Bündnis für Arbeit. Im Rückblick auf den Mai 68" von Robert Kurz, der vollständig unter http://www.giga.or.at/others/krisis/r-kurz_die-letzten-gefechte_krisis18_1996.html
zu finden ist

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